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Fremdgetaktet

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Fremdgetaktet
Der Eingriff ins Gehirn ist eines der letzten Tabus. Gewagt wird er dennoch – bei schweren Krankheiten. Und in Tierversuchen.

Seine Hand schlägt zu. Wieder und wieder schmettert seine Faust ins Gesicht. In sein eigenes Gesicht. Mit solcher Wucht, dass die Haut aufspringt und die Wange blutet. Bis er vor Schmerzen nicht mehr sprechen kann.

Das war Michael Pöllen vor drei Jahren. „Mir ging diese Sinnlosigkeit immer wieder durch den Kopf“, sagt der 37-Jährige heute. „Ich hatte Panik und fühlte mich ohnmächtig. Aber da war auch dieser Zwang: Ich musste mir die Fresse polieren.“

Pöllen leidet an Autoaggression. Seine Gedanken sind beherrscht von dem Zwang, sich selbst verwunden zu müssen. Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung entwickeln solche oder ähnliche Zwänge. Am weitesten verbreitet ist das Bedürfnis, sich ständig Hände und Körper zu waschen. Andere Menschen kontrollieren unablässig das Türschloss, den Herd und Elektrogeräte.

Als Kind ist Michael Pöllen hyperaktiv. Das kommt bei vielen Kindern vor. Die schwere Störung bricht erst aus, als Pöllen sich wegen eines Krebsleidens einer Chemotherapie unterzieht. Mit einem Mal ist er nicht mehr Herr über Arme und Beine. Ruckartig zucken seine Glieder. Die Wörter kommen als hektisch gestotterte Laute über seine Lippen. Symptome, die Ärzte später als Tourette-Syndrom diagnostizieren. Hinzu kommt der lebensbedrohliche Drang, sich selbst zu verletzen. Der körperliche Schock in Folge der Krebsmedikamente hat vermutlich die schwere Krankheit ausgelöst.

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Mit der Diagnose beginnen für Pöllen grauenvolle Jahre. Er schleppt sich von Arzt zu Arzt, schluckt Dutzende Medikamente, probiert Neuroleptika. Er versucht es mit alternativen Therapien. Mit Haschisch. Er geht zum Heilpraktiker und zur Kinesiologin. Nichts hilft.

„Ich habe Tausende Euro bezahlt und manchmal nur ein müdes Lächeln geerntet“, erzählt er. Die Tortur zermürbt ihn und raubt ihm den Lebenswillen. Er will sich umbringen, zweimal. Erfolglos.

Dann, im Sommer 2004, erzählen ihm Freunde von einer neuen Therapie: einer Operation, die seine Krankheit lindern könnte. Für Pöllen ist sofort klar: „Entweder die Operation klappt. Oder der dritte Selbstmordversuch.“

So lernt er Volker Sturm kennen. Der Neurochirurg an der Klinik für Stereotaxie und Funktionelle Neurochirurgie der Universitätsklinik Köln behandelt zu diesem Zeitpunkt in erster Linie Parkinson-Patienten. Er pflanzt ihnen einen Schrittmacher ins Gehirn. Eine Elektrode feuert dort 130 Strompulse je Sekunde ab. Die Reize lindern die Beschwerden der Patienten. Das Zittern der Hände lässt nach.

Bei den Parkinson-Patienten ist ein erbsengroßes Gebiet im Hirn überaktiv: der Nucleus subthalamicus. Dieser Störsender zwingt Nachbarbereiche in einen monotonen Gleichtakt. Vor allem die Steuerung des Bewegungsapparates ist betroffen: Die Nervenzellen geben ihre Pulse synchron ab, statt geordnet nacheinander anzusprechen. „Dieser Störsender muss mit der Elektrode bloß herunterreguliert werden“, erklärt Sturm. „Dann sind Patienten, die jahrelang nicht mehr richtig laufen konnten, in der Lage, sich wieder frei zu bewegen.“

