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Die Kraft des vollen Mondes

Allgemein

Die Kraft des vollen Mondes
Mehr Geburten, mehr Herzinfarkte? Was Wissenschaftler wirklich wissen. Der volle Mond gibt das Signal für die Hochzeit der Wattmücken, Fichtenstämme schwellen in seinem Schimmer – und auch wir können uns manchmal dem Einfluß der Silberscheibe nicht entziehen. Für einige Menschen ist der Vollmond sogar tödlich.

Nacht über Stade. In einem Garten unweit der Elbe versammeln sich 13 Frauen schweigend um einen Altar. Der schimmernde Vollmond taucht das Haus und den angrenzenden Wald in ein unwirkliches Licht. Rosenquarz und Rubine, Rosen und Kerzen schmücken den Tisch. Um jede wickelt Gastgeberin Theresia einen Bindfaden, neunmal, und knüpft je sieben Knoten. Ein Totenkopf glänzt im Kerzenschein. Er soll negative Einflüsse fernhalten. Immer freitags, vor Mitternacht, zelebriert Theresia das Liebesritual, mit dem die Frauen ein Paar – selbst nicht anwesend – zusammenbringen wollen: „Bei Vollmond wirkt es am stärksten“, raunt Theresia.

Die Riten der 20000 bis 30000 Frauen in Deutschland, die sich selbst Hexen nennen, knüpfen an alte Überlieferungen an. In Vollmondnächten sollen sie auf Besen zu Tanzplätzen geflogen sein, um ihre Magie auszuüben. Sie brauchten das Licht der „Lumpenlaterne“, um einen Zauberspiegel herzustellen. Er sollte ihnen den Blick in Vergangenheit und Zukunft ermöglichen.

An die Macht des Vollmondes glauben viele Menschen noch heute. Immer wieder wird behauptet, der Schein der leuchtenden Kugel treibe Schlafwandler auf Dachfirste, verursache Schlafstörungen, lasse die Zahl von Verbrechen und Verkehrsunfällen sowie Liebeslust und Aggressionen steigen. „Das hat wahrhaftig nur der Mond verschuldet; er macht die Menschen rasend“: Auch Shakespeares Othello stand angeblich unter seinem Einfluß. Ein seriöser wissenschaftlicher Nachweis solcher Wirkungen auf die Psyche wurde jedoch nie erbracht.

Dennoch: „Der Streß nimmt heutzutage zu, da besinnen sich die Menschen auf das, was schon den Alten guttat“, sagt Ariane Freier, Chefredakteurin der Astrologie-Zeitschrift Luna. Orientierungslosigkeit und Werteverfall macht sie für die wachsende Mondgläubigkeit verantwortlich.

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Manch einer sät, erntet, wäscht nach dem Mond und plant eine anstehende Operation nach seinem Kalender. Selbst die Haare schneiden sich eingefleischte „Lunatisten“ nur an besonderen Tagen. Ein Berliner Frisör lädt in Vollmondnächten zu einer Party mit Haareschneiden ein. Steht „Frau Luna“ bei ihrer Wanderung durch die zwölf Tierkreiszeichen zufällig im Löwe-Bild, seien die Chancen für Leute mit Haarausfall besonders günstig: Nach der Schur würden die Haare garantiert besser wachsen, verspricht der Barbier seinen Kunden.

Vor allem drei Rhythmen sind es, die dem Laien einen Zusammenhang mit den Mondphasen nahelegen: die zyklische Schwankung der Körpertemperatur, die Menstruation und die Geburt. Der Tag- und Nachtrhythmus der Körpertemperatur vieler Menschen entspricht genau der Länge eines Mondtages von 24,8 Stunden. Eine Beziehung der Temperaturkurve zu einem bestimmten Mondstand schloß der Biorhythmusforscher Prof. Rütger Wever vom Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie allerdings schon Mitte der achtziger Jahre nach vergleichenden Messungen mit Sicherheit aus.

