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Der Dramaturg – Christian E. Elger

Allgemein

Der Dramaturg – Christian E. Elger
Um der Hirnforschung finanziell auf die Sprünge zu helfen, scheut der Bonner Epilepsie-Experte Christian Elger vor nichts zurück. Warum soll nicht Verona Feldbusch unterm Kernspintomographen „blubb“ sagen?

Das Gebäude wirkt futuristisch: aus Zylindern und Quadern zusammengesetzt, mit viel Glas und extravaganten Mauervorsprüngen. Es könnte eine Galerie für Gegenwartskunst sein. Oder ein Wellness-Center. Ein Fernsehstudio. Oder ein modernes Theater? Nein, es ist der Neubau der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn.

Über eine geschwungene Brücke gelangt man durch eine Glastür in ein helles Foyer, von dem in allen möglichen Winkeln Gänge abgehen. Zu dumm, die Theaterkasse, pardon: der Empfang, ist heute nicht besetzt. Das Büro des Intendanten, pardon: des Klinikdirektors, ist dennoch leicht zu finden, immer geradeaus den Flur entlang. Und da kommt er auch schon herbeigeeilt, in flatterndem weißen Arztkittel, der – tatsächlich – zweireihig geknöpft ist: Prof. Christian E. Elger. Bekannt als Retter der Anfallskranken, der sehr gute Erfolge mit präzise geplanten Eingriffen ins epilepsiegeschüttelte Hirn erzielt. Neuerdings aber auch als Impresario wissenschaftlicher Großveranstaltungen, die das Hirn zum Thema und die Geldbeschaffung für die Hirnforschung zum Ziel haben. Doch jetzt muß der Professor erst einmal eine wilde Geschichte loswerden. Hat er doch letzte Woche durch die Glasfront seines Büros einen Mann beobachtet, der mit einem Computer im Arm den Weg hinter dem Klinikum entlanglief. Der Chef hinausgerannt und immer hinter dem Verdächtigen her. Er habe einen Reparaturauftrag, behauptete der Fremde. Hatte er aber gar nicht. Wollte den Rechner einfach stehlen. „So etwas Dreistes“ , erregt sich Elger und kann sich kaum beruhigen.

Keine Frage: Der Chef hat etwas Theatralisches, und der Körper ist mindestens so beweglich wie der Geist. Nur die Glatze verleiht dem 51jährigen eine ernste Würde. Die braucht er auch. Denn er muß mit seinen Patienten Fragen entscheiden, die tief ins Leben eingreifen. Zum Beispiel: Soll ein anfallskranker Landwirt am Hirn operiert werden, obwohl seine Aussichten, dadurch geheilt zu werden, nur bei 30 Prozent liegen? Elger geht in so einem Fall das Wagnis ein, denn dem Mann helfen Medikamente nicht. Und wenn er draußen auf dem Feld einen Krampfanfall bekommt, ist niemand da, der ihn rechtzeitig vom Traktor holt.

Die Epilepsie, die schon in biblischer Zeit beschriebene „ Fallsucht“, ist nicht vom Erdboden verschwunden. An ihr leiden ein Prozent aller Menschen rund um den Globus, Menschen jeden Alters und jeder Profession. Sie kann sich bei einem Baby in Zuckungen äußern, bei einem Jugendlichen in sekundenlangem „ Weggetretensein“. Sie kann einen Erwachsenen gleich nach dem Aufwachen zu Boden strecken.

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Epilepsie kann die verschiedensten Ursachen haben: Eine Störung der Hirnentwicklung, eine Hirnverletzung durch einen Unfall oder ein Tumor können bewirken, daß sich im Gehirn ein Herd bildet, von dem Anfälle ausgehen. Hinzu kommt meist eine angeborene Anfallsbereitschaft. Neurophysiologisch ist der epileptische Anfall gut verstanden. Es handelt sich laut Elgers Mitarbeiter Dr. Jörg Wellmer um eine „pathologische Synchronisation großer Nervenverbände“: Nerven feuern heftig im gleichen Takt, statt fein dosiert Reize zu leiten oder Muskeln anzuregen.

Christian Elger findet die Epilepsie schon seit langem interessant. Jedenfalls seit er sich entschieden hat, Mediziner zu werden. Der Sohn eines Bankdirektors und einer Zahnmedizinerin konnte sich nach seinem Abitur im Jahre 1968 allerdings auch etwas ganz anderes vorstellen: ans Theater zu gehen. Am liebsten als Regisseur. „Dinge überpointiert darzustellen, Charaktere herauszuarbeiten“, das habe ihm schon immer Spaß gemacht, sagt der wortgewaltige Mediziner. Man glaubt es ihm. Er machte sogar ein Praktikum bei Regisseur Peter Palitzsch in Stuttgart.

