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Netze am Limit

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Netze am Limit
Die Stromversorgung in Deutschland ist bislang zuverlässig. Doch die Liberalisierung der Märkte und die Einspeisung von Windenergie gefährden die Sicherheit der Netze.

Was braucht es, um ein Land mit fast 60 Millionen Einwohnern von der Stromversorgung abzuhängen? In Italien genügten am 28. September ein Blitzschlag in eine Leitung im Nachbarland Frankreich und eine durch herabfallende Äste unterbrochene Verbindung aus der Schweiz für einen rund 24-stündigen Blackout, der fast das ganze Land betraf.

„Das war ein extremes und für Italien spezifisches Ereignis“, urteilt Prof. Hans-Jürgen Haubrich, Leiter des Instituts für Energietechnik und Energiewirtschaft an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen. Denn die italienischen Energieversorger haben es in den letzten Jahren versäumt, für ausreichend Kraftwerksleistung zu sorgen. Stattdessen beziehen sie große Mengen Strom aus dem Ausland – im Schnitt eine Leistung von rund 5000 Megawatt. Im Jahr 2002 machten die Energieimporte Italiens mit mehr als 50 Milliarden Kilowattstunden rund 19 Prozent des gesamten Strombedarfs aus. Die Italiener erkaufen sich damit gleichzeitig eine hohe Abhängigkeit von den Stromverbindungen in die Nachbarländer.

In Deutschland dagegen halten sich Einfuhr und Ausfuhr von Strom die Waage. Die rund 500 Milliarden Kilowattstunden elektrische Energie, die hierzulande pro Jahr verbraucht werden, können vollständig aus eigenen Kraftwerken gedeckt werden. Nicht zuletzt deshalb ist das deutsche Stromnetz eines der sichersten in Europa: Im Schnitt nur etwa eine Viertelstunde blieb jeder Stromkunde 1999 – aktuellere Daten gibt es nicht – ohne Strom. Gründe dafür waren nicht ausfallende oder fehlende Kraftwerke oder – wie im Fall Italien – Störungen im Übertragungsnetz, sondern ausschließlich Ausfälle in den Verteilungsnetzen mit nur lokalen Folgen. Auch das besonders engmaschige Geflecht der Stromleitungen trägt zur Stabilität und Zuverlässigkeit der Netze in Deutschland bei: „Fällt eine Verbindung durch eine Störung aus, steht mindestens eine andere Leitung zur Verfügung, die den Stromtransport übernimmt“, sagt Dr. Rainer Krebs, Forschungsleiter für Netzplanung bei Siemens Power, Transmission and Distribution in Erlangen. Meist können sogar zwei oder drei alternative Verbindungen den Ausfall auffangen.

Dennoch ist das heutige Maß an Sicherheit nicht für alle Zeit garantiert: „Wir müssen davon ausgehen, dass sich künftig auch in Deutschland die Situation verschlechtern könnte“, fürchtet Netz-Experte Haubrich. Denn der hohe Kostendruck auf die Netzbetreiber – hervorgerufen durch die europaweite Liberalisierung der Märkte und den dadurch entstehenden Konkurrenzdruck – macht die Netzbetreiber weniger geneigt, in die fernere Zukunft zu investieren. Eine weitere Konsequenz: Um die Kosten zu begrenzen, geben die Unternehmen weniger Geld als bisher für die Instandhaltung ihrer Stromnetze aus. Zahlen belegen das: Während die Stromversorger in Deutschland 1995 noch umgerechnet 3,61 Milliarden Euro in Übertragungs- und Verteilungsnetze investierten, waren es 2001 nur noch 2,33 Milliarden Euro – ein Rückgang um mehr als ein Drittel.

