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Elektronen im Blitzlichtgewitter

Astronomie|Physik Geschichte|Archäologie

Elektronen im Blitzlichtgewitter
Physiker können inzwischen zuschauen, wie Elektronen um Atome flitzen. Ultrakurze Lichtblitze machen es möglich.

Platzende Luftballons und fallende Wassertropfen – mit Superzeitlupe gefilmt machen solche Bilder die Ereignisse für das menschliche Auge sichtbar. Aber die Bewegungen von Elektronen in Atomen, Molekülen und Festkörpern lassen sich selbst mit extremsten Zeitlupenbildern von Stroboskopen nicht festhalten. Erst raffinierte Attosekunden-Laser erlauben es jetzt Physikern, kleinste Zeiträume auszuloten und die Welt weit jenseits des menschlichen Wahrnehmungsvermögens anschaulich zu machen.

Dies ist ein weiterer Schritt in der Erfolgsgeschichte der Bewegungsfotografie. Sie begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als diskutiert wurde, ob Pferde im Galopp stets mindestens mit einem Bein den Boden berühren oder aber für kurze Zeit alle Hufe in der Luft haben. Für Klarheit sorgte der Engländer Eadweard Muybridge – dessen Persönlichkeit übrigens mehr als „sonderbar“ war: Zum Beispiel gab er seinen Sohn ins Waisenhaus und erschoss den Liebhaber seiner Frau. Aber Muybridge gelang 1872 ein Geniestreich, mit dem die Menschheit einen bildlichen Zugang zur Welt der Schnelligkeit bekam: Im Auftrag des Eisenbahnmoguls Leland Stanford fotografierte Muybridge das damals legendäre Rennpferd Occident im vollen Galopp. Mit einem aus heutiger Sicht fast aberwitzig anmutenden Aufbau an Kameras, Drähten und Akkus gelangen Muybridge die erhofften Aufnahmen – und der Beweis: Auf manchen Bildern hatte Occident alle Beine gleichzeitig in der Luft.

BEINWECHSEL EINGEFROREN

Bei Occident genügte eine Fünfhundertstelsekunde – für die damalige Technik sensationell kurz –, um den raschen Wechsel der Beine im Bild „einzufrieren“. Eine Gewehrkugel erfordert bereits Belichtungszeiten von einigen Mikrosekunden, um sie fotografisch scharf zu erfassen. Und wenn Physiker die Bewegung von Elektronen in Atomen, Molekülen oder Festkörpern mit Bildern festhalten wollen, dann geht es um Attosekunden.

Eine Attosekunde ist unvorstellbar kurz. Sie verhält sich zu einer Sekunde wie diese zum Alter des Universums. „Attosekunden“, sagte der kanadische Wissenschaftler Paul Corkum, einer der Väter der Attosekunden-Physik, „sind die wahre Zeitskala der Materie.“ Das menschliche Herz schlägt einmal pro Sekunde. Blitze eines Gewitters leuchten für eine Hundertstel Sekunde auf. Ein PC braucht eine Milliardstel Sekunde (eine Nanosekunde), um einen Programmbefehl auszuführen. Laserpulse, die bei Augenoperationen verwendet werden, dauern zig Billionstel Sekunden (Pikosekunden). Die Farbpigmente im menschlichen Auge reagieren innerhalb von 200 Billiardstel Sekunden (Femtosekunden) auf Licht.

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Doch selbst von den Femtosekunden ist es noch immer ein Sprung um den Faktor 1000, um ins Reich der Attosekunden vorzudringen, den Trillionstel Sekunden. Innerhalb dieser ultrakurzen Zeitspanne können im Mikrokosmos Dinge geschehen, die man übersieht, wenn das Blitzlicht zu träge ist. Zum Beispiel „ umkreist“ das Elektron in einem Wasserstoff-Atom den Kern innerhalb von nur 24 Attosekunden.

einzelne ultrakurze blitze

Dass die Welt der Elektronen extrem schnelllebig ist, wissen Physiker schon lange. Doch erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist es gelungen, Theorie und Technik zur Erzeugung von ultrakurzen Belichtungszeiten entsprechend weiterzuentwickeln. Und erst seit einem guten Jahrzehnt schafft man es, kontrolliert Lichtblitze im Bereich von Attosekunden zu erzeugen.

Im Jahr 2001 gab es erstmals Lichtblitze von einigen Hundert Attosekunden Länge. Unabhängig voneinander realisierten das ein französisch-niederländisches Team um Pierre Agostini und eine österreichisch-deutsch-kanadische Gruppe um Ferenc Krausz, damals noch an der Technischen Universität Wien. Während das Team um Agostini viele solche Blitze rasch nacheinander aussandte, erzeugten Krausz und seine Kollegen einzelne, isolierte Attosekundenblitze.