Auch ein Zusammenhang zwischen Menstruation und Mondlauf wurde nie gefunden. Der Zyklus währt zwar im Mittel so lange wie eine Lunation – die Dauer von einem Neumond über den Vollmond bis zum nächsten Neumond: 29,5 Tage. Dr. Klaus-Peter Endres, Chronobiologe an der Universität Witten/ Herdecke, verweist auf die Tendenz in der Natur, „biologische Rhythmen im Verlaufe der Evolution an äußere Taktgeber anzupassen“. Der Mensch allerdings habe sich davon weitgehend emanzipiert.

Von Frau zu Frau kann der Zyklus von 24 bis 35 Tage variieren, US-Amerikanerinnen haben durchschnittlich eine um zwei Tage längere Periode als Japanerinnen. 1997 veröffentlichte die amerikanische Anthropologin Prof. Beverly Strassmann von der Universität Ann Arbor in Michigan, USA, eine neue Studie. Sie hatte drei Jahre lang 477 Menstruationszyklen von 58 Frauen eines Naturvolks untersucht, der Dogon in Mali. Die Frauen leben ohne jegliche Empfängnisverhütung und ohne elektrisches Licht. Chemische und physikalische Einflüsse auf ihren Biorhythmus konnte Strassmann ausschließen. Aber selbst dort fand sie keinen Zusammenhang zwischen dem Menstruationszyklus und der Mondphase.

Bleibt die Verbindung von Vollmond und Geburt. An Entbindungsstationen zieht der Vollmond angeblich nicht spurlos vorüber. Die alte Hebammenweisheit aber, daß dann mehr Kinder geboren werden, bestätigt sich höchstens zufällig einmal. Zuletzt analysierte 1988 der kanadische Psychologe Prof. Ivan Kelly von der Universität Saskatoon in Saskatchewan 21 Studien der letzten 50 Jahre zu dieser Hypothese. Sein Fazit: Der weitaus größere Teil der Ergebnisse spricht nicht für einen Zusammenhang von Geburtenrate und Mondphase. Die wenigen positiven Studien widersprächen sich in ihren Ergebnissen.

Dennoch gibt es die konkreten Einflüsse des Vollmondes auf den Menschen. 1940 zum Beispiel entdeckten Forscher, daß die Farbempfindlichkeit des menschlichen Auges in der Dämmerung in drei sich überlagernden Perioden schwankt: im Tages-, Jahres- und im Mondrythmus. Um die Sommersonnenwende herum sieht der Mensch blau besser als rot, aber immer an den Tagen um den Vollmond herum ist er für rot sensibler als für blau. Das gilt auch, wenn die Versuchsperson nicht weiß, in welcher Phase der Mond gerade steht. Wozu diese Veränderungen des Sehvermögens aber gut sein sollen, weiß bis heute niemand.

Schwerwiegender scheinen die Folgen des Vollmonds für Herzpatienten zu sein. 1995 stellte ein Ärzteteam um den Herzspezialisten Prof. Fabrizio Sessa am städtischen Krankenhaus von Lugano eine Häufung von Herzinfarkten an Vollmondtagen fest. Von 567 Infarkt- Patienten erlitten fast ein Drittel – 170 – die Herzattacke bei Vollmond, 14 davon starben. Um Neumond herum kam es zu 131 Infarkten mit 9 Toten. Der Rest verteilte sich gleichmäßig auf die mehr als 20 Tage des zunehmenden und abnehmenden Mondes. Vorsichtig wiesen die Mediziner dennoch darauf hin, daß dieses Ergebnis durch weitere Studien noch gesichert werden müsse.

Die Tierwelt macht es der Forschung leichter: Hier liegen hieb- und stichfeste Beweise für den Einfluß des Vollmondes vor.