Mit der Hirnstimulation kann aber auch schwer psychisch Kranken geholfen werden, ist Sturm überzeugt. Denn er sieht in ihrem Gehirn und dem von Parkinson-Patienten ähnliche Muster. „ Wir haben ein überaktives Areal, das die Kommunikation der umliegenden Neuronen beeinträchtigt“, erklärt er. Seine Schlussfolgerung: Depressionen, Zwangserkrankungen oder Schizophrenie lassen sich mit Strompulsen genauso korrigieren wie Parkinson. Dass diese Hypothese nicht die gängige Lehrmeinung widerspiegelt, hält den Kölner Mediziner nicht auf. Um zu beweisen, dass er richtig liegt, setzt er zunächst 16 Patienten mit schweren Zwangserkrankungen den Schrittmacher ein. Michael Pöllen ist einer von ihnen. Am 17. März 2005 wird er operiert, der Eingriff dauert sechs Stunden.

Sein Gehirn wird zuerst im Magnetresonanz- und dann im Computertomographen kartiert. Sturm entscheidet anhand der Überlagerung beider Aufnahmen, wie er die Elektrode legt, ohne wichtige Teile des Gehirns zu verletzen. Die Elektrode, ein dünner, biegsamer Stab aus Platin-Iridium, wird durch ein winziges Loch in der Schädeldecke geschoben. Der Stab muss acht Zentimeter tief eintauchen, um genau den Nucleus accumbens zu treffen. Dieses Areal ist bei Zwangserkrankungen der Störsender, glaubt der Kölner Spezialist. Niederländische, belgische und amerikanische Ärzte favorisieren jedoch andere Regionen. „Wir müssen bei den psychiatrischen Erkrankungen erst noch herausfinden, welches das wichtigste Stellglied ist“, räumt Sturm ein. „Bei Parkinson ist es eindeutig der Nucleus subthalamicus.“

Trotz unterschiedlicher Zielareale haben alle Wissenschaftlerteams bei der Behandlung psychischer Erkrankungen Erfolge vorzuweisen. Sturm hat gerade eine klinische Studie abgeschlossen. „Zwei Patienten sind komplett geheilt. Bei einem haben sich die Symptome gebessert. Zwei haben noch nicht angesprochen“, nennt er die vorläufigen Ergebnisse. Doch warum die Stromstöße wirken, ist bis heute nicht vollständig verstanden. Die Ärzte erklären es sich so: Der krankmachende Gleichtakt wird durch den 130-Hertz-Rhythmus des Schrittmachers ersetzt, der keinen Schaden verursacht.

Entscheidend ist für Sturm, dass er den Patienten helfen kann, nicht warum. Wenn er ihr Schicksal beschreibt, ist er nicht mehr der mit ruhiger, gedämpfter Stimme sprechende Arzt. Erschüttert erzählt er von Menschen, die sich so häufig und lange duschen, dass ihre Haut völlig zerschunden ist. Von einem Mann, der schier den Verstand verlor, wenn Bilder nicht gerade hingen oder Fremde ihre Mütze schief auf dem Kopf trugen. Von Michael Pöllen, der sich nicht nur das eigene Gesicht verbläute, sondern beim Rasenmähen auch zwanghaft mit der Hand in die rotierende Klinge greifen und den Fuß hineinhalten musste. Eine Fingerkuppe hat der Gärtner auf diese Weise verloren. Um Schlimmeres zu verhindern, trug er Schuhe mit Metallkappen.

„Das Schreckliche ist, dass sie alle wissen, dass das, was sie tun, vollkommener Blödsinn ist. Sie können aber trotzdem nicht anders. Das ist grauenvoll“, erregt sich Sturm. „Wenn ich diesen Menschen mehr Lebensqualität geben kann, ist das schon klasse.“ Außer ihm nutzen noch acht weitere Forschergruppen die Implantate, um psychisch Kranken Linderung zu verschaffen. Für Aufsehen sorgte kürzlich das Team um Helen Mayberg von der Emory University in Atlanta. Die Ärzte konnten mit Strompulsen im Areal des Gyrus cinguli bei vier von sechs schwer Depressiven das Leiden deutlich lindern.

