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Gnadenlose Schlaf-Attacken

Allgemein

Gnadenlose Schlaf-Attacken
Narkolepsie lässt die Erkrankten mitten am Tag einschlafen. Die Ursache sind fehlende Nervenzellen –der Körper selbst scheint sie zu zerstören.

Ein junger Mann steht einsam am Rand einer endlosen Landstraße und wartet auf einen Wagen, der ihn mitnimmt. Plötzlich torkelt er, fällt um, liegt ruhig auf dem Asphalt – und schläft. Der junge Mann heißt Mike Waters, er leidet an Narkolepsie. Was in dem Film „My own private Idaho“ von River Phoenix in der Rolle des Mike Waters eindrucksvoll dargestellt wird, ist für viele Betroffene bitterer Alltag. So fiel Hannelore Ninnemann-Laabs aus Hannover in der Schule oft in Ohnmacht – einfach so. Ständig war sie müde und fühlte sich schlapp, zu vielem musste sie sich zwingen. Damals hieß es, schuld sei ihr niedriger Blutdruck. Durch einen Zeitungsartikel wurde sie auf die wahre Ursache aufmerksam. In einem Schlaflabor bestätigten Ärzte die Diagnose: Narkolepsie.

Neue Studien besagen, dass 5 bis 10 von 10000 Menschen in Deutschland an dieser mysteriösen Erkrankung leiden. Charakteristisch für Narkolepsie ist die übermäßige Tagesschläfrigkeit, die den Patienten zu den unpassendsten Zeiten überkommt, meist in monotonen Situationen. Ein Narkolepsie-Patient fühlt sich ständig müde – im Extremfall wie ein gesunder Mensch, der seit 48 Stunden nicht geschlafen hat. Die Krankheit beeinträchtigt die Lebenserwartung nicht, allerdings bleibt sie ein Leben lang bestehen. Bisher war wenig über die Ursachen von Narkolepsie bekannt. Sicher waren sich Wissenschaftler nur darin, dass der Schlaf-Wach-Rhythmus der Patienten gestört ist. Der Hypothalamus, ein Teil des Gehirns und der „hirneigene Chef“ für den Hormonbereich, schien dafür verantwortlich zu sein. Denn er steuert nicht nur die Nahrungs- und Wasseraufnahme, sondern auch die Körpertemperatur, die Sexualität – und den Schlaf.

Verdächtig wurde der Hypothalamus erstmals 1998, als Forscher zwei neue Hormone entdeckten: Hypocretin-1 und Hypocretin-2. Diese Hormone, die das Gehirn selbst erzeugt, spielen bei der Regulierung von Schlafen und Wachen eine entscheidende Rolle. So haben die Hypocretin produzierenden Nervenzellen Kontakt zu Hirnzellen, die für den Wachzustand verantwortlich sind. 2000 stellte Dr. Thomas Pollmächer vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München fest, dass bei Narkolepsie-Patienten der Gehalt von Hypocretin im Blut zwar normal, in der Gehirn- und Rückenmarkflüssigkeit aber sehr niedrig ist. Diese Befunde zeigen, dass Hypocretin auch außerhalb des Gehirns gebildet wird, aber von dort nicht ins Gehirn gelangt. „Also löst wahrscheinlich bei den meisten Patienten ein Ausfall der Hypocretin-Produktion im Hypothalamus die Krankheit aus“, sagt Pollmächer. „Bis vor kurzem war allerdings unklar, ob die Nervenzellen, die das Hormon produzieren, zugrunde gehen oder ob sie die Produktion einfach einstellen.“

Mit Hightech-Methoden hat Dr. Arne May von der neurologischen Klinik der Universität Regensburg diese Frage geklärt. „Bislang konnten wir bei lebenden Menschen nicht einfach im Gehirn ‚ nachsehen‘, ob Nervenzellen fehlen, sondern nur bei Toten.“ Das hat sich nun geändert: Zusammen mit einer interdisziplinären Forschergruppe aus Neurologen, Psychiatern und Psychotherapeuten verglich May mit einem neuen bildgebenden Verfahren die Gehirne von 29 Narkolepsie-Patienten mit denen gesunder Menschen. Die „ Voxel basierte Morphometrie“ (siehe Kasten „Das Gehirn unter der Lupe“) bietet einen dreidimensionalen Blick ins Gehirn, mit bislang unerreichter Detailgenauigkeit. Bei diesem Verfahren wird der Patient in einen Magnetresonanztomographen geschoben. Dort werden Schnittbilder des Gehirns erstellt, die die Forscher im Computer auf winzige Veränderungen analysieren. Mit Hilfe der neuen Methode entdeckte May, dass im Hypothalamus der Narkolepsie-Kranken deutlich weniger Nervenzellen vorhanden sind.

