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„So real wie Stühle und Steine“

Allgemein

„So real wie Stühle und Steine“
Ohne die Naturwissenschaften ist es unmöglich, die wahre Natur der Dinge herauszufinden.

Wenn die Gesetze Gottes und der Menschen mit „Du sollst nicht“ beginnen, dann deshalb, weil sie übertreten werden können, ohne dadurch außer Kraft gesetzt zu werden. Ein Naturgesetz aber kann nicht übertreten werden, so dass es mit „Du kannst nicht“ beginnen darf. Kein Planet kann von der Bahn abweichen, die ihm die Gesetze der Beschleunigung und der Schwerkraft zuweisen. Unmöglich ist es auch, eine Maschine zu bauen, die mehr Energie liefert, als sie aufnimmt. Durch „Du kannst nicht“ formuliert, fordern die Naturgesetze dazu auf, sie zu widerlegen.

Wenn das gelingt, hat unser Denken über die Natur einen unwiderruflichen Fortschritt errungen: Wie es das – dann nur vermeintliche – Naturgesetz unterstellt hat, ist die Welt sicher nicht beschaffen.

Und was lernen wir, wenn die versuchte Widerlegung misslingt? Das Naturgesetz wurde dann aufs Neue bestätigt – aber das bedeutet nur, dass ein Teil seiner unzähligen Vorhersagen richtig ist. Das Gesetz selbst, wenn es diesen Namen verdient, muss jedoch zu allen Zeiten und an allen Orten gelten.

Wenn es uns heute nicht gelingt, der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen, weshalb nicht in einem Monat, in einem Jahr? Keinesfalls schon deshalb nicht, weil es bisher niemals gelungen ist. Vertrauen in die Zukunft, das nur auf immer demselben Verhalten in der Vergangenheit beruht, ist notwendig brüchig. Der britische Philosoph Bertrand Russell hat dies durch die Erwartung eines Huhns illustriert, das Morgen für Morgen von seinem Besitzer gefüttert wurde. Eines Morgens aber kommt er und schlägt ihm den Kopf ab. Das Huhn hatte eben nicht verstanden, weshalb es täglich gefüttert wurde. Sonst hätte es wie Hänsel und Gretel im Stall der Hexe statt in Zuversicht in Angst und Schrecken gelebt. Wir verstehen auf Grund von Prinzipien und eines Puzzles von Beobachtungen, die sich zu einem Gesamtbild gefügt haben, weshalb die Schwerkraft bisher immer so gewirkt hat, wie sie das auch heute tut, und gründen darauf – keinesfalls allein auf ihr bisheriges Wirken – unsere Zuversicht, dass sie weiterhin so wirken wird.

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Ohne die Naturwissenschaften ist es unmöglich, die wahre Natur der Dinge, mit denen wir in Kontakt treten, herauszufinden. So, wie sie uns erscheinen, sind die Dinge nicht wirklich beschaffen. Denn ihr Erscheinungsbild wird nicht allein durch sie, sondern auch durch uns bestimmt. Und wir sind ein Produkt der Evolution, zu deren Kriterien dafür, welches ihrer Zufallsprodukte Nachfahren haben wird und welches nicht, die wahre Natur der Dinge sicherlich nicht gehört. Die Evolution ist vor allem pragmatisch. Um also in die wahre Natur der Dinge Einsicht zu gewinnen, müssen wir Methoden anwenden, deren Erfolg nicht davon abhängt, ob wir zuallererst uns selbst verstehen.

Die Physik ist eine solche Methode. Physikalische Theorien sind in ihren Bewährungsproben auf sich allein gestellt. Bedeutungslos ist, wie ihre Erfinder auf sie gekommen sind – vielleicht durch einen Traum. Der Weg eines Forschers zu seinen Theorien ist seine Privatsache. Ist die Theorie aber bedeutend genug, wird sie unabhängig von der Motivation durch die Forschergemeinde überprüft und, gegebenenfalls, in den Kanon der Naturgesetze aufgenommen. Naturgesetze sind, wie Albert Einstein gesagt hat, „freie Erfindungen des menschlichen Geistes“ – die sich aber bewähren müssen, um danach und dadurch zu Entdeckungen zu werden.

Treten bei Überprüfungen trotz zahlreicher Möglichkeiten dazu keine Widersprüche auf, kann der Theorie der Ehrentitel „ Naturgesetz“ verliehen werden. Vorläufig, versteht sich, denn es kann sich immer noch herausstellen, dass die Theorie durch Einschränkung ihres Gültigkeitsbereiches modifiziert werden muss, dass eine andere, bessere Theorie an ihre Stelle tritt oder dass sie gar insgesamt widerlegt wird.

Die Physik geht davon aus, dass die Dinge so sind, wie sie uns erscheinen – und kommt auf dieser Grundlage zu dem Schluss, dass sie das ganz und gar nicht sind. Das aber bedeutet nicht, dass die Physik nach Art der indirekten Beweise ihre eigene Unmöglichkeit bewiesen hätte. Dinge sind für die Physik nämlich nur Mittel zu ihrem eigentlichen Zweck – der Erkenntnis der Naturgesetze.