Trotz des Erfolgs rufen solche Meldungen nicht nur Jubel hervor. „Dass sich eine Depression durch Implantate im Gehirn positiv beeinflussen lässt, zeigt auch, wie geistige Eigenschaften zunehmend technisch verfügbar werden“, sagt Thomas Metzinger, Philosoph und Neuroethiker an der Universität Mainz. Beispiele gibt es zuhauf: Sogar ohne Operation, bloß mit Elektroden auf der Schläfe oder der Kopfhaut, kann die Aufmerksamkeit von Menschen erhöht und das Langzeitgedächtnis verbessert werden. Und im Tiefschlaf lässt sich das Lernvermögen mit sanften Strompulsen steigern. Auf diese Weise stimulierte Probanden sind in Intelligenztests schneller und können sich präziser an eine Liste mit Wörtern vom Vortag erinnern.

Eric Wassermann vom US-Institute of Neurological Disorders and Stroke in Bethesda rechnet sogar mit militärischen Anwendungen: „ Die Aufmerksamkeit von Kampfpiloten würde steigen, wenn sie einen Helm mit Elektroden aufsetzten, der Stromstöße abgibt“, sagte er gegenüber dem Fachmagazin „New Scientist“. Er vermutet, dass Piloten mit dem Helm mühelos auf einem kleinen Flugzeugträger landen und sehr präzise Bomben abwerfen könnten. Zurzeit untersuchen amerikanische Forscher um Yaakov Stern von der Columbia University in New York im Auftrag des Verteidigungsministeriums, ob Menschen mit Schlafentzug durch Strompulse wieder wachgerüttelt werden können. Sie wollen einen Helm kreieren, der Soldaten die Müdigkeit austreibt, damit sie länger im Cockpit eines Kampfjets durchhalten.

„Militärische Anwendungen sollten generell unterbunden werden“ , fordert dagegen Metzinger. Er fürchtet, dass man Menschen mit Implantaten gezielt foltern und ihnen den freien Wille nehmen könnte. Als Hirngespinste lassen sich seine Bedenken nicht zerstreuen. Mit ein paar Elektroden im Kopf wurden bereits verschiedene Tiere unter das Kommando von Menschen gestellt. So meldeten chinesische Wissenschaftler Anfang des Jahres, dass sie Tauben mit einem Implantat im Kopf auf Knopfdruck nach links oder rechts fliegen lassen können. Schon 2002 berichtete das Fachblatt „nature“ über amerikanische Kollegen, die fünf Ratten mit Chips im Kopf den Weg gewiesen hatten. Die Gelder für dieses Projekt kamen ebenfalls vom Verteidigungsministerium.

Doch die Amerikaner sind nicht die Ersten, die Tiere unter ihre Befehlsgewalt gebracht haben. Schon 2001 brüstete sich der japanische Forscher Isao Shimoyama von der Universität Tokio mit ferngesteuerten Kakerlaken. Auch das Wohlbefinden kann mit Neuroimplantaten manipuliert werden: 1972 löste Ronald Racine von der McMaster University in Hamilton, Ontario, in Ratten gezielt eine Epilepsie aus.

Allerdings: Als man das Gehirn von psychisch Kranken stimulierte, wurde deren Verhalten manchmal unbeabsichtigt verändert. Die Menschen wurden manisch-depressiv – manche begingen sogar Selbstmord. Laut einer Schweizer Studie brachten sich 6 von 140 Patienten nach einer Hirnstimulation um. „ Paradoxerweise besserten sich bei allen die Symptome der Bewegungsstörung, aufgrund der sie behandelt worden waren“, schreiben die Forscher. Ihre Publikation im Journal „Neurology“ trägt den bezeichnenden Titel „Selbstmord nach erfolgreicher Tiefenhirnstimulation bei Bewegungsstörungen“. Auch einige Parkinson-Patienten nahmen sich nach dem Eingriff das Leben, wie andere Studien zeigten. „Eine zuverlässige Risikoabschätzung ist derzeit nicht möglich“, schreibt Sturm in einem Übersichtsartikel, in dem er auf die Berichte über die Selbstmorde eingeht. Er vermutet jedoch, dass es darauf ankommt, welches Areal im Hirn gereizt wird und wie dies geschieht.

