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DIE ARCHIVARIn

Gesellschaft|Psychologie

DIE ARCHIVARIn
Die Amerikanerin Jill Price machte Schlagzeilen als Gedächtniswunder. Doch so wundersam ist ihre Fähigkeit nicht, wie ein Psychologe jetzt herausfand.

Es ist Beeindruckend: Die 43-Jährige erinnert sich an jeden Tag ihres Lebens, seit sie 14 wurde. Wie war zum Beispiel der 18. Juli 1984? „Ein Mittwoch. Ein ruhiger Sommertag. Ich habe das Buch ‚Helter Skelter‘ zur Hand genommen und zum zweiten Mal gelesen.” Jill Price macht Schlagzeilen als Erinnerungsgenie, seit der prominente Gedächtnisforscher James McGaugh von der University of California Irvine vor drei Jahren erstmals über ihre Fähigkeit berichtete. In seinem Labor hatte Jill Price aus dem Kopf sämtliche Tage aufgeschrieben, auf die Ostern seit 1980 gefallen war. Dabei lag sie nur einmal daneben – um zwei Tage. Während sie die Gegenwart erlebt, werden in ihrem Kopf gleichzeitig Szenen aus der Vergangenheit abgespult. „Es ist ein Film, der nie aufhört. Es ist wie eine geteilte Leinwand”, beschreibt es Jill Price.

McGaugh und sein Team kreierten nach ihren Untersuchungen eigens einen neuen medizinischen Begriff für sie. Jill Price ist demnach der erste Fall des Hyperthymestischen Syndroms, benannt nach dem griechischen Wort für Erinnern, „thymesis”. Doch das war wohl etwas voreilig. „Wenn man Artikel über Jill Price liest, ist man frappiert”, sagt der Gedächtnisforscher Hans Markowitsch von der Universität Bielefeld. Mit einer näheren Einschätzung hält er sich allerdings zurück: „Dazu müsste man den Fall selbst untersuchen.” Als sein Kollege Gary Marcus von der New York University das vor Kurzem tat, kam er zu dem Schluss: Jill Price verfügt keineswegs von Natur aus über ein Supergedächtnis – sie ist vor allem fleißig. „Tagesdaten sind ihre ständigen Begleiter, und deshalb kann sie sich so gut an die Vergangenheit erinnern. Das ist alles”, argumentiert Marcus.

Wache Auf, Hänge Herum

Als Jill Price mit 13 ihren ersten Freund hatte, begann sie Tagebuch zu führen. Doch anders als andere Teenager vertraute sie dem Tagebuch nicht ihre geheimsten Gedanken und Gefühle an. Sie hielt Fakten fest wie eine Buchhalterin. Etwa: „Freitag, 26. Februar 1993: Wache auf, hänge herum und entspanne. Um 9 Uhr morgens sehe ich mir die Nachrichten des Senders WWOR an, und um 9.17 Uhr wird über einen Bombenanschlag auf das World Trade Center berichtet.” Sie schreibt winzig und bringt über 2000 Wörter auf einer Seite unter. Würden ihre Tagebücher mit der Maschine abgetippt, ergäben sich über 50 000 Seiten.

Der Widersinn dieser mühseligen Arbeit ist ihr bewusst: „Mit meinem Gedächtnis sollte ich doch der letzte Mensch auf Erden sein, der ein Tagebuch führen muss”, schreibt sie in ihrer Lebensgeschichte „Die Frau, die nichts vergessen kann”. Für Gary Marcus ist das nur scheinbar paradox: Gerade weil Jill Price so viel Zeit mit ihren Tagebüchern verbringe, erinnere sie sich so genau an die Vergangenheit. Auch sonst agiert die Amerikanerin wie eine Archivarin. Sie hat all ihre Kuscheltiere aufgehoben und besitzt 2000 Videokassetten. Lange hatte sie eine Sammlung sämtlicher Ausgaben einer Fernsehzeitschrift aus fast zwei Jahrzehnten. Da ist es nicht mehr so verwunderlich, dass sie bei einem Fernsehauftritt sagen konnte, wann die letzte Episode der Serie „Mash” ausgestrahlt wurde. Was sie nicht memoriert, weiß sie auch nicht besser als andere: Als sie nach einer mehrstündigen Untersuchung gefragt wurde, was die Wissenschaftler anhatten, musste sie passen.

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In den Augen von Marcus geht ihre besessene Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit in Richtung Zwangsstörung, auch wenn seine Untersuchung für eine formelle Diagnose nicht ausreicht. Jill Price bescheinigt sich selbst einen „Ordnungszwang”. Sie will ihre Erinnerungen nicht missen, aber sie leidet auch unter ihnen. „Ich wurde zur Gefangenen meines Gedächtnisses”, schreibt sie. Ihre Beschäftigung mit der verlorenen Zeit begann in einer Krise: Als sie acht Jahre alt war, zog ihre Familie von der amerikanischen Ostküste an die Westküste – für Jill Price, die keine Veränderungen mag, eine traumatische Erfahrung. Sie begann, ihre „Erinnerung zu organisieren”, stellte Listen ihrer Freunde auf und betrachtete lange Fotos des alten Hauses. Als sie mit 37 Jahren wieder umziehen musste, stürzte sie abermals in eine Krise. Sie wollte sich vor allem nicht von einer Tapete trennen, auf der sie 26 Jahre lang Notizen wie „Glücklicher 30. Geburtstag” hinterlassen hatte. Am Ende kratzte sie die Tapete mit einem Rasiermesser von der Wand und bewahrte die Fetzen in einer Schachtel auf.