Bis Elgers Mutter in die Karriereplanung ihres Sohnes eingriff: „Mach wenigstens auch ein Praktikum an einem Krankenhaus!“ Der Sohn gehorchte. Er wählte dafür eine neurochirurgische Abteilung aus, fing Feuer und studierte dann – nach einem Numerus-clausus-bedingten Biologie-Semester in Tübingen – in Münster Medizin mit Schwerpunkt Neurophysiologie, promovierte 1978 und habilitierte vier Jahre später. In Münster stieß er auch auf das Drehbuch für seine weitere Lebensplanung: das Buch von Wilder Penfield und Herbert Jasper „Epilepsy and the Functional Anatomy of the Human Brain“, geschrieben 1954. Ein „ wahrhaft genialer Mann“ sei dieser Penfield gewesen, schon damals habe er ganze „Landkarten des menschlichen Gehirns“ aufgezeichnet. Und gleich steht Elger vor dem wohlsortierten Designer-Schrank, sucht, findet und präsentiert stolz das für ihn so wertvolle Buch. Zunächst blieb es allerdings Theorie für ihn. Denn: „Epilepsie-Chirurgie, wie sie in den USA praktiziert wurde, gab es zu meiner Ausbildungszeit als Neurologe in Deutschland gar nicht.“ Nach den verbrecherischen Menschenexperimenten von Nazi-Ärzten scheute man in Deutschland vor direkten Eingriffen ins menschliche Denkorgan zurück.

Doch Christian Elger, viel zu neugierig, viel zu enthusiastisch, um sich von Skrupeln dauerhaft bremsen zu lassen, sorgte dafür, daß sich das änderte. Schon von Münster aus, wo er 1985 Oberarzt für Neurologie wurde, schickte er erste Patienten zur Operation in die USA. Und von 1987 an baute er – auf einer eigens für ihn geschaffenen C3-Professur für Epileptologie in Bonn – ein Team auf, in dem auch operiert und geforscht wird. Wobei er klarstellt: „Ich habe selbst nie chirurgisch gearbeitet. Ich konzentriere mich auf die Abklärung vor der Operation.“ Und fügt hinzu: „Aber hier ich bin die treibende Kraft.“

Die Rolle macht ihm keiner streitig. „Einen hochkarätigen, originell denkenden Wissenschaftler“, nennen ihn Kollegen. Einen „ Mann mit guten Verbindungen“ obendrein. Prof. Christian Elger, seit 1990 C4-Professor und Klinikdirektor, habe ein goldenes Händchen dafür, wissenschaftliche Talente zu entdecken und zu einem interdisziplinären Team zusammenzufügen. Und tatsächlich: Bei ihm arbeiten Radiologen, Genetiker, Physiologen, Physiker, Psychologen, Pharmakologen und Kinderärzte Hand in Hand. Ganz wie die Schauspieler, Dramaturgen, Beleuchter und Kartenabreißer in einem gut funktionierenden Theater. Dabei achtet der Direktor offensichtlich auch auf menschliche Qualitäten: Der junge Mann, der ihm bei der immer wichtiger werdenden Öffentlichkeitsarbeit hilft, Christian Hoppe, hat außer Psychologie auch noch Theologie studiert und ist die Freundlichkeit in Person.

„Unsere Physiker sind sehr bescheiden, aber sie sind hier die eigentlichen Stars“, verrät Hoppe, bevor wir den Computerraum im Keller betreten. Was tun die bescheidenen Menschen, die hier so beengt vor ihren Bildschirmen hocken? Sie analysieren EEG-Daten mit Algorithmen aus der Chaostheorie. „Nicht etwa, weil im Gehirn Chaos herrscht, wenn ein epileptischer Anfall losgeht“, erklärt Ralph Andrzejak. Im Gegenteil: Durch das synchrone Schwingen reduziert sich die Komplexität, und zwar zunächst in einem kleinen Areal. „Und das kann man mit unseren Methoden detektieren.“

Bereits 20 Minuten vor dem Anfall ist ein Signal zu sehen – ideal für ein Vorwarnsystem, das vielen Epilepsie-Patienten helfen könnte. Dazu braucht man implantierbare Elektroden – die gibt es schon. Außerdem braucht man einen Chip, der die Datenmengen, die zur Zeit auf 32 miteinander verschalteten PCs analysiert werden, auf fingernagelkleinem Raum berechnet. Und, falls Christian Hoppe nicht übertreibt, ist dieser Chip auf dem besten Wege!