Keine Frage: Volker Sturm will zum Wohl seiner Patienten handeln. Es wäre aber auch möglich, warnt Neuroethiker Thomas Metzinger, dass die Neuroimplantate missbraucht werden. „Wenn der Mensch seiner Handlungsfreiheit beraubt wird, indem man in seine geistige Intimsphäre eindringt und ihm seelischen Schaden zufügt, dann ist das eindeutig ethisch verwerflich.“

In Gedanken entwirft er weitere Szenarien. Besonders brisant sind hypothetische Grenzfälle: Etwa ein Schachspieler, der sein Gehirn mit Elektroden stimuliert, um im Spiel wachsamer zu sein. Oder ein älterer Mensch, der mit Implantaten eine nachlassende Leistungsfähigkeit ausbremst. Beide, Schachspieler und älterer Mensch, sind nicht krank und nutzen die Neurochips alleine dazu, um sich einen Vorteil zu verschaffen. „Die Gesellschaft muss sich damit auseinandersetzen, welches Gehirn und welche Bewusstseinszustände ein Mensch haben darf – oder soll“, fordert Metzinger.

Wen stört es, wenn der Schachspieler mit seinem neurotechnisch verbesserten Supergedächtnis den Computer schachmatt setzt? Oder wenn die betagte Dame im Kopfrechnen mit Leichtigkeit ihre Enkelin schlägt? „Prinzipiell könnte man sagen: Solange es keinem Mitmenschen schadet, sollte jeder frei in seinem Lebensentwurf sein“, denkt Metzinger laut. Doch diese Antwort könnte zu kurz gedacht sein und gesellschaftliche Langzeitfolgen ausklammern. So wie es längst Usus ist, sich schiefe Zähne richten zu lassen, könnte der gesellschaftliche Druck auf ältere Menschen wachsen, das Gehirn im Alter nachzurüsten.

„Die Fachleute reagieren sehr gespalten auf diese Entwicklung“ , weiß Metzinger. „Die einen lehnen es ab, weil dadurch der Mensch ohne Implantat vielleicht einmal weniger wert sein könnte. Die anderen sehen es als Chance.“ Psychisch Kranke, die dank Implantat nahezu das Leben eines Gesunden führen können, haben zum Beispiel die gleichen Aussichten auf einen Job. „Manch ein Philosoph würde sicher schimpfen und sagen: Der Mensch mit Implantat hat eine veränderte Persönlichkeit. Er ist nicht mehr er selbst. Der Patient aber sagt in vielen Fällen: Ich bin mehr ich selbst“, räumt Metzinger ein. Das Implantat verschafft gerade Patienten mit psychischen Erkrankungen mehr Autonomie.

Dieser Gewinn an Willensfreiheit rechtfertigt in Sturms Augen den Eingriff ins Gehirn. Michael Pöllens Zwang ist dank der Elektrode vollständig verschwunden. Schon am Tag nach der Operation spürte er die Veränderung: „Diese ständigen Gedanken, mich verletzen zu müssen, waren am nächsten Morgen einfach nicht mehr da“, erinnert er sich. Vollkommen gesund ist er dennoch nicht. Das Zucken der Glieder und die stockenden Laute, Symptome des Tourette-Syndroms, sind zwar schwächer geworden, aber nicht verschwunden.

Je nach Patient schlägt die Elektrode sehr unterschiedlich an. Stefan Subirge aus Regensburg litt zwölf Jahre an einem schweren Waschzwang. An manchen Tagen musste er seine Hände hundertmal schrubben und sich stundenlang duschen, bis seine Haut rissig und blutig war. Seit April 2005 trägt auch er einen Hirnschrittmacher. „Es tut sich ganz langsam etwas“, sagt er. „ Ich war früher eine Geisel meiner Gedanken. Jetzt habe ich immer mehr geistige Freiräume. Mein Selbstbewusststein ist gestiegen.“ Seit Weihnachten 2006 arbeitet der 27-Jährige zum ersten Mal, betreut Obdachlose und sozial Bedürftige. Seine hohe Sensibilität, die einst Nährboden für seine Krankheit war, hat sich dabei auch als Stärke erwiesen, sagt er.