„Bis dahin konnten wir nur mit indirekten Messungen die Bewegung der Elektronen in Atomen verfolgen. Nun ist das anders“, sagt Krausz, der seit 2003 am Max-Planck-Institut für Quantenoptik (MPQ) in Garching forscht und dort inzwischen eine der weltweit leistungsfähigsten Anlagen für Attosekunden-Physik aufgebaut hat.

SCHÄRFE DURCH KÜRZE

Diese Art der Belichtung hat nichts mehr mit der klassischen Fotografie zu tun. Nur der Grundsatz ist derselbe: Für scharfe Aufnahmen muss die Belichtungszeit kurz genug sein. Die erforderlichen Geräte muten genauso komplex an, wie Muybridges Aufbau damals seinen Zeitgenossen erschien.

Beim raumfüllenden Attosekunden-Stroboskop am MPQ handelt es sich um einen Hightech-Laser, der Lichtblitze von 20 Femtosekunden Dauer erzeugt. Diese Lichtblitze werden mit Spiegeln auf 3,5 Femtosekunden komprimiert und in einer Kammer fokussiert, die ein Edelgas enthält. Aufgrund der energiereichen Laserpulse fangen dort die Elektronen der Edelgas-Atome an zu schwingen und senden dadurch Blitze im extremen Ultraviolett- oder Röntgenlicht aus, die kürzer als 100 Attosekunden sind. So erreichen die MPQ-Physiker die erforderlichen Belichtungszeiten und leiten die Attosekunden- Blitze in eine große Vakuumkammer, wo sich das eigentliche Motiv befindet: Elektronen, die in einem Atom oder Molekül gebunden sind oder sich in einem Festkörper bewegen.

unter Laserpuls-Beschuss

„In den vergangenen Jahren mussten wir und die anderen experimentellen Arbeitsgruppen vor allem Vertrauen in die Messtechnik entwickeln“, sagt Ferenz Krausz. Daher untersuchten die Physiker in erster Linie einfache Gase. Wie diese sich verhalten, wenn man sie mit energiereichen Laserpulsen beschießt, ist berechenbar, sodass die Forscher überprüfen konnten, ob sie die erwarteten Resultate bekamen. Und das war der Fall.

So jung das Forschungsgebiet noch ist, es gibt bereits erstaunliche Resultate: Einer Gruppe um Anne L’Huillier, Professorin an der schwedischen Universität Lund, und Marc Vrakking, Direktor des Max-Born-Instituts in Berlin, gelang es erstmals, die Bewegung von Elektronen in Molekülen direkt nachzuweisen.

Außerdem haben die „ultrakurzen Bilder“ gezeigt, dass Elektronen, die sich auf verschiedenen Bahnen um einen Edelgas-Atomkern bewegen, nicht gleichzeitig das Atom verlassen, wenn sie von ausreichend energiereichen Laserblitzen getroffen werden: MPQ-Wissenschaftler maßen mithilfe eines Attosekunden-Stroboskops eine winzige Zeitdifferenz. Anscheinend hindern die im Atom verbleibenden Elektronen ihre absprungbereiten Artgenossen unterschiedlich stark am Verlassen des Atoms.

PHYSIK FÜR SCHNELLERE COMPUTER

Die Attosekunden-Physik ist zwar bis heute Grundlagenforschung, aber sie wird eines Tages in der Praxis eine wichtige Rolle spielen: zum Beispiel, um den Wirkungsgrad von Solarzellen zu steigern oder um biologische Systeme, in denen Elektronen mit Licht wechselwirken, detailliert zu entschlüsseln und vielleicht sogar in der Medizin, um die molekulare Entstehung von Krankheiten oder die Wirkung von Medikamenten nachzuvollziehen.

Auch die Computertechnik wird von den Erkenntnissen der Attosekunden-Physik profitieren: Die Geschwindigkeit der Schaltprozesse begrenzt das Rechentempo von Computern. Wie schnell ein Mikrochip schaltet – also den Zustand An oder Aus einnimmt –, hängt letztlich von der Zeit ab, die ein Elektron benötigt, um durch die Chipstrukturen zu gelangen, von denen es kontrolliert wird: je kleiner die Strukturen, desto größer die Schaltgeschwindigkeiten.

Da in einem Festkörper die kleinstmögliche Distanz für das Leiten und Schalten von Strömen der Abstand zwischen zwei benachbarten Atomen ist, wären Bauteile von nur atomaren Ausmaßen das Nonplusultra – dünner geht nicht. Elektronen würden sich in diesen Schaltkreisen innerhalb von Attosekunden hin und her bewegen. Auch wenn man berücksichtigt, dass solche Systeme mit atomaren Bauteilen bei jedem Schaltvorgang etwas Zeit benötigen, um einzuschwingen – also um sich zu „stabilisieren“ –, ließen sie sich pro Sekunde immer noch öfter als eine Billiarde Mal schalten, vielleicht sogar zehn Billiarden Mal. Solche Petahertz-Prozessoren wären ungefähr eine Million Mal schneller als die PC-Prozessoren heute.