Die Wattmücke Clunio marinus zum Beispiel richtet ihre Hochzeit nach dem himmlischen Signalgeber aus. Sie schlüpft und schwärmt im Sommer vor Helgoland zu Zeiten des tiefsten Niedrigwassers. Erst wenn das Meer den Lebensraum ihrer Larven, die feinfädigen Braunalgen, freigegeben hat, können die rasch geschlüpften Männchen sich auf die Suche nach den Weibchen machen. Partner suchen, sich paaren, Eier ablegen – kaum mehr als eine Stunde Zeit bleibt dem Insekt, bevor es stirbt.

Die Ebbe sinkt nur alle 14 Tage so tief. Bei Vollmond, wenn sich Sonne und Mond in Opposition zueinander befinden, oder bei Neumond, wenn beide in einer Richtung stehen, zieht ihre Anziehungskraft das Wasser weit von der Küste weg. „Exaktes Timing ist für Clunio unerläßlich“, sagt Prof. Dietrich Neumann vom Zoologischen Institut der Universität Köln. Er hat die zeitliche Steuerung der Lunarperiodik bei der Wattmücke nachgewiesen.

Im Labor simulierte er den Tag- und Nachtwechsel mit einer Hell-Dunkel- Schaltung. Zusätzlich täuschte er den Insekten einen künstlichen Vollmond vor. Er ließ nachts ein Lämpchen unterschiedlich hell und lang brennen. Damit konnte er die Clunios überlisten: Sie schlüpften kurz nach dem künstlich erzeugten Voll- oder Neumond. „Das ist der Beweis, daß sie das Mondlicht als Taktgeber für ihren Fortpflanzungsrhythmus akzeptieren“, sagt Neumann.

Einen allein zuverlässigen Zeitgeber stellt das Mondlicht jedoch nur für die Clunios in südlichen Breiten dar, mit langen Sommernächten ohne Resthelligkeit wie in nördlichen Gegenden. Für die Helgoländer Wattmücken ist zusätzlich ein Gezeitenfaktor in Kombination mit dem 24stündigen Tag-Nacht-Zyklus und dem halben Mondmonat von 14,76 Tagen wirksam.

Die Tiere haben sich an den Gezeitenzyklus angepaßt, der sich täglich um rund 50 Minuten, also alle 14,76 Tage um zwölf Stunden, verschiebt. Dann kehrt die gleiche Phasenbeziehung zwischen Gezeiten und Tageszeit wieder. Die Helgoland-Mücke registriert die rechte Zeit anhand der unterschiedlichen Stärke und Dauer des parallel zu Ebbe und Flut schwankenden Geräuschpegels im Wasser, den Unterwasserschall mit Frequenzen zwischen 50 und 200 Hertz. Daraus schließt sie, hat Neumann herausgefunden, wann das Wasser lange genug weg ist, um einen Partner finden und Eier legen zu können.

Ein anderes Meerestier, das ohne Vollmond nicht in Stimmung kommt, ist der Grunion. Er ist der einzige Fisch der Welt, der an Land laicht und zwar nur bei Voll- und Neumond zur Zeit der Springflut. In der ersten oder zweiten Stunde nach dem Hochwasser erscheinen die rund 15 Zentimeter langen blaugrünen, silbrig gestreiften Fische zu Abertausenden an den Stränden Kaliforniens. Männchen und Weibchen lassen sich von den Wellen an den Strand tragen. Die Weibchen graben sich, von Männchen umringt, rückwärts bis an die Brustflossen in den weichen Sand ein. Der ganze Laichakt dauert nur 30 Sekunden. Die besamten Eier bleiben in fünf bis acht Zentimeter Tiefe. Von der nächsten Welle lassen sich die Fische ins Meer zurücktragen.