Zwar ist diese Seite aus Papier tatsächlich nicht so glatt, wie sie erscheint, und der Mond ist auch bei Halbmond eine Kugel, aber darum geht es der Physik nicht. Um Erkenntnis der Naturgesetze geht es ihr, und in ihnen spielen die Dinge nur zwei Nebenrollen. Erstens die einer Überprüfungsinstanz unterstellter Gesetze, und zweitens als deren Geschöpfe. Ob direkt oder auf verschlungenen Pfaden – alle Naturgesetze, die den Namen verdienen, kommen zum Zweck ihrer Überprüfung bei Aussagen über direkte Beobachtungen realer Sachverhalte an, das heißt über Messungen – wie Stellungen von Zeigern – oder Pixel auf Bildschirmen. So schreitet im Idealfall die Physik fort bis hin zu den wirklich fundamentalen – wenn es die gibt – Naturgesetzen, beginnt bei ihnen neu und erklärt durch sie am Ende auch das Auftreten und Verhalten der Alltagsdinge, der Pixel und Zeiger. Wobei dieses „Erklären“ durchaus auf Prinzipien beruhen kann, die den in uns durch die Evolution verwurzelten widersprechen. Der Physik-Nobelpreisträger Werner Heisenberg hat einmal gesagt, dass es in jedem neuen Erfahrungsbereich möglich sein werde, die Natur zu verstehen, „dass aber dabei gar nicht von vornherein ausgemacht sei, was das Wort ,verstehen‘ bedeutet“. Die Physik sieht es also nicht als ihre Aufgabe an, Dinge durch verborgene Dinge zu erklären, sondern es ist ihre Aufgabe, die Welt der Erscheinungen auf eine endliche Menge fundamentaler Naturgesetze zurückzuführen – sie also durch diese, und dann durch die Prinzipien, auf denen jene Gesetze beruhen, zu erklären. Die Auffassung, dies sei so umfassend möglich, dass auch die Liebe Julias zu Romeo durch die fundamentalen Naturgesetze erklärt werden könne, kann selbstverständlich kein Forschungsprogramm begründen, sondern kann nur Ausdruck einer Überzeugung von der Wirkungsweise der Natur sein.

Was eine Theorie Taugt, wird an Zweierlei gemessen. Erstens an ihrem Potenzial, Probleme zu lösen und Erklärungen zu liefern. Zweitens daran, wie viele und wie geartete Versuche, sie zu widerlegen, sie übersteht. Besteht sie einen Test nicht, mag ihr Erklärungspotenzial noch so groß sein – sie muss aufgegeben werden.

Damit eine physikalische Theorie überprüft werden kann, muss sie Vorhersagen machen. Aber das ist nicht ihre einzige und wichtigste Aufgabe. Hauptaufgabe einer Theorie ist, Beobachtungen zu erklären. Eine Theorie, die nichts erklärt, ist bestenfalls ein Duplikat der Natur. Wie ein Orakel können wir sie befragen. Hatte sie bis heute immer Recht, müssen wir fragen, warum das so ist. Ohne Verständnis sind wir bei dem Versuch, die Zukunft vorherzusagen, nicht klüger, als es Russells Huhn bis gestern war. Wir stellen dann an das Orakel Theorie dieselbe Frage wie an die Natur. Warum also nicht gleich an die Natur? Wenn wir, wie Thomas Mann in seinem Joseph-Roman geschrieben hat, zusehen können, „wie sich die Geschichte selber erzählt“, warum sollen wir sie uns dann von einem Orakel erzählen lassen? Nicht Vorhersagen sind die Hauptaufgabe physikalischer Theorien, sondern die Erklärung von Beobachtungen.

Ein praktischer Gesichtspunkt kommt hinzu. Angenommen, man will einen strategischen Schutzschild gegen angreifende Raketen errichten. Ihn kann eine Theorie, die ohne Verständnis Vorhersagen liefert, bestenfalls peripher unterstützen. Denn von einem Vorsatz zu einem Plan führt nur ein Entwurf, der mehr auf einer Einsicht in Möglichkeiten beruht als auf dem Wissen um die Konsequenzen von Entscheidungen. Keine Theorie, die nur Fragen nach dem Verhalten eines physikalischen Systems beantwortet, kann Hinweise darauf geben, welche Fragen zu stellen sinnvoll ist.

Die Naturgesetze bilden ein Regelwerk, dem die Abläufe auf unserer Benutzeroberfläche des Universums genügen: Wenn wir die und die Voraussetzung schaffen, wird das und das geschehen. Was diese Zusammenhänge bedeuten, ist unerschütterlich klar: Sie können durch Sätze – Basissätze, wie die Wissenschaftstheoretiker sagen – beschrieben werden, die nur von Gegenständen unserer unmittelbaren Wahrnehmung handeln wie den erwähnten Pixeln und Zeigerstellungen. Wir brauchen die wahre Natur eines Zeigers nicht zu kennen, um sagen zu können, wie er ungefähr steht. Zeiger mit ihren Stellungen sind, wie auch Steine und Stühle, als Gegenstände unserer unmittelbaren Erfahrung aufdringlich real. Genauso real aber ist ihr Verhalten unter verschiedenen Einflüssen – unter welchem Gewicht ein Stuhl zusammenbricht, wie ein Stein sich verhält, wenn man gegen ihn tritt, und wie lange er beim Fall vom Dach des Schiefen Turms von Pisa bis zum Erdboden braucht.

