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Jenseits von Raum und Zeit

Allgemein

Jenseits von Raum und Zeit
Das geheime Netzwerk der Welt: Die Quantengeometrie soll Einsteins Traum vollenden.

Mit ein paar Gleichungen – die es allerdings in sich haben – kann Abhay Ashtekar gleichsam Raum und Zeit verlassen. Die eigens dafür entwickelte Mathematik macht es möglich, hinter die Kulissen der scheinbaren Bühne aller Ereignisse zu blicken – oder besser: Das Fundament selbst in Augenschein zu nehmen. Was nach faulem Zauber klingt, ist in Wirklichkeit knallharte Physik. Würde Albert Einstein noch leben, hätte er bestimmt seine Freude daran. Denn das Ziel ist, seinen großen Traum von einer einheitlichen Theorie der Schwerkraft und der Quantenwelt zu realisieren. Mit dem neuen Wissenschaftszweig der Quantengeometrie, auch Schleifen-Quantengravitationstheorie genannt („Loop Quantum Gravity“), ist Ashtekar diesem Traum zum Greifen nah gekommen – und versucht damit außerdem, die ultimativen Grenzfragen der Physik zu beantworten: die Rätsel des Urknalls und der Schwarzen Löcher.

„Auf der Planck-Skala gibt es eine präzise, reiche und diskrete Struktur“, sagt Ashtekar, seit zehn Jahren Physik-Professor und Direktor des Center for Gravitational Physics and Geometry der Pennsylvania State University. Die Planck-Skala ist die kleinstmögliche Längenskala mit Einheiten in der Größenordnung von 10-33 Zentimetern. Das ist 20 Zehnerpotenzen kleiner als der Protonen-Radius und 16 unterhalb dem Auflösungsvermögen der weltbesten Teilchenbeschleuniger. Auf dieser Skala versagt Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Deren Gegenstandsbereich sind der Zusammenhang von Raum, Zeit, Materie und Energie. Aber auf der Planck-Skala liefert sie unsinnige Werte – absurde Unendlichkeiten und Singularitäten. Sie trägt somit – wie der amerikanische Physiker John Wheeler zu sagen pflegt, der Einstein noch persönlich kannte – die Saat ihres eigenen Untergangs in sich. Das heißt nichts anderes, als dass sie die Grenzen ihrer Anwendbarkeit angibt. Das ist eine Einschränkung, aber zugleich auch ein Vorteil: Die Physiker kommen nicht daran vorbei, nach einer umfassenderen, besseren Theorie Ausschau zu halten, wollen sie die Naturgesetze auf dieser fundamentalen Ebene finden. Mit anderen Worten: Sie brauchen eine Theorie der Quantengravitation, um das Verhalten der Natur auf allen Ebenen zu erklären, von den Quarks bis zu den Quasaren.

Doch bislang scheint die Natur gleichsam zwei verschiedene Arten von Regeln zu befolgen.

Einerseits die Allgemeine Relativitätstheorie: Ihr Alphabet ist die Geometrie, und ihr Vokabular besteht aus Linien, Winkeln, Oberflächen und Kurven. Die Schwerkraft ist eine Eigenschaft der Geometrie der Raumzeit, die nicht bloß Bühne allen Geschehens, sondern auch teilnehmender Schauspieler ist.

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Andererseits die Quantentheorie: Ihr Alphabet besteht aus algebraischen Symbolen und Quantenzahlen und enthält nicht die deterministischen Wörter „immer“ und „nie“, sondern die statistischen „üblicherweise“ und „selten“. Hier ist die Raumzeit die starre Bühne („Hintergrund-Metrik“) für die Partikel und Kräfte. Gravitation wird auf – hypothetische, noch nicht nachgewiesene – Teilchen namens Gravitonen zurückgeführt. Sie werden im subatomaren Ping-Pong zwischen allen anderen Partikeln ausgetauscht und bringen so die Schwerkraft hervor. Doch da Gravitonen auch mit sich selbst wechselwirken, geraten die anderswo so erfolgreichen Techniken der Quantenphysik in massive Schwierigkeiten aufgrund von unsinnigen Unendlichkeiten, Wahrscheinlichkeiten über 100 Prozent und anderem Ungemach.