Bislang darf Sturm nur solche Patienten operieren, bei denen alle zugelassenen Therapien versagt haben. Eine Ethikkommission wacht über seine Eingriffe. Denn die Tiefenhirnstimulation gilt als experimentelles Verfahren, das seine Überlegenheit erst beweisen muss. Für Parkinson wurde dieser Nachweis vor wenigen Monaten erbracht: In einer Studie mit 156 Betroffenen demonstrierte der Kölner Mediziner gemeinsam mit deutschen Kollegen, dass die Stimulation besser ist als Medikamente. Die Symptome der Patienten nahmen um etwa 30 Prozent ab, wie die Forscher im New England Journal of Medicine schrieben. Die Zahl der Nebenwirkungen war insgesamt geringer als bei den Probanden, die nur Arzneien einnahmen.

Für die Ärzte ist das Ansporn, die Tiefenhirnstimulation auszuweiten. Peter Tass, Arzt, Physiker und Mathematiker vom Forschungszentrum Jülich, will dazu den Takt des Hirnschrittmachers grundlegend neu gestalten. Denn der bisherige 130-Hertz-Rhythmus lässt zwar häufig das Zittern abklingen, im Gegenzug können aber einige Parkinson-Patienten nicht mehr richtig sprechen – ein unerfreulicher Tausch. „Einige Pfarrer und Lehrer schalten deshalb den Hirnschrittmacher zeitweise aus, wenn sie reden müssen“, berichtet Tass. Die unangenehmen Nebenwirkungen entstehen, wenn Nachbarareale des Nucleus subthalamicus durch die Elektrode gereizt werden.

Für die Patienten ist das ein schweres Handicap. Für Tass ist es ein Grund mehr, nach einer sanfteren Stimulation zu suchen: „ Wir wollen mit immer weniger Strom immer mehr erreichen“, ist sein Ziel. Tass hat die Erregungsausbreitung im Gehirn mathematisch berechnet. Wird das Gehirn im Computermodell an mehreren Orten schwach gereizt, bricht kurzzeitig Chaos zwischen den Neuronen aus. Tass nennt das einen „koordinierten Reset“. In diesem Durcheinander streben die Neuronen von alleine wieder eine Ordnung an. „Wir nutzen das Prinzip der Selbstorganisation“, sagt Tass. Was im Computer zu sehen ist, macht ihm Hoffnung: „Werden die schwachen Reize über längere Zeit verabreicht, so verlernt der Nervenzellverband den monotonen Gleichtakt.“ Zwischen den Neuronen spielt sich ein Rhythmus ein, der dem eines gesunden Gehirns ähnelt.

Mittlerweile hat Tass gemeinsam mit Sturm in einer neuen klinischen Studie sieben Parkinson-Patienten einem koordinierten Reset unterzogen. Die Elektrode wurde für eine Woche und drei Tage eingesetzt und von außen mit dem Tass-Computerprogramm gesteuert.

„Die ersten Ergebnisse sind sehr beglückend“, freut sich der Mathematiker. Wenige Minuten nach dem Reset im Nucleus subthalamicus setzte das Zittern oder die Bewegungsstarre aus. Auch nach Abschalten der Elektrode hielt dieser Effekt mindestens drei bis vier Tage an. Wie im Computermodell vorhergesagt, scheint das Hirn auf seinen gesunden Urzustand zurückgeworfen zu werden. „Menschen, die nicht mehr lächeln konnten, gelang das mit einem Mal wieder. Manchmal unterschied sie nichts mehr von Gesunden“, berichtet Tass stolz. Sturm schwärmt: „Das ist der erste Ansatz, der einer Heilung nahe kommen könnte.“

Mit dem koordinierten Reset hält der Mathematiker den Schlüssel in der Hand, das Gehirn langfristig zu verändern. Zu starke Verbindungen zwischen den Nervenzellen werden gekappt und neue Verknüpfungen aufgebaut. Diese Möglichkeit, das Gehirn künstlich umzuordnen, beflügelt gegenwärtig die Neurotechnologie. Eberhard Fetz von der University of Washington in Seattle konnte mit einem Chip im Gehirn neue Synapsen zwischen den Nervenzellen von Schlaganfallpatienten erzeugen. Die Synapsen sind die Kontaktstellen zwischen den Zellen, über die elektrische Signale und damit Informationen weitergereicht werden.