KONTROLLE ÜBER DIE QUANTENWELT

Um genau zu verstehen, wie sich solche futuristischen elektronischen Bauteile verhalten, wäre es äußerst hilfreich, den Elektronen bei ihren Bewegungen zuzuschauen. „Wir werden mit der Attosekunden-Messtechnik überprüfen können, wo die Grenzen der heutigen Elektronik liegen“, nennt Krausz das Ziel.

Doch die Wissenschaftler wollen mit der Attosekunden-Messtechnik nicht nur zuschauen, sondern sie wollen selbst steuernd eingreifen: Mit jedem Lichtblitz ist ein elektromagnetisches Feld assoziiert. So kurz der Blitz auch ist, er übt eine Kraft auf die Elektronen aus. Und anders als bei Bildern von makroskopischen Objekten ist die Größe dieser Kraft bei Aufnahmen in der Quantenwelt nicht zu vernachlässigen. „Mit unseren kontrollierten Lichtwellen können wir Elektronen prinzipiell steuern“, nennt Krausz die verlockende Perspektive.

Das wäre, wie wenn man die Hufe des Pferds Occident nicht nur scharf abbilden würde, sondern auch selbst anheben könnte. Die große Hoffnung ist, dass die Attosekunden-Physik es eines Tages nicht nur erlaubt, technische Vorgänge gezielt zu beeinflussen, sondern sogar lebenswichtige Prozesse im Menschen zu steuern. ■

MICHAEL VOGEL ist Physiker und Journalist. Zuletzt schrieb er im Juli-Heft von bdw über Data Mining in der Astronomie.

von Michael Vogel

Europas starke Position

Vor den Attosekunden-Pulsen kommen die Femtosekunden-Pulse. Bereits mit solchen 1000 Mal längeren Laserblitzen können Wissenschaftler der Materie zuschauen – zum Beispiel bei chemischen Prozessen, bei denen sich die Atomkerne in Molekülen auf der Zeitskala von Femtosekunden bewegen. Sie sind deutlich langsamer als Elektronen, weil sie eine größere Masse haben. Der gebürtige Ägypter Ahmed Zewail dokumentierte diese Bewegungen der Atomkerne erstmals mithilfe von Femtosekunden-Laserblitzen und erhielt dafür 1999 den Chemie-Nobelpreis.

Von der Femtochemie führte der Weg zur Attosekunden-Physik. Gegen Ende der 1990er-Jahre schlug der Kanadier Paul Corkum eine Methode vor, wie sich Attosekundenblitze erzeugen und messen lassen. Die Attosekunden-Physik wurde dann vor allem von europäischen Forschern weiterentwickelt. Sie arbeiteten dabei sehr eng zusammen und gaben sogar bei Zeitschriften eingereichte Fachartikel bereits vor der Veröffentlichung an die anderen Arbeitsgruppen weiter. „Daher hat es mich nicht überrascht, dass die technische Erzeugung von Attosekunden-Blitzen erstmals in Europa gelang“, sagt Paul Corkum. Inzwischen gibt es weltweit schätzungsweise 30 bis 40 Arbeitsgruppen, die sich mit der Attosekunden-Physik befassen – Tendenz steigend.

Kompakt

· Um die Bewegung von Elektronen in Atomen und Festkörpern zu dokumentieren, erzeugen Physiker extrem kurze Lichtblitze von einigen 10 bis 100 Trillionstel Sekunden.

· Die Attosekunden-Physik erlaubt nicht nur tiefere Einsichten in die Quantenwelt, sondern weckt auch Hoffnungen auf revolutionäre technische und medizinische Anwendungen einschließlich superschneller Computer.

Mehr zum Thema

LESEN

Tiefere Einsichten in die Attosekunden-Physik:

Matthias Kling, Marc Vrakking Elektronen unter Kontrolle Physik Journal 1/2012, S. 25–30

Paul Corkum Recollision Physics Physics Today 3/2011, S. 36–4 1

Reinhard Kienberger, Ferenc Krausz Elektronenjagd mit Attosekundenblitzen Spektrum der Wissenschaft 2/2009, S. 32–4 0

INTERNET

Umfangreiche Einführung von einer der maßgeblichen Arbeitsgruppen: www.attoworld.de

Kurzfilm zur Attosekunden-Physik: www.youtube.com/watch?v=wOB1jH5CjY4

Molekulare Manipulation

Ein zweiatomiges Molekül kann zugleich in seinem Grundzustand (unten) und in einem angeregten Zustand (oben) sein – eine verrückte Quanteneigenschaft. Wenn ein kurzer Laserpuls ein Elektron im Molekül anregt (blau-roter Pfeil) und es „zurückfällt“ , sendet es Röntgenstrahlung aus (violett), die interferiert. Damit können Physiker das Zerbrechen einer Molekülbindung auf 10-18 Sekunden genau messen.

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