Die beiden Theorien sind also auf eine prinzipielle Weise nicht miteinander vereinbar. Das hat schon Albert Einstein erkannt. Und seither suchen Theoretische Physiker nach einer Synthese – einer „Theorie von Allem“, wie manche sie unbescheiden nennen. Sie würde die fundamentalen Naturgesetze enthalten – gleichsam den Code oder Bauplan unseres Universums. Die meisten Versuche dazu werden von den Teilchenphysikern unternommen. „Doch sie machen die Allgemeine Relativitätstheorie wie mit einer Dampfwalze platt und stecken dann den Zauberstab der Quantentheorie in die Leiche“, kritisiert der Mathematiker Roger Penrose von der University of Oxford. Die Gleichungen zur Beschreibung des Verhaltens der Schwerkraft unter Quantenbedingungen lassen sich nicht lösen, obwohl sie sinnvoll erscheinen und widerspruchsfrei sind. Es ist wie mit einem Palast, der keine Türen besitzt, um ihn zu betreten.

Relativitätstheoretiker nähern sich dem Problem vorzugsweise aus geometrischer Sicht. John Wheeler hat schon in den fünfziger Jahren spekuliert, dass die Raumzeit auf kleinsten Skalen nicht mehr homogen, sondern „schaumförmig“ erscheint. Dies ist eine Metapher, die keine wissenschaftliche Exaktheit beansprucht. Fest steht jedoch, dass eine Theorie der Quantengravitation gewaltige Revisionen unseres Weltbilds mit sich bringt und eine Zumutung für den Alltagsverstand sein wird.

„Es gibt keine größere Herausforderung in der Wissenschaft als die Vervollständigung dieser Theorie. Sie wird neue Antworten geben auf die Fragen, was Raum und Zeit sind. Aber das ist nicht alles. Sie wird auch eine Theorie der Materie sein und eine Theorie der Kosmologie“, sagt Ashtekars Kollege Lee Smolin. „Wir leben heute in einer entscheidenden Forschungsepoche, in der die Gesetze der Physik neu geschrieben werden.“ Der Physik-Professor an der kanadischen University of Waterloo zweifelt nicht an den radikalen Konsequenzen. „Das kontinuierliche Erscheinungsbild des Raumes ist so sehr eine Illusion wie das glatte Erscheinungsbild der Materie. Könnten wir die Welt in genügend kleinem Maßstab betrachten, würden wir sehen, dass der Raum aus Dingen aufgebaut ist, die wir zählen können.“

Das ist die Revolution unseres Weltbildes durch die Quantengeometrie. Der Raum ist gequantelt wie die Materie!

Die Frage, warum nicht auch ein halb so großes Volumen möglich sei, ist angesichts solcher „Raum-Atome“ unsinnig und beruht auf der falschen Voraussetzung eines absoluten Raums, in den die Dinge hineinpassen. Raum und Zeit sind gar nicht fundamental, sondern werden von grundlegenderen Strukturen aufgebaut. Ashtekar und seine Kollegen nennen sie Spin-Netzwerke. Der Begriff geht auf Penrose zurück, der schon in den siebziger Jahren mit seiner Twistor-Theorie ähnliche Ansätze verfolgte und „Spin-Netzwerke“ als eine Art Raumzeit-Staub einführte.

Ashtekar vergleicht die Spin-Netzwerke – mathematisch gesprochen handelt es sich in seiner Theorie um so genannte Graphen – mit einem Gewebe aus polymerartigen eindimensionalen Fäden. Könnte man die Natur mit maximal möglicher Vergrößerung betrachten, würden sich Raum und Zeit auflösen und das körnige Geflecht des Spin-Netzwerks käme zum Vorschein – genauer gesagt: die quantenphysikalische Überlagerung aller möglichen Zustände davon. Zwischen diesen Graphen existiert „nichts“. Die Dinge ruhen sozusagen nur auf ihresgleichen. „Die Spin-Netzwerke existieren nicht im Raum. Ihre Strukturen erzeugen den Raum“, betont Smolin. „Und sie sind nichts als abstrakt beschriebene Beziehungen – charakterisiert durch die Art, wie die Kanten an den Knotenpunkten verbunden sind. Weitere Regeln bestimmen, wie sich die Kanten verknoten und miteinander verbinden können.“

Dass der Raum uns dennoch homogen erscheint, ist kein Wunder. Denn das Auflösungsvermögen unserer Wahrnehmung ist beschränkt – ähnlich wie beim Betrachten eines Fotos, dessen einzelne Bildpunkte wir aus der Distanz auch nicht erkennen können. Mit dem „kleinen“ Unterschied, dass es sage und schreibe 1068 Quantenfäden sind, die das Papier dieser Seite durchziehen.