Der Neurowissenschaftler Frank Ohl vom Magdeburger Leibniz-Institut für Neurobiologie fand gar heraus, dass die Neuronen immer dann neue Brücken schlagen, wenn man ein „ Aha-Erlebnis“ hat: Sobald der Mensch einen neuen Sachverhalt begreift, äußert sich das in einem individuellen Erregungsmuster in seinem Gehirn. Indem die Neurotechnologen die Hirnströme messen, erfassen sie auch das spezifische Muster eines Aha-Erlebnisses und können sehen, wann das Gehirn eine neue Information verstanden hat. Dafür werden Implantate verwendet, die elektrische Signale auslesen und ins Gehirn einschreiben können. Diese Implantate feuern nicht nur stupide Pulse ab, sondern lauschen und reagieren auch auf die Antwort im Gehirn. Erst nach einem Aha-Effekt schickt das Implantat neue Pulse in die Denkzentrale. „Wenn wir die Nervenzellen als Dialogpartner verstehen, können wir sie dazu bringen, Neues zu lernen“, folgert Ohl.

Mit diesem neuen Prinzip versucht der Magdeburger, Wüstenrennmäusen menschliches Hörverständnis beizubringen, indem er nach den ersten Tönen auf den Aha-Effekt in ihrem Gehirn wartet. Sobald es im Mäuseköpfchen „Klick“ gemacht hat, geht Ohl im Hörtraining eine Stufe weiter. Inzwischen können seine Mäuse menschliche Worte unterscheiden. Bedenklich findet Ohl seine Experimente nicht: „Wir können dem Gehirn keine Denkinhalte vorgeben, aber wir können seine Lernfähigkeit beeinflussen.“

Auch der koordinierte Reset funktioniert nur deshalb, weil das Gehirn als Dialogpartner verstanden wird: Die Neuronen empfangen das Signal für kurzzeitiges Chaos. Daraufhin senden sie ihre Botschaft zur Neuordnung. Erst wenn Tass aus dem Hirn die Nachricht empfängt, dass die Neuordnung wieder verloren gegangen ist, spielt er das Zeichen für einen erneuten Reset ein.

Hinter diesen Experimenten steht die Hoffnung, die Nervenzellen dauerhaft umzuordnen. Parkinson-Patienten könnten mit wenigen Strompulsen pro Jahr beschwerdefrei leben. Der koordinierte Reset soll auch Schwerstdepressiven, Menschen mit Zwangserkrankungen, einer Schizophrenie oder Epilepsie die Qualen für immer nehmen.

Doch es formiert sich Widerstand gegen die lebenslange Veränderung des Gehirns. Die Langzeitfolgen seien bislang völlig unbekannt, warnt Metzinger. Es wäre fatal für die Betroffenen, wenn Schäden auftreten würden, die sich nicht wieder rückgängig machen ließen. „Es könnte durchaus sein, dass unser Gehirn einfach schon annähernd optimal ist – dank Jahrmillionen der Evolution. Wir haben es mit einem sehr komplexen dynamischen System zu tun. Es ist deshalb auch denkbar, dass sich einfach nicht wesentlich mehr aus dem Gehirn herauskitzeln lässt, ohne es zu destabilisieren“, befürchtet der Philosoph.