Ein Leben nach dem Mond führen nicht nur viele Meeresorganismen, sondern auch unser Regenwurm. Er stimmt seine Aktivitäten und Ruhephasen gleich mit vier Rhythmen ab: dem Sonnentag von 24 Stunden, dem Mondtag mit 24,8 Stunden, sowie dem halben und dem ganzen Mondmonat von 14,76 und 29,5 Tagen. Etwa drei Stunden vor dem täglichen Tiefststand des Mondes unter dem Horizont ist der Regenwurm am aktivsten, besonders rührig tunnelt er bei Voll- und Neumond durch die Erde. Sogar die Honigbiene, die man eher mit der Sonne in Verbindung bringt, lebt nach dem Mond: Die aus dem Südosten Europas stammende Rasse Apis mellifera carnica schwärmt am stärksten bei Vollmond aus, wenn die Waben nord-südlich ausgerichtet sind und das Ausflugsloch nach Norden zeigt.

Auch Pflanzen spüren die Kraft des Mondes, denn an Land gibt es ebenfalls Ebbe und Flut: Das Festland wird bei der Wanderung des Mondes um den Globus um bis zu einen halben Meter deformiert. Der Mensch spürt nicht, daß sich unter ihm ein ganzer Kontinent allmählich hebt und senkt, an Baumstämmen aber kann man den Effekt messen. Sie verändern ihren Durchmesser. Der Forst-wissenschaftler Prof. Ernst Zürcher von der ETH Zürich nahm an jungen Fichten Maß: Ihr Durchmesser veränderte sich je nach Stand des Mondes gleichzeitig um jeweils Hundertstelmillimeter. Besonders bemerkenswert: Der Zyklus verzeichnete im Monat zwei Höchst- und Tiefstwerte und wiederholte sich nach rund 25 Stunden. Die Stämme schwollen am meisten bei Voll- und Neumond. Die Forscher nehmen an, daß der Wasserfluß im Baum dabei eine entscheidende Rolle spielt. Durch die Gezeitenkräfte steigt vermutlich mehr Wasser aus dem Boden in die Zellwände. Um herauszufinden, ob und wie die Bäume auf diese zyklischen Kräfte reagieren, müßte man sie zum Vergleich aber wohl erst in den Weltraum verfrachten, wo es keine entsprechenden Gezeiten gibt, und schauen, ob sie dort anders wachsen.

Allen Unwägbarkeiten zum Trotz ist eines sicher: Ohne den Mond gäbe es auf der Erde überhaupt kein Leben, das sich über seine Einflüsse Gedanken machen könnte. Denn nach Berechnungen des französischen Astronomen Jacques Laskar stabilisiert der Mond das Erdklima. Mit seiner bloßen Gegenwart dämpft er die Schwankungen der schräg stehenden Erdachse. Die Schiefe der Ekliptik entscheidet aber über die Verteilung der Sonnenenergie auf die Erdoberfläche. Ohne den Mond würde die Erde taumeln, die Erdachse von Null bis rund 85 Grad kippen. Im nördlichen Hochsommer zum Beispiel stünde die Sonne über dem Nordpol monatelang fast im Zenit. Ein großer Teil der Südhemisphäre bliebe im Dunkel. Polartage und Polarnächte dauerten mehrere Monate lang. Die Temperaturgegensätze würden unvorstellbare Stürme in der Atmosphäre erzeugen und sintflutartige Niederschläge auslösen.

Schon heute bekommt der Mensch die Auswirkungen relativ kleiner klimatischer Schwankungen schmerzlich zu spüren, wie die katastrophalen Überschwemmungen in China und Bangladesh im vergangenen Jahr gezeigt haben. Besonders die Bangladeshi, deren Land an der Küste über Monate hinweg zu zwei Dritteln überflutet war, blickten bei ihrem Kampf gegen das Wasser immer wieder besorgt zum Himmel: Alle vier Wochen stieg der Meeresspiegel besonders hoch, staute die Flüsse und verhinderte das Ablaufen der anhaltenden Niederschläge. Für viele der 30 Millionen Obdachlosen, denen das Wasser bis zum Hals stand, entschied der Vollmond über Leben oder Tod.

Annette Vorpahl

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