Lose Enden der Graphen repräsentieren die Fermionen (Quarks und Leptonen), aus denen die Materie aufgebaut ist, und die mutmaßlichen Higgs-Bosonen, die die Masse erzeugen. Die Bosonen (etwa Photonen oder auch Gravitonen), die die subatomaren Wechselwirkungen übermitteln und somit die Naturkräfte hervorrufen, sind kodiert in bestimmten Anregungszuständen des Spin-Netzwerks, gleichsam wechselnde Farben oder Etiketten an den Graphen. Ashtekar: „Einige repräsentieren die Geometrie, andere Felder. Die Materie kann nur dort existieren, wo die Geometrie angeregt ist, und das ist nur entlang der Polymere der Fall. Es ist physikalisch nicht sinnvoll zu fragen, was zwischen ihnen ist. Auch Gravitonen und so weiter sind nicht fundamental, sondern ein Produkt der Spin-Netzwerke.“ Unsere gewohnte Vorstellung von der Kausalität gilt hier ebenfalls nicht. Sogar die Zeit entsteht erst mit den Veränderungen der Anregungszustände und Verbindungen des Netzwerks. In gewisser Weise ist sie eine Illusion wie der Raum. Ashtekar zitiert Vladimir Nabokov: „Der Raum ist ein Schwärmen in den Augen, die Zeit ein Singen in den Ohren.“

Der ganze Reigen der Realität entspringt also einer Überlagerung fluktuierender Geflechte auf submikroskopischer Ebene. Wir und alles, was wir kennen, sind gleichsam Muster oder Stickereien im Gewebe des Spin-Netzwerks. Ashtekar hat sogar augenzwinkernd an einem Web-Kurs teilgenommen, um besser zu verstehen, wovon er da spricht.

Der sympathische Wissenschaftler mit den Funken der Begeisterung in den Augen wurde 1949 in der kleinen Stadt Shirpur im Westen Indiens geboren. Als Jugendlicher las er die populärwissenschaftlichen Bücher des russisch-amerikanischen Kosmologen George Gamow und wollte Physiker werden. Seine Begabung zeigte sich schon früh, als er in einem Lehrbuch des Nobelpreisträgers Richard Feynman einen kleinen Fehler fand. Er schrieb ihm. „Feynman antwortete tatsächlich und gab mir Recht. Das war so erhebend für mich, dass ich den Brief immer noch habe“ , erzählt Ashtekar. Er studierte in Bombay und ab 1969 in den USA Physik, war in Oxford, Chicago, Paris und Syracuse tätig, bevor er an die Penn State University kam. Auch in Deutschland und Österreich arbeitete er als Gastwissenschaftler und bekam sogar eine Stelle als Direktor am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam angeboten. „Das war eine große Ehre für mich. Aber Penn State bot mir daraufhin viel mehr Zeit und Freiheit für meine Forschung, als ich in Deutschland gehabt hätte, und so musste ich mit Bedauern ablehnen.“

Schon früh in seiner Karriere hatte sich Ashtekar der Quantengravitation zugewandt. „Es gibt eine Art unschuldige Arroganz, wenn man jung ist, die einen dazu bringt, die schwierigsten Probleme anzugehen.“

1986 errichtete er die ersten Brückenpfeiler zwischen der Allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantentheorie. Inspiriert durch einen Artikel über die Bewegung von Elektronen im Gravitationsfeld – verfasst von Amitabha Sen, damals Student an der University of Chicago –, entwickelte Ashtekar eine neue geometrische Sprache, in der er Einsteins Feldgleichungen anders, aber auf mathematisch äquivalente Weise formulieren konnte. Seine Version, die weltweit rasch große Beachtung fand, ähnelt den leichter handhabbaren Gleichungen der elektroschwachen Wechselwirkung und den Maxwell-Gleichungen, so dass die Gravitation eine vertrautere Gestalt bekam. Freilich nur für die Experten, denn schon Grundbegriffe wie Fluss-Variable, Konnexion und Holonomie rufen bei Laien nur ein Stirnrunzeln hervor. Dabei handelt es sich um pfiffige Methoden, die Orte, Flächen, Bewegungen und Kräfte beschreiben, ohne eine Hintergrund-Metrik zu benötigen. Andere Größen sind bereits als „Ashtekar-Variablen“ in die einschlägigen Lehrbücher eingegangen.