Auch in den Augen von Dr. Jörg Wellmer lodert Forscherehrgeiz. Der Neurophysiologe forscht an operationsfrischen Schnittpräparaten des menschlichen Hippocampus. Dieser Hirnteil ist bei manchen Epileptikern so zerstört, daß er entfernt werden muß. 12 bis 14 Stunden hat der Physiologe Zeit, um aus einzelnen Nerven elektrische Signale abzuleiten, dann stirbt das Gewebe. Wellmer hat in einer Region zwischen dem Hippocampus und der Schläfe interessante Zellen entdeckt: Statt eines einzelnen Nervensignals feuern sie ganze Salven ab, wenn Wellmer sie künstlich reizt. Entzieht man ihnen Calcium, hören sie mit dem Trommelfeuer auf. Der Physiologe schließt daraus, daß bestimmte Ionenkanäle in der Zellmembran nicht so funktionieren wie sie sollten. Sogar den Kanaltyp („es sind vermutlich zwei von sieben“ ) kann er bestimmen. „Noch diese Woche kann ich es beweisen“, beteuert Wellmer. Und dann wäre wieder ein Stückchen mehr über die Entstehung der Epilepsie bekannt.

Am menschlichen Hirn zu forschen, ist schon etwas Besonderes – Privileg und Tabu zugleich. Wellmer und Kollegen spüren manchmal ein „seltsames Gefühl“, wenn sie ein Gewebe unterm Mikroskop haben, „durch das gerade noch ein Gedanke durchgegangen ist.“ Und auch Prof. Elger muß sich oft ethisch rechtfertigen. Schließlich forscht er an Menschen, an Epilepsiepatienten. Dazu noch an Fragen, die gar nichts mit der Krankheit zu tun haben, sondern reine Grundlagenforschung sind: Wie funktioniert das Gedächtnis? Wie werden Wörter gelernt?

„Ich hätte viel größere Probleme damit, an Menschenaffen zu forschen“, sagt der Mediziner. „Meine Patienten kann ich fragen, ob sie mitmachen wollen oder nicht. Und in der Regel sagen sie ja. Denn während sie hier in der Klinik auf ihren nächsten Anfall warten, ist ihnen ohnehin langweilig. Aber so ein Affe – der schaut dich nur traurig an.“

Es ist schon faszinierend, was Elgers EEG-Spezialisten mit Hilfe der tiefen Hirnelektroden, die ihre Patienten tragen, über deren Innenleben erfahren: So scheint es im Mandelkern, dem beim Hippocampus gelegenen Emotionszentrum, Nerven zu geben, die besonders heftig feuern, wenn einem Mann eine Frau beziehungsweise einer Frau ein Mann direkt in die Augen schaut. „ Casablanca-Effekt“ haben die Entdecker das Phänomen getauft. Und, fast nicht zu glauben, andere Neurone des Menschen reagieren nur auf Menschenaffen-Gesichter. „Ein Relikt aus unserer Vergangenheit“, glaubt Elger. Der Beweis, daß der Mensch vom Affen abstammt? Da schmunzelt der Professor vergnügt.

Für ihn, den Bonner Neurologen, ist es überhaupt keine Frage, daß das menschliche Gehirn der faszinierendste Forschungsgegenstand überhaupt ist. Und der nützlichste obendrein. Was ihn manchmal schmerzt, ist, daß der Rest der Welt das nicht genauso sieht. Und am allermeisten schmerzt ihn, daß zu wenig Geld da ist, um all den spannenden Fragen nachzugehen, die man mit den modernen Methoden wie dem EEG und dem Kernspintomographen beantworten könnte.

Gerade hat Elger einen Antrag für die finanzielle Förderung eines neuen Sonderforschungsbereichs fertiggestellt. Er wuchtet das backsteinartige Gebilde auf den Designertisch. Das 568-Seiten-Werk ist sicher nicht Elgers originellste Veröffentlichung, dafür ist es zweisprachig: deutsch und englisch. „Damit es auch die ausländischen Gutachter lesen können.“ Wieviel kostbare Zeit damit draufgeht, solche Anträge zu schreiben! Und wieviel Zeit, die Anträge zu prüfen! Es muß schnellere und effektivere Wege geben, Geld für die Hirnforschung aufzutreiben, hat sich Christian Elger gesagt. Und sich in den USA umgeschaut, in Israel und anderen glücklichen Nationen, in denen es eine Kultur des privaten Wissenschafts-Sponsorings gibt. Ein einziges Industriellen-Ehepaar aus den USA hat allein 350 Millionen US-Dollar für die Hirnforschung gespendet! Da kann man als deutscher Professor schon neidisch werden.

