Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Kaputte Kinderwelt

Allgemein

Kaputte Kinderwelt
Die aktuelle deutsche Forschung zeigt: Wenn Eltern sich ständig streiten, ist eine Scheidung für Kinder die beste Lösung.

Monique ist ein fröhliches, stets gut gelauntes elfjähriges Mädchen – jedenfalls auf den ersten Blick. Daß sie oft weint, sieht nur Meerschweinchen Meggy. Monique vermißt ihren Papa und die „heile Welt“, die es für sie bis vor einem Jahr noch gab. Die zerbrach, als der Vater die gemeinsame Wohnung, Frau und Kind verließ, um ohne sie ein neues Leben anzufangen. Monique ist ein Scheidungskind und mit ihrem Schicksal keinesfalls allein. Der Bund fürs Leben erfreut sich in Deutschland zwar wieder zunehmender Beliebtheit, aber fürs Leben ist der Partner in vielen Fällen eben doch nicht. Das Versprechen vor dem Traualtar „ bis der Tod uns scheide“ wird mit zunehmender Tendenz gebrochen. Nahezu jede dritte Ehe geht hierzulande inzwischen in die Brüche.

Leidtragende sind die Kinder und Jugendlichen: 143728 minderjährige „Scheidungswaisen“ kamen laut Statistischem Bundesamt 1999 hinzu. Sie teilen Moniques Schicksal, wachsen meist bei der Mutter auf und sehen den Papa nur noch besuchsweise – mehr oder weniger regelmäßig. Nicht nur die kindliche Gefühlswelt gerät in dieser Situation in Aufruhr, ihr Lebensalltag wird radikal auf den Kopf gestellt: Sie sind häufiger allein zu Hause, manchmal müssen sie sogar umziehen, die Schule wechseln und neue Freunde finden. Sie müssen sich an neue Partner von Mama und Papa gewöhnen, mitunter mehr als einmal.

Daß Scheidungswaisen später selber häufiger Probleme in ihren Beziehungen haben, ist ein weit verbreitetes Klischee – nicht ohne einen Funken Wahrheit, wie Dr. Heike Diefenbach mit ihrer Dissertation belegt. Die Leipziger Soziologin wertete Tausende von Daten der „Mannheimer Scheidungsstudie“ aus, der bislang umfangreichsten Untersuchung auf dem Gebiet der Scheidungsforschung in Deutschland. Sie spürte den Lebensläufen von 4746 verheirateten und geschiedenen Frauen und Männern nach, die zu ihrer Kindheit, ihren vorehelichen Beziehungen, ihrer Religiosität und zu ihrer ersten Ehe befragt wurden. Ergebnis: Zwar sind viele Kinder geschiedener Eltern glücklich verheiratet und durch nichts auseinander zu bringen. Aber: Ehen von Scheidungskindern werden anderthalbmal häufiger geschieden als die von Kindern aus harmonischen Familien. Haben beide Partner geschiedene Eltern, ist die Scheidungsrate gar zweieinhalbmal höher.

Diefenbach erklärt die „Vererbung“ der Scheidungswahrscheinlichkeit oder soziologisch „ intergenerationale Scheidungstransmission“ so: Scheidungskinder verhalten sich in ihren eigenen Ehen anders als Kinder aus intakten Familien. Sie gehen leichtfertiger eine Beziehung ein, wechseln vor der Ehe häufiger ihre Partner, heiraten jünger, haben weniger gemeinsame Kinder und bauen seltener mit ihrem Partner ein Häuschen. „Sie investieren nicht sehr viel in ihre Ehe, weil dann weniger auf dem Spiel steht, wenn sie schiefgeht, eine Art Rückversicherung also“, hat die Scheidungsforscherin bei der Datensichtung registriert. Daneben hält die Sozialwissenschaftlerin ein weiteres Erklärungsmodell für wahrscheinlich: Eltern sind Vorbilder. Bewußt oder unbewußt – Kinder eifern ihnen nach und übernehmen deren Verhalten in Liebe und Partnerschaft.

Anzeige

Ein erhöhtes Scheidungsrisiko stellte Soziologin Heike Diefenbach auch bei Kindern fest, deren Eltern sich zwar nicht getrennt, aber eine schlechte Ehe geführt haben, weil ständig der Haussegen schief hing. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende: Schon seit langem proklamieren amerikanische Psychologen, daß eine Atmosphäre fortdauernder Streitigkeiten zwischen den Eltern für die Entwicklung des Kindes schädlicher ist als der Gang zum Scheidungsrichter – allerdings nur in stark konfliktträchtigen Ehen. Wer sich trennt, ohne daß vorher die Fetzen flogen, schadet seinem Nachwuchs enorm. Die Befunde von Paul R. Amato, Psychologieprofessor an der Universität von Pennsylvania, belegen: Scheidungskinder aus nahezu streitlosen Ehen leiden am stärksten unter der Trennung von Mutter und Vater.