Doch damit nicht genug. Im nächsten Schritt gelang es nach mühevoller Kleinarbeit die Einstein-Gleichungen in Ashtekars Version so zu erweitern, dass sie sich quantisieren ließen. „Was wir fanden, überstieg unsere wildesten Erwartungen“, erinnert sich Lee Smolin. Mit dem inzwischen an der Universität Marseille tätigen italienischen Physiker Carlo Rovelli leistete er zwischen 1988 und 1990 die entscheidende Pionierarbeit. 1992 arbeiteten sie dann mit Ashtekar zusammen. Auf dieser Beschreibungsebene erschien der Raum nicht mehr homogen, sondern bekam eine feinkörnige Struktur. Er glich einem Kettenhemd, wie es die alten Rittersleut‘ trugen – aufgebaut aus unzähligen, vielfach miteinander verbundenen schleifenartigen Ringen („loops“), jeweils nur eine Planck-Länge winzig. Die Theorie der „Loop Quantum Gravity“ war geboren.

Wenn ein Atom so groß wäre wie die Milchstraße, dann wären die Quantenschleifen nicht größer als eine menschliche Zelle. „Es ist also nicht überraschend, dass der Raum so glatt aussieht – ähnlich wie ein verknittertes T-Shirt aus größerer Entfernung eben auch glatt aussieht“, sagt Rovelli. Aus metallenen Schlüsselringen hatte er damals spaßeshalber ein Modell gebastelt, um der abstrakten Vision Anschaulichkeit zu verschaffen – „aus jedem aufzutreibenden Ring in Verona“, erzählt er. „Ich kaufte alle Geschäfte leer.“ Er war damals eine Art Vermittler zwischen dem ruhigen, kontemplativen, analytischen Physiker Ashtekar, der Mozart liebte, sich für anspruchsvolle Literatur und Philosophie begeisterte und ein verblüffend ordentliches Büro hatte, und dem unruhigen, fast chaotisch-kreativen Smolin, dessen Büro aussah, als hätte ein Hurrikan alle Bücher, Zeitschriften und Kleider darin durcheinander gewirbelt.

Entscheidende Inspirationsquelle waren die so genannten Wilson-Loops in der Gitter-Eichtheorie der Quantenchromodynamik, die der amerikanische Physiker Kenneth Wilson und der russische Physiker Alexander Polyakov unabhängig voneinander entwickelt hatten. Sie beschreibt das Verhalten der Quarks – der Bausteine von Protonen und Neutronen – nicht in einem kontinuierlichen Raum, sondern auf einer Gitterstruktur. „Ein Physiker, der ohne Gitter arbeitet, ist wie ein Trapezkünstler ohne Netz“, schildert Smolin die Vorzüge dieses abstrakten Ansatzes. „Es gibt immer die Gefahr, dass eine falsche Bewegung fatale Folgen hat. In der Physik entstehen diese Fatalitäten durch Konfrontationen mit Unendlichkeiten und absurden mathematischen Ausdrücken. Diese gibt es in allen Quantentheorien, die auf einer kontinuierlichen Raumzeit basieren.“

Nach den Monaten des Enthusiasmus folgte die Ernüchterung. „ Die Mathematik war unklar, man kann sich leicht selbst zum Narren halten“, sagt Ashtekar. Denn wieder tauchten die lästigen Unendlichkeiten in den Rechnungen auf. „Die Schleifen können nicht länger als die fundamentale Repräsentation der Realität angesehen werden. Sie sind noch immer eine nützliche Beschreibung wie Wheelers Quanten-Schaum, aber es fehlte uns der richtige mathematische Ansatz. Paradigmenwechsel in der Theoretischen Physik erfordern häufig eine neue mathematische Arena: Newtons Mechanik und Gravitationstheorie die Differenzialrechnung, Maxwells Elektrodynamik partielle Differenzialgleichungen und die Analysis; Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie benötigte die Differenzialgeometrie und die Quantenmechanik Hilberträume und Operator-Algebra.“