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Auch der in den letzten Jahren enorm gestiegene internationale Stromhandel bereitet Haubrich Sorge. Er führt zu einer starken Belastung der europäischen Transportnetze. Nach der Liberalisierung kann spätestens ab 2007 jeder Stromversorger jeden Konsumenten in Europa bedienen. Die Folge ist ein gewaltiger und großräumiger Stromtransport quer durch den ganzen Kontinent. So flossen in Jahr 2002 rund 20 Prozent des in Europa erzeugten Stroms über Grenzen zwischen verschiedenen Ländern hinweg: Der Export betrug insgesamt 551 Milliarden Kilowattstunden – und damit mehr als das Zehnfache dessen, was 1975 an elektrischer Energie zwischen den europäischen Ländern ausgetauscht wurde. Dadurch wachsen die Transportwege: Während in Deutschland noch vor wenigen Jahren die Stromverbraucher im Schnitt etwa 50 bis 70 Kilometer vom Stromerzeuger entfernt waren, ist die mittlere Distanz inzwischen auf mehrere hundert Kilometer gestiegen.

„Die Netze sind für die derzeitige hohe Belastung gar nicht ausgelegt – und gelangen bereits in vielen Regionen an ihr Limit“ , sagt Haubrich. Die Auswirkungen spüren die Stromversorger zum Beispiel an den Grenzen zu den Niederlanden und zu Dänemark. Dort muss der Stromtransport inzwischen beschränkt werden, weil die Leitungen der beförderten elektrischen Energie sonst nicht mehr gewachsen wären. Die Menge an übertragbarem Strom ist begrenzt, da sich die Leitungen durch den Stromfluss erwärmen – umso stärker, je höher die Stromstärke ist.

Das europäische Verbundnetz, dem auch Deutschland angeschlossen ist, existiert seit 1951. Damals schlossen sich die meisten westeuropäischen Staaten zur UCTE (Union für die Koordinierung des Transports elektrischer Energie) zusammen. Das Netz der UCTE umfasst heute die nationalen Stromnetze von 20 Ländern. Zuletzt kamen 1998 Ungarn, Polen Tschechien und die Slowakei hinzu. Angedockt an den UCTE-Verbund sind auch Rumänien und Bulgarien sowie – über Gleichstromkupplungen – Skandinavien und Großbritannien.

„Über das Verbundnetz könnten Probleme in anderen Ländern auf das deutsche Netz durchschlagen“, sagt Matthias Boxberger, Sprecher bei E.ON Netz in Bayreuth. Um das zu vermeiden, braucht es gemeinsame Spielregeln der Übertragungsnetzbetreiber. So stellte der Blackout in Italien die Netzbetreiber in den übrigen UCTE-Staaten vor das Problem, dass die dortigen Kraftwerke nach dem Zusammenbruch des italienischen Netzes plötzlich zu viel Leistung einspeisten. Sie musste rasch auf den verringerten Bedarf heruntergefahren werden, um einen sonst drohenden größeren Ausfall zu verhindern. Dazu wurde die Leistung schnell regelbarer Gas- und Dampfkraftwerke gedrosselt, und die Wasserpumpen der Pumpspeicherkraftwerke wurden angeworfen, deren Maschinen sofort große Energiemengen aus dem Netz sogen.

Trotz solcher – bislang seltener – Probleme sorgt das europäische Verbundnetz für mehr Sicherheit: Fällt zum Beispiel irgendwo im Verbund ein Kraftwerk aus, sorgen alle Kraftwerke in den angeschlossenen Ländern dafür, dass die entstehende Versorgungslücke wieder geschlossen wird. Da die elektrische Energie nicht auf Vorrat gespeichert werden kann, müssen sich Erzeugung und Verbrauch im gesamten Netz stets die Waage halten. Um die Stromerzeugung bereits Tage im voraus möglichst genau planen zu können, berechnen die Netzbetreiber anhand von Erfahrungswerten, Wetterprognosen und den Meldungen der Stromhändler ständig den wahrscheinlichen Reservebedarf.