Wir alle erfahren die Realität dieser Zusammenhänge genauso, wie wir die alltägliche Realität der Dinge selbst erfahren. Die Physik als Wissenschaft von derartigen Zusammenhängen – beschreibbar vor allem durch zeitliche Wenn-Dann-Sätze – zwingt ihren Adepten eben diese Erfahrungen in ihrer täglichen Arbeit auf. Man kann noch so sehr wünschen, dass ein Experiment so ausgeht, wie es die eigene Theorie will – man vermag es doch nicht zu bewirken. Kein Physiker würde auf den Gedanken kommen, die unerbittlichen Naturgesetze, mit denen er sich herumschlägt, seien nur soziale Konstruktionen, abhängig von dem jeweiligen Kulturkreis, die auch ganz anders gewählt werden könnten – Konventionen wie die Regeln des Fußballs. Für die Formulierungen der Naturgesetze mag das so sein, nicht aber für die Realität, die in den Zusammenhängen besteht, die sie behaupten.

Denselben Eindruck der unabweisbaren, aufdringlichen Realität von Stühlen und Stolpersteinen machen auf Physiker die Naturgesetze. Dies ist so selbstverständlich, dass es erst 1993 Steven Weinberg, Physiknobelpreisträger von 1979, in seinem Buch „ Der Traum von der Einheit des Universums“ ausgesprochen hat: Die Naturgesetze seien „so real wie Stühle“. „Ich plädiere“, schrieb Weinberg, „für die Realität der Naturgesetze […]. Wenn wir sagen, ein Ding sei real, dann drücken wir damit bloß eine Art von Respekt aus. Wir meinen, dass das Ding ernst genommen werden muss, weil es uns in einer Weise beeinflussen kann, die nicht gänzlich unserer Kontrolle unterliegt […]. Dies gilt […] etwa für den Stuhl, auf dem ich sitze, was nicht so sehr einen Beweis dafür darstellt, dass der Stuhl real ist, sondern ziemlich genau das ist, was wir meinen, wenn wir sagen, der Stuhl sei real.“ Dass die Naturgesetze mehr von diesem Respekt verdienen als die Dinge, ist nach kurzem Nachdenken offensichtlich. Selbst die stabilsten Dinge können wir beeinflussen – Stühle herumrücken, Zeigern andere Stellungen zuweisen und Gesteinsbrocken zertrümmern. Ja, jedwedes Ding können wir zumindest im Prinzip mit Antimaterie in Kontakt bringen und es dadurch in Strahlung umwandeln. Der von den Dingen ausgehende und sich aufdrängende Eindruck der Realität, der darauf beruht, dass diese als autonom, als unserem Willen nicht ganz unterworfen auftreten, ist letztlich also doch trügerisch. Einwendungen dieser Art können gegen die Realität der Naturgesetze nicht erhoben werden: Sie sind in keiner Weise unserem Willen unterworfen; sie zu beeinflussen, ist unmöglich. Wir hängen ganz und gar von ihnen ab, sie aber nicht von uns: Ein Naturgesetz ist ein Naturgesetz ist ein Naturgesetz.

Ein Beispiel: Legen Sie zwei Ein-Euro-Münzen auf den Tisch und schnipsen Sie die eine zentral gegen die andere. Dann wird die eine liegen bleiben, die andere sich in Bewegung setzen. Dieser Zusammenhang ist genauso real wie die Münzen selbst, und das ist es, was wir damit meinen, wenn wir sagen, das Naturgesetz, das diesen Zusammenhang begründet, sei real. Einwände gegen die Realität der Folgen des Schnipsens müssten sich genauso gegen die der Münzen selbst richten: Kein Unterschied besteht also auch hier zwischen der Realität von Objekten und der von Naturgesetzen. Mehr noch: Die Gesetze müssen sich nicht nur bei Ein- sondern auch bei Zwei-Euro-Münzen bewähren. Und so weiter, bis schließlich – genauer: vorläufig – die Naturgesetze von ihren materiellen Substraten abgelöst werden können. Zweifel an der Verlässlichkeit experimenteller Methoden sind selbstverständlich immer angebracht. Aber sie können nur in Einzelfällen diskutiert werden.

Die Einsicht des Philosophen Karl Popper gilt also auch hier: Keine Sicherheit, nirgends.

Naturgesetze sind freie Erfindungen des menschlichen Geistes. Sie müssen sich aber bewähren, treffende Voraussagen machen und Beobachtungen erklären.

Zugleich sind sie so real wie Stühle und Steine – und sie verdienen Respekt, denn im Gegensatz zu Stühlen und Steinen können wir die Naturgesetze nicht beeinflussen.

Henning Genz

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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