Wie mächtig und janusköpfig Neuroimplantate wirklich sind, kann heute kein Wissenschaftler redlich beantworten. Sturm wehrt sich allerdings gegen den Vorwurf, die Neurotechnologie würde die Hirnstrukturen verändern: „Nichts anderes passiert bei der kognitiven Verhaltenstherapie. Eingeschliffene Verhaltensmuster werden durchbrochen, sprich Verbindungen zwischen Neuronen gekappt. Wir können mit dem Hirnschrittmacher nur viel direkter eingreifen.“

Die ethische Diskussion hat längst auch die Patienten mit Hirnschrittmacher erfasst: Stefan Subirge hat sich vor der Operation mit den Argumenten der Gegner auseinandergesetzt. „ Natürlich ist die Operation ein Eingriff ins Gehirn. Jeder muss für sich entscheiden, ob er das möchte“, findet er. Dennoch fällt sein Plädoyer für Leidensgenossen eindeutig aus: „Wenn gesunde Mitmenschen wüssten, wie man mit einer Zwangserkrankung leidet, dann würden sie versuchen, uns zu helfen.“

Sobald Michael Pöllen seine Elektrode abschaltet, setzt unvermittelt der krankmachende Rhythmus in seinem Kopf wieder ein. „Es ist alles wie früher. Ich bekomme sofort Panik“, sagt er. Die Verschaltung seiner Nervenzellen kann mit der herkömmlichen Stimulationstechnik nicht dauerhaft geändert werden.

Fluch oder Segen? Für Michael Pöllen zählt, dass er wieder leben will: „Ich feiere jetzt zweimal im Jahr Geburtstag.“ Zum zweiten Mal am 17. März, dem Tag seiner Operation. ■

Die Berliner Wissenschaftsjournalistin Susanne Donner ist auf den menschlichen Körper spezialisiert. Von den Möglichkeiten, die sich Medizinern mit Hirnimplantaten bieten, ist sie fasziniert und entsetzt zugleich.

COMMUNITY FERNSEHEN

Die Kollegen vom Wissensmagazin „nano“ finden den „Draht zum Gehirn“ so spannend, dass sie in Zusammenarbeit mit der Redaktion von bild der wissenschaft einen TV-Bericht produziert haben. Erstausstrahlung ist in 3sat am Donnerstag, den 31. Mai, um 18.30 Uhr. Wiederholungstermine und mehr erfahren Sie auf der Website:

www.3sat.de/nano

INTERNET

ZDF-Video „Hirnschrittmacher der Zukunft“:

www.zdf.de/ ZDFmediathek/inhalt/3/ 0,4070,4344259–0 ,00.html

Videos aus dem Klagenfurter BCI-Labor:

bci.tugraz.at/downloads.html

Videos vom Gehirnchip- Pionier Matthew Nagle:

www.nature.com/nature/ journal/v442/n7099/ supinfo/nature04970.html

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· Hirn-Implantate helfen Patienten mit Parkinson, Zwangskrankheiten und Depressionen.

· Durch sie lässt sich aber auch Tieren ein fremder Wille aufzwingen, wie ferngesteuerte Schaben, Ratten und Tauben beweisen.

Ohne Titel

Zielpunkt Nucleus subthalamicus: Durch dauerhafte Reizung dieses erbsengroßen Areals kann Parkinson-Patienten geholfen werden. Seit den Neunzigerjahren erhielten mehr als 1000 Menschen einen Hirnschrittmacher eingepflanzt. Laut einer aktuellen Studie ist er den gängigen Parkinson- Medikamenten überlegen.

Zielpunkt Nucleus accumbens: Strompulse in dieser Hirnregion können Menschen mit schweren Depressionen sowie Angst- und Zwangserkrankungen Erleichterung verschaffen. Auch beim Tourette-Syndrom helfen Stromreize in dieser Region.

Zielpunkt Gyrus cinguli: Mindestens zehn Prozent aller Menschen mit schweren Depressionen finden mit Medikamenten nicht zurück ins normale Leben. Ein Hirnschrittmacher könnte die Alternative sein. Dies legt eine klinische Studie nahe, die Erfolge durch Reizung des Gyrus cinguli im limbischen System nachwies: Bei vier von sechs Probanden hellte sich die Stimmung auf.