„Doch jede Änderung – verursacht etwa durch Ein- oder Ausschalten leistungsstarker Verbraucher oder durch einen Kurzschluss in einem Teil des Netzes – bringt das System aus dem Gleichgewicht“, sagt Siemens-Experte Krebs. Dadurch ändern sich Spannung und Frequenz im Netz. „Die Frequenz, mit der der Wechselstrom bei einer Spannung von 220 oder 380 Volt aus der Steckdose kommt, ist die entscheidende Größe“, erklärt Krebs. Sie wird im gesamten Verbundnetz auf 50 Hertz stabilisiert – auf weniger als ein Zehntel Hertz genau .

Übersteigt der Stromverbrauch die erzeugte Menge, sinkt die Frequenz, weil die Generatoren der Kraftwerke gebremst werden – Bewegungsenergie wird in elektrische Energie umgewandelt, um kurzfristig den Mehrbedarf zu decken. Umgekehrt steigt die Frequenz bei sinkendem Bedarf: Die Generatoren beschleunigen ihre Drehung durch den Überschuss an Energie im Netz. Um diese kurzfristigen Schwankungen zu dämpfen, wird automatisch mehr oder weniger Wasser oder Dampf auf die Turbinen geleitet. Die Leistung der Kraftwerke wird so an den Verbrauch angepasst, die Frequenz wird wieder auf 50 Hertz geregelt.

Sind die Schwankungen zu groß – etwa beim plötzlichen Ausfall mehrerer großer Kraftwerke –, kann das Netz zusammenbrechen, wenn nicht genügend Leistungsreserve vorhanden ist. Um die zu sichern, wird im Verbundnetz der UCTE länderübergreifend Reserveleistung bereitgehalten.

3000 Megawatt stehen als so genannte Sekundenreserve zur Verfügung. Sie genügt, um innerhalb weniger Sekunden die Leistung zweier Großkraftwerke zu ersetzen. 750 Megawatt davon sind in Deutschland bereitzustellen. Die Sekundenreserve wird zum Beispiel dadurch gewährleistet, dass einige Gas- und Dampfkraftwerke einen gedrosselten Betrieb fahren – also eine Leistungsreserve besitzen, die rasch abgerufen werden kann. Zudem lassen sich in solchen Kraftwerken Dampfströme vorübergehend umleiten und zur Stromerzeugung nutzen. Diese Reserven werden bei Bedarf europaweit automatisch aktiviert und ins Netz gespeist. Bei Störungen, die länger als ein paar Minuten dauern, kann das Steuerungspersonal per Hand eingreifen und ganze Kraftwerke zuschalten.

Im liberalisierten Strommarkt, wo immer sparsamer in die Instandhaltung der Netze investiert wird, gewinnen technische Kniffe immer mehr an Bedeutung. Dennoch übt Siemens-Netzexperte Krebs Kritik: „Heute versucht jedes Unternehmen, die Systeme in seinem Bereich zu optimieren – doch das bedeutet nicht automatisch eine Optimierung des Gesamtsystems der Stromversorgung.“ Außerdem, klagt Krebs, geschieht zu wenig, um mögliche Fehler und deren Folgen für die Netze am Rechner zu simulieren – und daraus geeignete Vorkehrungen zum Schutz der Netze zu entwickeln.

Eine Entlastung der Netze verspricht der Trend zur dezentralen Stromerzeugung. So sollen künftig immer mehr kleine Kraftwerke in Siedlungen und Stadtbezirken, etwa Heiz- oder Brennstoffzellen-Kraftwerke, in das Stromversorgungsnetz integriert werden (bdw 9/2002, „Schrumpfkur für Stromer“). „ Dadurch sinkt die mittlere Entfernung zwischen Kraftwerk und Verbraucher – die Netze werden entlastet“, erklärt Rainer Krebs. „ Voraussetzung ist aber, dass die Kleinkraftwerke ihren Strom kontinuierlich und planbar ins Netz einspeisen.“