Diese Befunde aus den USA scheinen sich auch in Deutschland zu bestätigen. Psychologen aus München und Jena erforschen in einer großangelegten Studie seit 1996 die Sozialisation in unterschiedlichen Familientypen. Harmonische und konfliktreiche Familien mit beiden leiblichen Elternteilen werden ebenso wissenschaftlich akribisch unter die Lupe genommen wie solche mit Stiefvater oder mit alleinerziehender Mutter. In rund 600 dieser west- und ostdeutschen Familien mit Kindern zwischen 10 und 18 Jahren gehen die Psychologen regelmäßig auf Spurensuche. Entwicklung und Wohlbefinden wollen sie mit Fragebogen und persönlichem Gespräch über mehrere Jahre beobachten. Ein erstes Zwischenergebnis haben die Wissenschaftler bereits: Stets den streitenden Eltern zuzuschauen, wie sie sich Schimpfwörter an den Kopf knallen, mit Schuhen, Tassen oder Tellern nacheinander werfen oder sich gar blaue Augen schlagen – solch ständiger Zwist im Elternhaus ist für Kinder schwieriger zu verarbeiten als eine Trennung oder das Aufwachsen bei der alleinerziehenden Mutter.

Die Kinder selbst klagen immer wieder darüber, daß die Streitigkeiten der Eltern auf Dauer für sie unerträglich sind und denken über Konsequenzen nach: „Bums! Die Tür war zu. Schon wieder hatte es Streit gegeben und das schon am Morgen. Warum können sie nicht einmal friedlich miteinander sein?“, schreibt die elfjährige Lena in ihr Tagebuch, dem sie ihren Seelenkummer über die schlimme Stimmung zu Hause anvertraut. „Wie soll das weitergehen? Ich glaube, ich halte das bald nicht mehr aus. Wäre es vielleicht nicht doch besser, wenn unsere Eltern sich trennen oder scheiden lassen würden?“ Die Aktion „Hört auf die Kinder und laßt sie mitreden“ hat Schicksale wie das der kleinen Lena gesammelt und die Aufsätze, Briefe sowie Tagebuchnotizen unter dem Titel „Kindertränen“ im Internet veröffentlicht (siehe „ bdw-community“ rechts).

Aber nicht jede Art von Streit zwischen Mutter und Vater ist Gift für die Entwicklung der Sprößlinge. Manche Konflikte sind sogar notwendig, damit Kinder lernen, wie sie gelöst und wie Kompromisse gefunden werden können. „Nur wenn das zum Dauertenor in der Familie wird und versöhnliche Phasen ausbleiben, wirkt sich das belastend auf die kindliche Psyche aus“, sagt Dr. Sabine Walper, Psychologin von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. „Dann ist ihre Nestsicherheit akut in Gefahr, ihre Welt bröckelt und es fällt ihnen zunehmend schwerer, sich zu orientieren.“

Nicht nur der Streit zwischen Mama und Papa belastet die Kinder. Durch die Konflikte leidet in der Regel auch das Erziehungsverhalten der Eltern. Sie sind sehr angespannt, gereizt, häufig schlecht gelaunt und nicht offen für die Nöte ihrer Kinder. „Unglückliche Eltern sind selten gute Eltern“, meint Psychologin Walper. Richtig schlechte Eltern sind sie dann, wenn sie versuchen, die Kinder auf ihre Seite zu ziehen und sie gegen den Partner aufzubringen. Das stürzt Töchter und Söhne in schwere Loyalitätskonflikte und „fast immer geht die Botschaft nach hinten los“, sagt die Münchner Familienpsychologin. Der Elternteil, der zerrt, so ihre Erfahrung mit Trennungs- und Konfliktfamilien, bekommt die Rechnung dafür und steht am Ende selber alleine da. Besonders schlimm leiden Kinder, wenn beide Elternteile sie in eine Allianz einbinden wollen. Dann nämlich ziehen sie sich ganz in ihr Schneckenhaus zurück und distanzieren sich von Mutter und Vater.

Dabei ist es enorm wichtig, daß Kinder sich ihre Probleme von der Seele reden, statt sie in sich hineinzufressen und womöglich von Schuldgefühlen geplagt zu werden. Vor allem kleine Kinder bis zum vierten Lebensjahr geben sich ganz intuitiv die Schuld, wenn Papa und Mama streiten. „Sie sehen die Welt mit egozentrischen Augen“, erklärt Peter Noack, Professor für Pädagogische Psycholo- gie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. „Alles, was um sie herum geschieht, beziehen sie auf sich. Auch die Auseinandersetzungen der geliebten Eltern.“ In ihrem Kummer senden die Kinder verschlüsselte Signale aus. Je intensiver sie die Konflikte erleben, desto wahrscheinlicher sind körperliche und psychosomatische Reaktionen wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Sie reagieren mit depressiven Verstimmungen, kauen an den Fingernägeln, werden wieder zu Bettnässern, neigen zu Wutanfällen, sind ängstlich oder haben das Gefühl, ein Versager zu sein, nicht selten verstärkt durch schlechtere Noten in der Schule.