Ashtekar gab nicht auf. In weiteren fünf harten Jahren erarbeitete er zusammen mit Jerzy Lewandowski, John Baez, Chris Isham, Thomas Thiemann und anderen die Werkzeuge für die Quantengeometrie, wobei insbesondere das mathematische Spezialgebiet der Knotentheorie wichtig war. Im Zentrum stehen nun die Spin-Netzwerke und Graphen, die gleichsam Verkettungen und Überschneidungen von Schleifen sind, wobei die Spins die Art und Zahl der Verbindungen angeben. „Die präzise Mathematik existiert jetzt“, berichtet Ashtekar. „Die Unendlichkeiten sind verschwunden, wir führen uns nicht mehr selbst an der Nase herum.“ Der Formalismus ist so leistungsfähig, dass sich nicht nur die Allgemeine Relativitätstheorie, sondern auch andere Theorien der Schwerkraft wie die Supergravitationstheorie damit vereinbaren lassen. „Doch vor allem sprechen jetzt Quantentheorie und Allgemeine Relativitätstheorie wirklich miteinander“, freut sich Rovelli über die gelungene Synthese.

Das Nächste Grosse Ziel ist bereits in Angriff genommen: die Verbindung der vertrauten Niederenergie-Physik mit der fundamentaleren Physik der Spin-Netzwerke. „Schattenzustände liefern hier eine technische Brücke“, sagt Ashtekar und meint eine Art Projektion der physikalischen Zustände auf die Graphen. Es wäre ein großer Erfolg, wenn es gelänge, die bekannte Physik im Detail auf die Quantengeometrie zurückzuführen. Doch damit nicht genug. Der extrem fleißige Ashtekar arbeitet auch noch an einer Neuformulierung der Quantentheorie, um sie so weit zu verallgemeinern, dass sie mit der Allgemeinen Relativitätstheorie kompatibel wird und sich vielleicht sogar ihre lästigen Interpretationsprobleme lösen lassen (bild der wissenschaft 9/2000, „Quantenspuk“).

Die eigentliche Bewährungsprobe der Quantengeometrie findet jedoch im anderen Extrem statt: Bei der Beschreibung des Urknalls und der Schwarzen Löcher. „Die Quantengeometrie ist so weit ausgereift, dass sie diese Probleme jetzt direkt angehen kann“, freut sich Ashtekar. „Die Quantenphysik macht am Urknall nicht Halt“, ist er überzeugt. „Die klassische Raumzeit löst sich im Urknall auf, aber das Spin-Netzwerk ist noch da.“ Es ist gewissermaßen ewig. „Es gab also keine Entstehung des Universums aus dem Nichts, weil das Nichts schlichtweg nicht existiert. Es gab immer schon etwas.“ Auf diese Weise hat die Quantengeometrie den philosophischen Vorteil, scheinbar unlösbare Fragen einfach loszuwerden. Hier macht sich ihre Stärke, unabhängig von einer Hintergrundmetrik der Raumzeit zu sein, besonders bemerkbar. „ Materie und Geometrie sollten beide quantenmechanisch ins Dasein treten.“

Maßgebliche Arbeiten hierzu stammen von Ashtekars ehemaligem Postdoc Martin Bojowald, der jetzt am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam forscht. Er hat gezeigt, wie das Spin-Netzwerk den Urknall gezündet haben könnte.

Schwarze Löcher sind gegenwärtig das andere zentrale Test- und Anwendungsgebiet der Quantengeometrie. Ashtekar hat sich um ihre Forschung auch im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie sehr verdient gemacht. Erst kürzlich entdeckte er, wie Schwarze Löcher wachsen (bild der wissenschaft 7/2003). Doch die Quantengeometrie kann mehr – nämlich erklären, wie sie wieder schrumpfen. Denn Schwarze Löcher sind nicht vollkommen schwarz, sondern zerstrahlen im Verlauf von sehr langen Zeiträumen aufgrund quantenmechanischer Effekte. Das war Stephen Hawkings spektakuläre Entdeckung im Jahr 1974.