„Ich würde meine Klinik ja Müllermilch-Klinik nennen“, seufzt Elger. „Ich würde mit dem Mercedesstern auf dem Rücken rumlaufen, wenn mir DaimlerChrysler zwei Assistentenstellen finanziert.“ Und wo er schon mal dabei ist, sprudelt er weitere Ideen heraus: Warum kann die FAZ nicht mit Bert Sakmann werben? Prof. Sakmann ist Hirnforscher und Nobelpreisträger und mit Sicherheit ein kluger Kopf. Warum kann sich Verona Feldbusch nicht unter den Kernspintomographen legen, dort charmant „blubb“ sagen und für Spinat und die Hirnforschung gleichzeitig Reklame machen? Immerhin: Einiges hat er ja schon erreicht, der Professor mit Bühnenerfahrung. Im Jahr 2000 hat er zusammen mit sieben hochrangigen deutschen Kollegen das „Jahrzehnt des menschlichen Gehirns“ ausgerufen. Es soll sich nahtlos an die erfolgreiche amerikanische „Decade of the Brain“ anschließen.

Zum Auftaktkongreß im April 2000 auf dem Petersberg bei Bonn strömten Wissenschaftler und Laien. Und alle schwärmten hinterher, wie toll es war: Alle Grundsatzfragen des menschlichen Gehirns wurden behandelt. Von den besten Fachleuten! Und das Rahmenprogramm – vom Feinsten! Ein hirnförmiges Auto wurde versteigert, hirnförmiges Weingummi wurde verteilt. Ein Verein wurde gegründet, der fleißig Kleinspenden sammelt. Aber das ganz große Geld ist leider noch nicht eingetroffen.

Vielleicht ist Elger auch zu ungeduldig? „Seine Hingabe an selbstgesteckte Ziele ist schon beeindruckend“, sagt sein Kollege und Mitstreiter bei der Initiative, Prof. Gerhard Roth, Verhaltensphysiologie und Hirnforscher an der Universität Bremen. „Aber seine Erwartungen sind oft sehr hoch, höher als bei anderen.“ Roth erinnert sich an einen gemeinsamen Auftritt an der Universität Bonn. Der große Raum sei gut gefüllt gewesen. „Ich fand das sehr erfreulich. Aber Herr Elger schien etwas enttäuscht darüber, daß der Saal nicht vor Menschen überbordete.“ Vielleicht müsse er doch noch Gerhard Schröder einspannen, überlegt Christian Elger. Das wäre doch eine schöne Rolle für den Kanzler in der anbrechenden Wissensgesellschaft, als Schirmherr eines ehrgeizigen nationalen Projekts aufzutreten: Das Volk der Dichter und Denker erforscht das Organ, wo es dichtet und denkt. Und er selbst? Prof. Elger würde gerne mal zu Christiansen eingeladen werden. Oder noch besser: seine eigene Wissenschafts-Show im Fernsehen moderieren. „Faszinosum Gehirn“ soll sie heißen. „Das würde ein Straßenfeger werden!“ Ganz bestimmt.

Kompakt 1949: Christian Erich Elger wird in Augsburg geboren, Vater Bankdirektor, Mutter Zahnmedizinerin 1968: Abitur und Theaterpraktikum in Stuttgart ab 1969: Studium der Humanmedizin in Münster 1987: Professor für Epileptologie in Bonn 1990: Direktor der Universitätsklinik für Epileptologie in Bonn 2000: Elger ruft zusammen mit sieben hochrangigen Neurowissenschaftlern, darunter der Nobelpreisträger Bert Sakmann aus Heidelberg, das „Jahrzehnt des menschlichen Gehirns“ aus. Größter Wunsch: Vermögende Privatleute und Sponsoren aus der Wirtschaft begreifen die Hirnforschung als Investition in die Zukunft – und spenden. Hobby: als Pilot Hubschrauber fliegen

Judith Rauch

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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♦ Mi|kro|herd  〈m. 1; kurz für〉 Mikrowellenherd

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