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Das Frankenstein-Klischee

Gesellschaft|Psychologie

Das Frankenstein-Klischee
Forscher in Spielfilmen wollen meist das Menschliche beseitigen oder eine diktatorische Weltherrschaft erringen. Die Kino-Wissenschaft symbolisiert dabei in der Regel die bedrohliche, weil unbekannte Zukunft.

Ein abgelegener Ort. Es ist dunkel. Ein altes Gemäuer, im Keller ein Geheimlabor, voll gestopft mit rätselhafter Technik. Es blubbert, brodelt, zischt – die Stunde der Wahrheit: Gelingt das Experiment, ist nichts mehr, wie es war. Ein Mann im weißen Kittel, mit zerzaustem Haar, fiebrigem Blick. Er schwingt sich auf zum Grenzgänger der Menschheit – verantwortungslos, außer Kontrolle.

So sieht er aus, der typische Wissenschaftler – in den Köpfen vieler Zeitgenossen. „Das vorherrschende Bild des Naturwissenschaftlers ist in der gesamten westlichen Kultur das eines bösen, wahnsinnigen und gefährlichen Mannes”, sagt Roslynn Haynes von der University of New South Wales in Sydney. Die Literatur-Professorin hat Berge von Romanen, mittelalterlichen Schriften und Gedichtbänden gewälzt und die Klischees freigelegt, mit denen Wissenschaftler dort versehen sind. Sie fand ein Bild der Wissenschaft, das geprägt ist von Mythen, nicht von Wissen.

Wer nicht aus eigener Erfahrung weiß, wie Mediziner, Chemiker oder Gentechniker forschen, versucht, sich ein Bild davon zu machen. Heute liefern solche Bilder die Massenmedien, allen voran der Film. Was im Kino über die Leinwand flimmert, bleibt in vielen Köpfen hängen.

Wie wirksam die Traumfabrik ist, zeigt das Ergebnis einer Umfrage, in der Haynes nach bekannten Wissenschaftlern fragte. Fiktive Figuren wie Dr. Seltsam, Dr. Caligari oder Dr. Frankenstein sind danach in der breiten Öffentlichkeit weitaus bekannter als reale Forscherpersönlichkeiten. Es sind Filme wie „ Jurassic Park” (1993, 1997, 2001), die der Bevölkerung das Thema Gentechnik nahe bringen. Darin lassen Wissenschaftler für einen Freizeitpark Dinosaurier wieder auferstehen, geklont aus Blutzellen, die sie prähistorischen, in Bernstein eingeschlossenen Stechmücken entnommen haben. Das Experiment gelingt, ein Traum wird wahr. Doch dann läuft alles aus dem Ruder. Die Echsen brechen aus und gehen auf Menschenjagd. Tyrannosaurus rex ist nun mal nichts für einen Streichelzoo.

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Der erste Wissenschaftler, der ein Kinopublikum erschauern ließ, war „Frankenstein” (1910). Mehr als 20-mal wurde die Geschichte seiner aus Leichenteilen zusammengeflickten Kreatur seitdem verfilmt, mal mehr, mal weniger hintergründig. Der Arztsohn aus Genf verkörpert bis in die heutige Zeit den mächtigsten Wissenschaftsmythos – die künstliche Erschaffung menschlichen Lebens. Zugleich ist Dr. Frankenstein der Inbegriff des besessenen, des entgrenzten, ja des unmenschlichen und damit gefährlichen Wissenschaftlers. Als moderner Prometheus stürmt er 1818 in dem Roman von Mary Shelley gegen die Grenzen des Wissens an und öffnet damit die Büchse der Pandora. Er schwingt sich auf zum Schöpfer – und stellt dadurch die Schöpfung selbst infrage.

Die aktuelle Variable der Frankenstein-Formel, der menschliche Klon, ist dieses Jahr gleich zweimal im Kino zu sehen. In „ Godsend” spielt Robert de Niro einen Gen-Experten, der einem Ehepaar den tödlich verunglückten Sohn in Form eines Klons wiederbringen will. Und „Blueprint”, mit Franka Potente in einer Doppelrolle, erzählt die Geschichte einer todkranken Pianistin, die ihr Talent um jeden Preis retten will. Mithilfe eines dubiosen Wissenschaftlers lässt sie sich klonen. Die so geschaffene „Tochter” – der erste Klon der Welt – ist tatsächlich ebenso erfolgreich am Klavier. Als sie aber davon erfährt, eine bloße Kopie ihrer Mutter zu sein, zerbricht sie fast daran. Der Film nimmt sich des Opfers wissenschaftlicher Gier an und ist damit nah an Mary Shelleys Vorlage: Auch Frankensteins „Sohn” war Zeit seines künstlichen Lebens auf der Suche nach sich selbst.

