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Haariger Zwang

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

Haariger Zwang

Was Außenstehende oft als harmlose Marotte abtun, ist für die Betroffenen ein quälendes Leiden: In unbeobachteten Momenten umspielen die Finger ein Haar, und fast automatisch wird es mit einem kurzen Ruck ausgerupft. Manche, die an diesem zwanghaften Haarausreißen (Trichotillomanie) leiden, beackern nur eine umgrenzte Stelle, andere reißen sich allmählich die gesamte Kopfhaut kahl. Auch Wimpern, Brauen oder Schambehaarung bleiben oft nicht verschont.

Es gibt eine medikamentöse Behandlung dagegen. Sie setzt vor allem auf Antidepressiva, die den Serotoninspiegel erhöhen. Dieser Botenstoff scheint bei Zwangserkrankungen eine wichtige Rolle zu spielen. Allerdings zeigen neue Untersuchungen von Annett Neudecker an der Verhaltenstherapeutischen Ambulanz des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf, dass langfristig eine Psychotherapie wesentlich erfolgreicher ist. „Die Trichotillomanie ist eine Störung der Impulskontrolle. Ähnlich wie Glücksspielsüchtige oder Kleptomanen, erliegen die Patienten ihrem inneren Drang immer wieder aufs Neue“, beschreibt die Diplom-Psychologin die Krankheit. Nach amerikanischen Erhebungen ist etwa jeder 200. Mensch zumindest zeitweise davon betroffen. Geschlechtsunterschiede haben sich nicht gezeigt, allerdings begeben sich deutlich mehr Frauen in Behandlung – möglicherweise weil sie mehr unter der Krankheit leiden als Männer, bei denen schütteres Haupthaar kaum als kosmetischer Makel gilt. „Typisch für die meisten unserer Patienten ist, dass es ihnen schwer fällt, einfach einmal nichts zu tun. Sie sind angespannt und stehen ständig unter Strom“, so Annett Neudecker. Für sie bietet das Zupfen an den Haaren den Vorteil, dass sie sich in entspannten Situationen nicht mit ihrer eigenen – vielleicht problembelasteten – Gefühlswelt beschäftigen müssen. So verspüren viele den Zwang zum Haarausreißen erstmals in Phasen, die von depressiven Stimmungen oder Ängsten geprägt sind, zum Beispiel in der Pubertät oder bei Trennungen. Später kann sich das Verhalten verselbstständigen und läuft dann auch unbewusst beim Autofahren, Fernsehen, Lesen oder Telefonieren ab.

„Die Trichotillomanie ist recht schwierig zu therapieren“, sagt die Psychologin, die inzwischen an das Münchner Max-Planck- Institut für Psychiatrie gewechselt ist und gleichzeitig in Landshut eine eigene Praxis betreibt. Zunächst sollen die Patienten verstehen, wie die Störung bei ihnen entstanden ist und was diese aufrecht erhält. Erst in der zweiten Phase lernen sie, ihren Impuls besser zu kontrollieren. Beispielsweise dadurch, dass sie in einer bewussten Gegenbewegung die Hand nicht zum Kopf führen, sondern den Arm möglichst weit ausstrecken. Dann spüren sie, dass der Drang nach wenigen Sekunden von selbst wieder verschwindet. Notwendig ist meist auch die Arbeit an Begleitproblemen wie sozialer Angst, Depressionen oder fehlender Entspannungsfähigkeit. Annett Neudecker: „Nur die wenigsten Patienten lassen auch nach einer erfolgreichen Therapie ihre Haare vollkommen in Ruhe. Aber das Zupfen erfolgt dann nicht mehr unbewusst und exzessiv. Es bleibt für sie immer noch ein Genuss, den sie aber ähnlich gut kontrollieren können wie andere Genießer das Trinken von Rotwein oder das Verzehren von Schokolade.“ Dr. Ulrich Fricke

Medinfo im August: Nabelschnurblut

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mit Erfahrungsberichten:

www.trichotillomanie.de

Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.

www.zwaenge.de

KoNtakt

Annett Neudecker

Altstadt 390

84028 Landshut

Tel.: 0871 | 1436943

Verhaltenstherapeutische Ambulanz

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistr. 52

20246 Hamburg

040 | 428 03-4225

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