Gerade bei der Windenergie, deren Beitrag zur Stromversorgung in Deutschland am stärksten wächst, ist das nicht erfüllt. Das Problem ist die Unbeständigkeit des Windes. Je nach Wetterlage schwankt die von den Windkonvertern abgegebene Leistung enorm. Bei einem Kurzschluss im Versorgungsnetz verstärken die Windräder zudem das Problem: Statt das Netz mit Leistung zu stützen, schalten sich die meisten Anlagen dann einfach ab. Die Schwankungen des eingespeisten Windstroms führen zu einem hohen Bedarf an Regelleistung – Leistung aus konventionellen Kraftwerken, die etwa bei Flaute zugeschaltet werden kann. „ Bisher ist das noch kein großes Thema“, sagt der Energiewissenschaftler Haubrich. „Mit dem weiteren starken Ausbau der Windenergienutzung, wie ihn die Bundesregierung plant, wird der Bedarf an Regelenergie jedoch deutlich steigen.“ In einem Gutachten für die Netzbetreiber E.ON Netz und Vattenfall Europe Transmission nahmen Haubrich und seine Mitarbeiter die Auswirkungen der Windenergieeinspeisung auf die Übertragungsnetze unter die Lupe. Ergebnis: Pro Megawatt installierter Windenergieleistung braucht man zusätzlich etwa ein halbes Megawatt Reserveleistung, die innerhalb einiger Stunden zur Verfügung stehen muss. Bei der anvisierten Verdreifachung der installierten Windenergieleistung von heute gut 13000 auf rund 30000 Megawatt in den nächsten 10 bis 20 Jahren bedeutet das für das Netz von E.ON einen Zusatzbedarf von maximal 8000 und für Vattenfall von maximal 4000 Megawatt an Regelleistung – das Vier- bis Fünffache des heutigen Bedarfs.

„Ausreichende konventionelle Kraftwerksleistung ist und bleibt damit der entscheidende Faktor für die Versorgungssicherheit der Übertragungsnetze“, sagt Matthias Boxberger von E.ON Netz. Siemens-Experte Krebs prophezeit als Folge des Ausbaus der Windfarmen vor allem einen Aufschwung für den Stromhandel: „ Derzeit ist es weitaus preisgünstiger, zusätzliche Leistung aus Kraftwerken in Osteuropa zu kaufen, als in Deutschland neue Anlagen zu bauen.“ Im Klartext: Die verstärkte Nutzung der Windenergie wird durch einen wachsenden Import von Strom aus teils besonders umweltschädlichen Kraftwerken im Ausland erkauft.

Neben dem wachsenden Bedarf an Regelleistung stellen insbesondere die geplanten riesigen Offshore-Windparks vor den Küsten von Nord- und Ostsee die Netze auf die Probe. „Anders als bei den bisherigen Kraftwerken in der Nähe von Verbrauchsschwerpunkten erzeugen diese regional konzentrierten Windfarmen große Energiemengen weitab von den Verbrauchern“, sagt Hans-Jürgen Haubrich. „Um diese Energie zu den Abnehmern, zum Beispiel im Ruhrgebiet oder in Süddeutschland, zu befördern, reichen die ohnehin stark belasteten Übertragungsnetze nicht aus.“ Daher, hat Haubrich berechnet, müssen parallel zum Auf- und Abbau der On- und Offshore-Windparks in Deutschland bis zu 1500 Kilometer neue Hochspannungsleitungen errichtet werden – Kosten: schätzungsweise rund 100 Millionen Euro pro Jahr.

Nach der Liberalisierung der Stromversorgung wird weniger als früher in die Instandhaltung der Netze investiert.

Durch den verstärkten internationalen Stromhandel sind die Übertragungsnetze vielerorts an der Grenze ihrer Belastbarkeit angelangt.

Der geplante Bau von riesigen Windparks in Nord- und Ostsee macht einen Neubau von rund 1500 Kilometern Hochspannungsleitungen erforderlich.

Ralf Butscher

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