Im Schatten des Monsters wuchs indes eine ganze Horde postdoktoraler Amokläufer heran. Die Erben Frankensteins wurden mit der Zeit immer verrückter, skrupelloser und bösartiger in ihrer Gier nach Macht. Auf einer kleinen Insel im Pazifik ist es „ Dr. Moreau” (1976, 1996), der seine wissenschaftlichen Experimente an Chromosomen dazu benutzt, Chimären aus Mensch und Tier zu schaffen und sich von diesen Halbwesen als Gott anbeten zu lassen. Und in dem Film „The Boys from Brasil” (1977) züchten Altnazis um Dr. Mengele gleich ein paar Dutzend Adolf-Hitler-Klone und verteilen die Kopien rund um den Erdball, um ein „Viertes Reich” zu schaffen.

Wer auch immer im weißen Kittel sein cineastisches Unwesen treibt – der gemeinsame Urahn ist der Alchemist Doktor Johann Faustus. Angelehnt an einen Schulmeister, Zauberer und Horoskopsteller aus dem 16. Jahrhundert, wandelt die Gestalt als faustischer Wissenschaftler durch die Literaturgeschichte – stolz, geheimniskrämerisch und immer irgendwie mit verbotener Forschung befasst. Die Hybris des „Schwarzkünstlers” allerdings lässt ihn meist geradewegs in die Verdammnis fahren.

Die Alchemie entstand im 2./3. Jahrhundert n.Chr. im ägyptischen Alexandria als wissenschaftliche Beschäftigung mit chemischen Stoffen. Im späten europäischen Mittelalter stellte sie sich mit der Suche nach dem „Stein der Weisen” außerhalb der Naturwissenschaften und wurde von der Kirche als Teufelswerk gebrandmarkt, auch um ihr Misstrauen gegen den aufbrechenden Wissenstrieb zu rechtfertigten. Dennoch waren viele Zeitgenossen fasziniert von der „geheimen Kunst”, die unedles Metall in Gold verwandeln wollte und nach lebensverlängernden Elixieren suchte. Vor allem der Traum vom Homunkulus, dem vom Menschen geschaffenen Menschen, ließ zu gleichen Teilen frösteln wie frohlocken.

„Die Ambivalenz der Wissenschaft gegenüber ist geblieben und findet sich heute im Kino wieder”, sagt Prof. Peter Weingart vom Institut für Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Bielefeld. Mit seinem Team hat Weingart 222 Filme aus acht Jahrzehnten Filmgeschichte unter die Lupe genommen, in denen Wissenschaftler eine Rolle spielen.

Es ist bezeichnend, dass der Wissenschaftler am häufigsten in Horrorfilmen auftritt. Hier hat er es sogar zu einem eigenen Genre-Begriff gebracht: dem „Mad Scientist”. In Komödien kommen Forscher dagegen kaum zu Wort. Der gängigen Medientheorie zufolge gestalten und verstärken Filme nicht nur die Bilder in den Köpfen ihres Publikums, sondern spiegeln sie auch. Daher schließt Weingart: „Die Gesellschaft findet Wissenschaft offenbar nicht zum Lachen.”

Der Mad Scientist hat nur drei Dinge im Sinn: Einen neuen, besseren Menschen zu erschaffen, die Weltherrschaft zu erobern – oder beides zusammen. Dieser rote Faden zieht sich von Frankensteins Monster über Androiden, Cyborgs und Klone bis hin zum denkenden Computer der klassischen Science-Fiction-Filme. Letztlich geht es immer um den Versuch, das Menschliche zu beseitigen. „Die tief sitzenden Ängste und Erwartungen, die wir mit unserem eigenen Leben verbinden, werden so in Ängste und Erwartungen auf die Wissenschaftsfelder projiziert, die mit Verlängerung, Verbesserung, Manipulation, Erweiterung oder Beendigung von Leben befasst sind”, sagt Peter Weingart. „ Zugleich wird die Wissenschaft mit der unbekannten Zukunft assoziiert.”

In den meisten Fällen kann die Katastrophe abgewendet werden, die entgrenzte Wissenschaft wird gestoppt, die alte Ordnung wieder hergestellt. Wenn nicht, steht am Ende eine hochtechnologisierte, aber unmenschliche „schöne, neue Welt”, wie sie Aldous Huxleys 1932 beschrieb und die mit Filmen wie „Gattaca” ins Kino kommt: Gentechnisch optimierte Menschen beherrschen die Gesellschaft, während den natürlich geborenen alle Türen verschlossen sind. Oder alles endet in einem postapokalyptischen Szenario, bei dem die Übriggebliebenen in einer zerstörten Welt leben müssen.