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„Verantwortlich für diesen Mangel ist wahrscheinlich das Immunsystem der Patienten“, sagt Dr. Josef Wirth, Internist und Schlafmediziner im Stadtkrankenhaus Alfeld, „insbesondere das HLA-System.“ HLA (Human Leukocyte Antigene) sind Eiweiße, die auf der Oberfläche von weißen Blutzellen – den Leukozyten – sitzen und die Immunabwehr des Organismus regulieren. Von ihnen gibt es verschiedene Typen. 99,5 Prozent der an Narkolepsie erkrankten Menschen besitzen einen ganz bestimmten HLA-Typ, im Laborjargon HLA-DR2 genannt. Wirths Hypothese: HLA-DR2 ist an einer verhängnisvollen Fehlsteuerung des Immunsystems beteiligt, an einer so genannten Autoimmunreaktion. Aus noch ungeklärtem Grund greift das Abwehrsystem des menschlichen Körpers anstelle krankheitsverursachender Keime das eigene Gewebe an – bei Narkolepsie-Patienten die Hypocretin produzierenden Nervenzellen im Hypothalamus.

HLA-DR2 ist aber nicht der einzig Verantwortliche, denn ein Drittel aller Menschen haben diesen HLA-Typ – und nur wenige von ihnen bekommen Narkolepsie. Jetzt suchen die Forscher nach weiteren Schuldigen.

Immerhin lässt sich HLA bereits zur Diagnose einsetzen: Leidet ein Mensch an Schlafstörungen und besitzt er kein HLA-DR2, dann hat er aller Wahrscheinlichkeit nach keine Narkolepsie, sondern eine andere Krankheit. „Um auf HLA zu testen, nehmen wir einen Abstrich von der Mundschleimhaut oder machen eine Blutuntersuchung“, sagt Wirth.

Bisher war der Nachweis von Narkolepsie nur in Schlaflaboren möglich. „Der Schlafverlauf ist bei Narkolepsie-Kranken ganz typisch: Sie fallen bei ihren Tagesschlafanfällen sofort in die Traumphase“, berichtet Dr. Karin Gronke vom Schlaflabor des Fachkrankenhauses Coswig. „Sie durchleben nicht die einzelnen Schlafphasen, die ein gesunder Mensch vorher durchmacht, beispielsweise die Tiefschlafphase.“

Narkolepsie prägt den Alltag der Erkrankten ganz entscheidend. Fachärzte gehen davon aus, dass Narkolepsie-Patienten tagsüber rund zwei Stunden schlafen müssen, um ihren Tag zwar müde, aber normal leben zu können. „Wenn ich morgens aufstehe, frühstücke und den Haushalt erledige“, berichtet Christine Lichtenberg von der Deutschen Narkolepsie-Gesellschaft (DNG), Landesverband Baden-Württemberg, „muss ich mich gegen 11 Uhr erst einmal hinlegen und um 15 Uhr erneut. Insgesamt schlafe ich am Tag eineinhalb bis zwei Stunden. Andere Betroffene müssen öfter, aber dafür kürzere Pausen einlegen.“ Christine Lichtenberg bekam die Diagnose Narkolepsie in ihrem 40. Lebensjahr. „Rückblickend“, sagt sie „fiel mir die Krankheit mit 15 Jahren das erste Mal auf, als ich in der Schule wiederholt einschlief.“

Eines der größten Hindernisse, mit denen Narkolepsie-Patienten leben müssen, ist das fehlende Verständnis in der Familie und vor allem am Arbeitsplatz. „Gerade Berufstätige müssen sich oft Desinteresse oder Faulheit bei der Arbeit vorwerfen lassen, wenn die Tagesschläfrigkeit wieder einmal über sie kommt“, weiß sie aus eigener Erfahrung. In der Regel ist das erste Auftreten von Narkolepsie, wie bei Christine Lichtenberg, eher harmlos: Müdigkeitsphasen in Situationen, in denen auch der Gesunde leicht einnickt, wie vor dem Fernseher oder in der Schule. Erkannt wird die Krankheit dabei selten. „Narkolepsiekranke Kinder hält man oft für unbeholfen und tolpatschig“, berichtet Schlafforscher Wirth aus seiner Praxis. So fielen ihm am Körper eines fünfjährigen Kindes viele blaue Flecken auf. Im Gespräch mit der Mutter stellte sich heraus, dass das Kind oft grundlos hinfiel und sich dabei verletzte. Ein anderer 12-jähriger Junge schlief ständig während des Essens ein. Die Diagnose bei beiden Kindern: Narkolepsie.

Klaus Schöffler

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