„Noch haben wir diesen Hawking-Prozess nicht aus ersten Prinzipien abgeleitet“, sagt Ashtekar. „Aber es ist möglich, auch wenn das einige Vorarbeiten erfordert. Und damit sind wir gerade beschäftigt.“ Auch hier hat Albert Einstein den weiten Weg gewiesen. „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte man, dass Strahlung und Materie nicht distinkt sind, sondern sich ineinander umwandeln können. Letztlich sind Strahlungs- und Materiequanten dasselbe“, resümiert Ashtekar. „Aber wir haben von Einstein auch gelernt, dass die Geometrie eine physikalische Entität ist wie Materie. Also sollte man erwarten, dass Quanten der Geometrie in solche der Strahlung oder Materie umgewandelt werden können und umgekehrt.“

Dass und wie dies der Fall ist, kann die Quantengeometrie nun zeigen. Ihre zentrale Aussage lautet ja, dass es Quanten der Geometrie gibt. Und genau dies ist das Puzzlestück, das Hawking noch gefehlt hat. Denn seine Rechnungen setzen die klassische Raumzeit der Allgemeinen Relativitätstheorie voraus. Ashtekar: „ Hawking hat Einsteins Vision nicht vollendet. Nur die Materie und Energie hat er quantenmechanisch behandelt.“ In der Quantengeometrie ist jedoch auch die Raumzeit und somit der Ereignishorizont quantisiert. Dessen Fläche kann man sich gleichsam als Elementarzellen von Nullen und Einsen aufgebaut denken. Jede dieser winzigen Parzellen entspricht einem „Faden“ des Spin-Netzwerks, der die Horizontfläche durchschneidet. Unvorstellbare 1077 Fäden sind es im Fall eines Schwarzen Lochs von einer Sonnenmasse (und somit 101077verschiedene Quantenzustände, die die riesige Entropie eines Schwarzen Lochs ausmachen). Die speziellen lokalen Eigenschaften des Netzwerks definieren den Horizont. Wenn ein Schwarzes Loch verdampft, verliert es diese Fäden – ähnlich wie beim Haarausfall der Kopf immer kahler wird, nur dass er im Gegensatz zum Ereignishorizont dabei nicht schrumpft. Bei der Hawking-Strahlung werden also im Grunde Flächenquanten in Materie- und Energiequanten umgewandelt.

„Das ist es, was Einstein uns gelehrt hat: Geometrie ist physikalisch. Sie ist der Materie sogar so ähnlich, dass sie sich in diese verwandeln kann“, sagt Ashtekar und nennt diesen Prozess deshalb Einstein’sche Alchemie. Der Auflösungsprozess geschieht nicht graduell, sondern schrittweise, also gequantelt – ähnlich wie einem ja auch nur ein Haar nach dem anderen ausfallen kann. „ Somit schrumpft ein Schwarzes Loch nicht kontinuierlich, sondern verhält sich wie ein angeregtes Atom, das seine Energie mit den berühmten Quantensprüngen abgibt.“

Die Quantengeometrie hat noch eine weitere Tragweite, die Ashtekar und seine Mitarbeiter eben erst auszuloten beginnen: die Vermeidung der unphysikalischen Singularität wie beim Urknall. Möglicherweise lässt sich sogar das berüchtigte Informationsparadoxon lösen (bild der wissenschaft 9/2002, „ Finales Fiasko“): „Für das Universum, in dem Informationen in das Schwarze Loch fallen, gehen diese verloren, kommen aber im Urknall eines Tochter-Universums, das sich aus dem Schwarzen Loch bildet, wieder zum Vorschein“, spekuliert Martin Bojowald. Und fügt schmunzelnd hinzu: „Allerdings erst, nachdem sie die ziemlich ungemütliche Quantenphase im zentralen Durchgangspunkt durchlaufen haben.“

Schwarze Löcher und der Urknall liefern exotische Bedingungen. Aber vielleicht besteht eine Chance, die Quantengeometrie durch Beobachtungen in weniger extremem Kontext zu testen. Giovanni Amelino-Camelia von der Universität La Sapienza in Rom schlägt vor, hochenergetische Photonen aus kosmischen Entfernungen zu studieren, etwa von Gammastrahlen-Ausbrüchen oder Röntgengalaxien. Sie müssten kleine Abweichungen von klassischen Wegen zeigen, wenn die Lichtwelle an den diskreten Knoten der Quantengeometrie gestreut wird. Wie das Spektrum eines Atoms wäre dann ja auch das Spektrum der Raumzeit selbst nicht kontinuierlich, sondern quantisiert.