Utopien, die auf wissenschaftlichem Fortschritt gründen, sind selten und nur in der älteren Filmgeschichte zu finden. „Things to Come” (1936) von H. G. Wells etwa zeichnet die Zukunft in leuchtenden Farben. Der Film handelt von der Stadt Everytown, die – nach einem jahrzehntelangen Zweiten Weltkrieg zerstört – unter einer „Herrschaft der Vernunft und Wissenschaft” zur blühenden Metropole aufsteigt. Die guten, die edelmütigen und wohlmeinenden Film-Forscher sind rar. Wenn sie auftreten, belegen sie meist Fächer, in denen wenig ethischer Zündstoff vermutet wird – Geisteswissenschaften, Geologie oder Astronomie. „Indiana Jones” ist so einer – mutig, maßvoll und vor allem menschlich: Der Archäologe und Abenteurer ist auf der Suche nach der Bundeslade (1980), nach ein paar magischen Steinen (1984) oder dem Heiligen Gral (1989). Er ist der Held in der Tradition von Jules Vernes unerschrockenem Mineralogen Prof. Lindenbrock, der sich 1864 auf die literarische „Reise zum Mittelpunkt der Erde” machte.

Oft findet sich unter den „Guten” aber auch das Stereotyp des zerstreuten Professors: schrullig, weltfremd, allenfalls töricht – aber harmlos. Doc Brown zum Beispiel, eine exzentrische Mischung aus Daniel Düsentrieb und Albert Einstein, rast mit seiner Zeitmaschine mehrmals „Zurück in die Zukunft” (1985, 1989, 1990), um die familiären Angelegenheiten seines Freundes zu regeln.

Dagegen machen Mediziner, Chemiker, Biologen, Physiker und auch Psychologen im Film meist nur Probleme, selbst wenn sie es anfänglich gut meinen. Ob im Jura-Park oder in Frankensteins Labor, die zentrale Botschaft lautet: Am Ende verlieren die Wissenschaftler die Kontrolle über ihre Experimente. Besonders schlimm wird es, wenn die Forscher Uniformen tragen. „Outbreak” (1995) etwa inszeniert die außer Kontrolle geratene, geheime Forschung an biologischen Waffen. Als eine Virus-Epidemie ausbricht, will die Regierung das Ganze vertuschen und plant, die betroffene Kleinstadt eben wegzubomben.

Massenvernichtung, vor allem durch die entfesselte Physik der Atombombe, ist zu einer realen Bedrohung geworden. Der Fallout von 1945 ging auch aufs Kino nieder. Seitdem treten entweder größenwahnsinnige Herrschertypen auf den Plan, die – wie in „Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben” (1963) – einen Krieg anzetteln und den ganzen Globus mit einer „ Weltvernichtungsmaschine” in eine tödliche Wolke hüllen. Oder der Film artikuliert die Ängste vor den Folgen einer missbrauchten Wissenschaft, etwa in „Formicula” (1954), worin ein Ameisenvolk nach Atombombentests durch radioaktive Strahlung mutiert und die Menschheit bedroht.

„Die Furcht vor der Wissenschaft ist zugleich die Furcht vor Macht und Veränderung, die normale Menschen entmachtet und irritiert”, sagt Literatur-Professorin Roslynn Haynes. Die wissenschaftlichen Ideen bleiben unverständlich, und Normalsterbliche können die Ideen nicht kontrollieren. Vor allem aber können sie nicht verhindern, dass die Erkenntnisse in falsche Hände geraten. Haynes: „Im Gegensatz zu Herrschern und Militärregimes kann man Wissen nicht stürzen – es lässt sich nicht rückgängig machen.” Was bleibt, ist Hoffen auf ein Happy-End. ■

THOMAS MÜLLER ist freier Wissenschaftsjournalist in Berlin mit dem Schwerpunktthema Mensch.

Thomas Müller

Ohne Titel

• Wissenschaftler im Spielfilm haben selten gute Eigenschaften.

• Fiktive Forscher – wie Dr. Frankenstein oder Dr. Caligari – sind in der Öffentlichkeit oft bekannter als reale Wissenschaftler.

• Wissenschaft wird meist als bedrohlich dargestellt.

COMMUNITY FERNSEHEN

in Kooperation mit bdw hat „nano”, das Zukunftsmagazin in 3Sat, einen Film über das Frankenstein-Klischee produziert. Die Erstausstrahlung ist am Mittwoch, 30. Juni, um 18.30 Uhr. Mehr Infos: www.3sat.de/nano

FERNSEHEN

In Kooperation mit bild der wissenschaft sendet DeutschlandRadio Berlin am 23. Juni ab 11.05 Uhr eine Sendung über das Frankenstein-Klischee. Unter www.dradio.de/dlr erfahren Sie die für Ihr Sendegebiet beste Frequenz.

LESEN

Stefan Iglhaut, Thomas Spring (Hrsg.)

SCIENCE AND FICTION

Zwischen Nanowelt und globaler Kultur

Jovis, Berlin 2002, € 19,80

GEGENWORTE

Zeitschrift für den Disput über Wissen Ausgabe 3/1999

Lemmens Verlags- & Mediengesellschaft Bonn 1999, € 9,–

KONTAKT:

Forschungsprojekt Wissenschaftler im Film: Prof. Peter Weingart

www.iwt.uni-bielefeld.de

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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