Zielpunkt Thalamus: Ein Wachkoma-Patient konnte wieder auf seine Umwelt reagieren und sogar Antworten geben, nachdem Strompulse seinen Thalamus im limbischen System angeregt hatten.

Zielpunkt Sehrinde im Grosshirn: Blinden kann das Augenlicht wiedergegeben werden – durch bis zu 80 Elektroden, die direkt auf ihre Sehrinde implantiert werden. Bislang erkennen diese Menschen allerdings nur helle Lichtpunkte. Mit viel Übung können sie immerhin einen Löffel von einer Tasse unterscheiden. Scharfes Schwarz-Weiß- oder gar farbiges Sehen ist mit dieser Methode allerdings nicht möglich.

Zielpunkt motorischer Cortex: Auch ohne Operation kann das Gehirn beeinflusst werden – mit der transkraniellen Gleichstromstimulation des Gehirns (tDCS). Dabei werden Elektroden außen am Kopf aufgesetzt. Wird dabei der motorische Cortex vom Oberkopf aus gereizt, lässt sich die Bewegungsfähigkeit verbessern, etwa von Schlaganfallpatienten.

Zielpunkt präfrontaler Cortex: Wird der präfrontale Cortex über Stirn oder Schläfe mit Gleichstrom gereizt, lässt sich das Kurzzeitgedächtnis auffrischen und das Lernvermögen steigern. Etwas Ähnliches kann auch im Schlaf geschehen, wie Experimente an der Universität Lübeck gezeigt haben: Die elektrische Stimulation der Hirnrinde mit langsamen Wellen (eine pro Sekunde) während der ersten Tiefschlafphase steigerte die Gedächtnisleistung von 13 Studenten.

Weitere Zielpunkte (nicht in der Grafik zu sehen):

Zielpunkt Retina: Auf der Netzhaut des Auges nehmen eine Million Sinneszellen die Lichteindrücke wahr und leiten sie in Form elektrischer Signale ans Großhirn weiter. Lichtempfindliche Chips tun es den Sinneszellen gleich. Eberhart Zrenner von der Universitäts-Augenklinik Tübingen hat vor Kurzem sieben Blinde mit einem Retina- Implantat versorgt. Einer der Patienten konnte daraufhin ein Fenster erkennen.

Zielpunkt Hörschnecke: Seit über 20 Jahren erhalten Gehörlose und Schwerhörige sogenannte Cochlea-Implantate . Die Geräusche der Umgebung werden dabei über ein winziges Mikrofon eingefangen und auf den Hörnerv übertragen. Mehr als 60 000 Menschen tragen zurzeit eine solche Innenohrprothese.

Zielpunkt Nervus occipitalis major: Dieser Halsnerv wird bei einem neuen Verfahren gereizt, um schwere Clusterkopfschmerzen zu beheben. Erste Pilotstudien verliefen erfolgreich. Das Verfahren konkurriert mit der Magnetstimulation, bei der elektromagnetische Wellen den Schmerz unterdrücken.

Ohne Titel

Thomas Metzinger, Professor für Philosophie an der Universität Mainz, interessiert sich für die ethischen Fragen, die die Neurobiologie aufwirft. Er begrüßt es, wenn Eingriffe ins Gehirn einem Kranken das Selbstbestimmungsrecht zurückgeben, warnt aber vor Missbrauch: „Wenn der Mensch seiner Handlungsfreiheit beraubt wird, ist das verwerflich.“

Ohne Titel

Eine Neue erfolgsmeldung aus dem Operationssaal von Volker Sturm in Köln ging am 18. April 2007 über die Newsticker: Bei drei Patienten mit schweren Depressionen besserte sich dank Hirnschrittmacher im Nucleus accumbens das Befinden wesentlich. „ Einer der Patienten äußerte schon eine Minute nach Beginn der Stimulation den Wunsch, den Kölner Dom zu besteigen, und setzte ihn am nächsten Tag in die Tat um“, berichtet der Bonner Psychiatrie-Professor Thomas E. Schläpfer, der an der Pilotstudie beteiligt war.

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