Bis solche Daten vorliegen, ist die Quantengravitation ausschließlich eine Arena der Theoretiker. Inzwischen arbeiten weltweit etwa zwei Dutzend Forschergruppen mit dem Ansatz der Quantengeometrie. Rund 2000 wissenschaftliche Artikel sind bereits erschienen. Die Anerkennung im Kollegenkreis ist so groß, dass Asthekar letztes Jahr auf der TH-2002-Konferenz in Paris zu einem Hauptvortrag eingeladen war. TH steht für „Theoretische Physik“, und die hochkarätige internationale Konferenz – erst die Vierte seit 1953 – hatte kein geringeres Ziel, als unter anderem einen Überblick über die wichtigsten gegenwärtigen Forschungszweige zu geben.

Diese Erfolge sind beeindruckend – und doch ist die Resonanz noch gering im Vergleich zur Stringtheorie, die sich unter Theoretischen Physikern nicht nur einer größeren Beliebtheit erfreut, sondern inzwischen geradezu eine Modeerscheinung geworden ist. Wie weit sie trägt, ist aber nicht entschieden.

„Die Hauptkonkurrenz zur Quantengeometrie ist die Stringtheorie. Im Unterschied zu dieser enthält Ashtekars Formulierung keine Vereinheitlichung aller Wechselwirkungen – es wird ‚nur‘ die Gravitation separat quantisiert“, sagt Claus Kiefer, Physik-Professor an der Universität Köln und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Quantengravitation in Deutschland. „Unabhängig von der Richtigkeit des Zugangs liegt ein Wert sicher darin, dass er aufzeigt, welche Aspekte in einer endgültigen Theorie der Quantengravitation zu erwarten sind.“

Die Stringtheorie fasst die Elementarteilchen als Anregungsformen winziger schwingender Fäden auf und kann im Gegensatz zur Quantengeometrie alle vier Naturkräfte einheitlich beschreiben. Ihr Nachteil ist, dass sie sich nur in neun oder zehn Raumdimensionen formulieren lässt und die klassische Raumzeit der Relativitätstheorie als Hintergrund-Metrik voraussetzt. Insofern sind Raum und Zeit selbst nicht quantisiert – doch gerade dies wird von einer vollendeten Quantengravitationstheorie erwartet. Hier ist die Quantengeometrie also weiter.

„Von allen Ansätzen der Quantengravitation, die ich kenne, ist der von Ashtekar am viel versprechendsten“, meint deshalb auch Roger Penrose. „Bislang stimmt die Stringtheorie nicht mit der Welt überein, die wir beobachten. Sie erfordert viele komplizierte Annahmen wie Extradimensionen und Supersymmetrie, für die es keine empirischen Hinweise gibt, und liefert auch keine eindeutigen Voraussagen für künftige Experimente. Alle Hauptprobleme sind ungelöst“, kritisiert Rovelli. „Ich denke, es ist Zeit, auch einmal etwas anderes zu versuchen“, wirbt er für die Quantengeometrie. „Freilich hat auch diese ihre Lücken und Schwächen. So ist der Übergang von den Spin-Netzwerken in die klassische Raumzeit noch nicht völlig verstanden, und die Berechnung der Entropie Schwarzer Löcher macht ebenfalls Probleme“ , sagt Kiefer.

„Fortsetzung folgt“, heißt es also mal wieder an der Forschungsfront. Eines zeigte die Quantengeometrie jedenfalls deutlich. Der französische Schriftsteller Marcel Proust hat es folgendermaßen ausgedrückt: „Die besten Entdeckungsreisen macht man nicht in fremde Länder, sondern indem man die Welt mit neuen Augen betrachtet.“

Die Quantengeometrie ist eine Quantentheorie der Schwerkraft, in der Raum und Zeit nicht fundamental sind, sondern von grundlegenderen Strukturen – den Spin-Netzwerken – erst erzeugt werden.

Diese Theorie ist einer der Erfolg versprechendsten Kandidaten, um den Urknall und die Schwarzen Löcher zu erklären.

Rüdiger Vaas

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