Aufnahmen ihres Gehirns ähneln angeblich denen von Zwangskranken. So jedenfalls gab Jill Price gegenüber Gary Marcus das Ergebnis der Ärzte wieder. Veröffentlicht wurden die Aufnahmen und ihre Auswertung bislang nicht. Die Meinung von Kollegen will McGaugh nicht hören, und auch die Einwände von Gary Marcus interessieren ihn nicht. „Beobachtungen zu unseren Forschungsbefunden sind von vielen gemacht worden, und ich habe weder Zeit noch Interesse, auf die vielen Beobachtungen von anderen einzugehen”, antwortete er auf eine Anfrage von bild der wissenschaft. Dabei ist die Debatte, ob es Menschen mit Supergedächtnis gibt, keineswegs neu. Zwar konnte vor Jill Price niemand so detailliert von der eigenen Vergangenheit berichten. Doch es gibt Gedächtniskünstler, die sich enorme Mengen von Fakten einprägen können (siehe Kasten „Berühmte Gedächtnis-Akrobaten”). Viele dieser Gedächtniskünstler arbeiten allerdings mit bekannten Merkstrategien. Ob manche tatsächlich Naturbegabungen sind oder – vielleicht unbewusst – diese Strategien nutzen, ist umstritten. Eine Untersuchung der Gehirne von acht Gedächtniskünstlern mithilfe der Magnetresonanztomographie zeigte jedenfalls unauffällige Anatomien. Gary Marcus bezweifelt, dass es bei Gedächtnisleistungen grundlegende Unterschiede im Gehirn gibt: „ Ich wäre überrascht, wenn das Gehirn bei manchen Menschen völlig anders ‚verdrahtet‘ wäre.”

Die Gedächtnisforscher warten derweil darauf, dass McGaugh weitere Befunde vorlegt. Nach dem Wirbel um Jill Price haben sich bei ihm drei andere Menschen gemeldet, die ähnlich detailliert aus ihrem Leben berichten können. Sie alle neigen zu Zwängen und horten enorme Mengen an Erinnerungsstücken. ■

JOCHEN PAULUS, Wissenschaftsjournalist in Frankfurt/Main, fände es sehr lästig, sich an alle trivialen Details seines Lebens zu erinnern.

von Jochen Paulus

BERÜHMTE GEDÄCHTNIS-AKROBATEN

· Der Göttinger Mathematiker Gottfried Rückle konnte sich 25 vorgelesene Ziffern merken und dann rückwärts aufsagen. Er nutzte dazu Assoziationen – 427 war etwa das Geburtsjahr Platons. Außerdem setzte er seine beachtlichen Fähigkeiten im Kopfrechnen ein: 893 047 merkte er sich als Zusammensetzung aus 19 x 47 = 893 und 1 x 47 = 047.

· Der russische Journalist Solomon Schereschewski konnte beliebig lange Wortlisten wiederholen – jedenfalls fand der Neuropsychologe Alexander Luria nie eine Grenze. Auch nach Jahren hatte Schereschewski die Wortlisten nicht vergessen. Ein Teil des Geheimnisses waren wohl seine synästhetischen Empfindungen. Wenn er etwa „1″ hörte, sah er einen stolzen schlanken Mann vor sich.

· Ein unter dem Kürzel VP bekannter Gedächtniskünstler soll schon mit fünf Jahren den Plan seiner Heimatstadt Riga auswendig gekonnt haben, die eine halbe Million Einwohner zählte. Mit zehn lernte er für einen Wettbewerb 150 Gedichte auswendig. Er merkte sich große Mengen unsinniger Silben, indem er sie mit Wörtern aus einer der vielen Sprachen verband, die er beherrschte. VP konnte ohne Notizen bis zu 60 Partien Fernschach gleichzeitig spielen. Er hatte den IQ eines Hochbegabten.

· Alexander Aitken, Mathematikprofessor aus Edinburgh, las 1934 zweimal die absurde Geschichte vom „Krieg der Geister”. Noch 26 Jahre später gab er sie mit großer Genauig- keit wieder. Wenn er 15 Ziffern sah, konnte er sie sich auf Anhieb merken. In seinem mathematisch geschulten Gehirn fanden sie sich wie von selbst zu merkbaren Gruppen zusammen, berichtete er.

KOMPAKT

· Für die Gedächtnisleistung der Amerikanerin Jill Price kreierten Forscher eigens ein Syndrom.

· Offenbar hängt ihre Fähigkeit aber mit einer Zwangsstörung zusammen.

· Ob es überhaupt Menschen mit einem angeborenen Supergedächtnis gibt, ist fraglich.

Mehr zum Thema

Lesen

Jill Price DIE FRAU, DIE NICHTS VERGESSEN KANN Kreuz, Stuttgart 2009, € 19,95

Internet

Bericht von James McGaugh über Jill Price: today.uci.edu/pdf/AJ_2006.pdf

Gary Marcus über Jill Price: www.wired.com/medtech/health/ magazine/17–04/ff_perfectmemory

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