Damit nicht genug: Den Wissenschaftlern aus München und Jena ist bei der Auswertung ihrer Studie aufgefallen, daß dauerhaft dicke Luft im Elternhaus zu Problemen im Umgang mit Gleichaltrigen führen kann. „Mädchen und Jungen aus konfliktreichen Familien sind oftmals nicht so beliebt bei ihren Altersgenossen“, hat Familienforscher Noack beobachtet. „Geprägt durch ihr zerstrittenes familiäres Umfeld haben sie eine pessimistische Weltsicht und treten ihren Schulkameraden nicht sonderlich offen, fröhlich und unbeschwert gegenüber.“ Schaden nimmt nicht nur das Verhältnis zu ihren Altersgenossen. Auch die Qualität der Beziehung zu den Eltern leidet, wenn die heimische Atmosphäre durch Dauerstreß und anhaltend miese Laune gestört ist. Die normalisiert sich meist erst dann, wenn einer der beiden Elternteile auszieht. Viele Probleme von Scheidungswaisen, so der einhellige Befund der Wissenschaftler, resultieren nicht aus der Trennung der Eltern, sondern aus deren zerstörerischen Streitigkeiten.

Gegenüber Scheidungskindern haben Mädchen und Jungen aus zerrütteten, jedoch „äußerlich intakten“ Familien einen entscheidenden Nachteil: Sie werden als Risikogruppe weitaus seltener erkannt. Hilfe von Außenstehenden bleibt ihnen fast immer versagt, weil ihr Leid weniger sichtbar ist als das von Scheidungskindern. Monique hat Hilfe bekommen. Kurz nachdem der Papa ausgezogen war, ist die Elfjährige in eine Scheidungskindergruppe gegangen, vier Monate einmal wöchentlich. Beide Eltern mußten sich damit einverstanden erklären, daß Monique die Gruppe besucht. Denn das zeigt den Kindern, „daß beide, Mama und Papa, auch künftig am Wohlbefinden ihres Kindes interessiert sind“, sagt Robert Hagen, Pädagoge und Familientherapeut bei der Caritas in Berlin. „Kleine Dinge haben in dieser Situation schon eine hohe emotionale Aussagekraft.“

Bastelarbeiten, Rollenspiele und viele Gespräche helfen den Kindern, ihre vielfältigen Gefühle – Scham, Wut, Trauer, Angst – auszusprechen. In der Gruppe hat Monique erfahren, daß ihr Schicksal kein Tabu und nichts Außergewöhnliches ist, sondern daß sie darüber reden kann. Und sie hat gelernt, daß es gar nicht schlimm ist, ab und an zu weinen.

Kompakt Ständig streitende Eltern sind für Kinder schwerer zu ertragen als eine Scheidung. Scheidungskinder aus nahezu streitlosen Ehen leiden am stärksten unter der Trennung der Eltern. Kinder aus zerstrittenen Familien entwickeln sich häufig zu Pessimisten, die bei ihren Altersgenossen wenig beliebt sind.

Bdw community Lesen Sabine Walper, Beate Schwarz (Hrsg.) WAS WIRD AUS DEN KINDERN? Chancen und Risiken für die Entwicklung von Kindern aus Trennungs- und Konfliktfamilien Juventa 1999, DM 39,80

Heike Diefenbach GESCHICHTE WIEDERHOLT SICH NICHT!? Der Zusammenhang von Ehescheidung in der Eltern- und Kindergeneration in: Thomas Klein, Johannes Kopp (Hrsg.) SCHEIDUNGSURSACHEN AUS SOZIOLOGISCHER SICHT Ergon 1999, DM 58,–

Heike Diefenbach INTERGENERATIONALE SCHEIDUNGSTRANSMISSION IN DEUTSCHLAND Die Suche nach dem „missing link“ zwischen Ehescheidung in der Elterngeneration und Ehescheidung in der Kindgeneration Ergon 2000, DM 54,–

Helmuth Figdor SCHEIDUNGSKINDER – WEGE DER HILFE Psychosozial-Verlag 1998 DM 38,–

INTERNET Beschreibung des Projekts „Familienentwicklung nach Trennung der Eltern“ bei der Universität München a href“http://www.paed.uni-muenchen.de/~ppd/index.html

Informationen zum selben Projekt bei der Universität Jena (unter Forschung) http://www.uni-jena.de/svw/padpsy

Homepage von Dr. Heike Diefenbach an der Universität Leipzig mit ausführlichen Literaturhinweisen zu weiteren Scheidungsstudien http://www.uni-leipzig.de/~sozio/mitarbeiter/dr.diefenbach.html

Kindertränen-Aufsätze http://software.alpenland.com (als zip-Datei zum Herunterladen) oder http://www.pappa.com/kinder/kindbrf.htm (zur Direktansicht)

Kathryn Kortmann

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Zwit|ter|ion  〈n. 27; Chem.〉 Verbindung, die im gleichen Molekül eine Gruppe mit positiver u. eine mit negativer Ladung trägt

Ge|schichts|be|wusst|sein  〈n.; –s; unz.〉 Bewusstsein dessen, dass jedes Lebewesen in den geschichtlichen Ablauf eingebunden u. durch ihn geprägt ist

Ki|na|se  〈f. 19; Biochem.〉 Enzym, das Phosphat überträgt, z. B. Hexokinase [<grch. kinein … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige