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Elastische Gesetzestreue

Allgemein

Elastische Gesetzestreue
Kein einziger Bundesbürger steht ohne Wenn und Aber zu den Gesetzen.

Mit den Gesetzen nehmen es nicht einmal die so genau, die sie machen. So verflogen Parlamentarier wie der Grüne Cem Özdemir und PDS-Star Gregor Gysi dienstlich angesammelte Bonus-Flugmeilen privat. Eben dies hatten sich die Abgeordneten des Bundestags verboten. Während die ertappten Sünder wegen dieser vergleichsweise „lässlichen Sünde” zurücktraten, weigert sich Helmut Kohl weiterhin offensiv, den Gesetzen zu gehorchen, und will die Namen seiner Spender nicht herausgeben. Die private Interpretation von Vorschriften beherrscht offenbar weite Bereiche nicht nur des öffentlichen Lebens. Mangelnde Gesetzestreue ist jedoch keineswegs das zweifelhafte Privileg von Politikern. Bedingungslose Anhänger unserer Rechtsordnung gibt es womöglich überhaupt nicht. Selbst zu einer grundsätzlich positiven Einstellung gegenüber den Gesetzen reicht es nur bei der Hälfte der Bundesbürger. Zu diesem Fazit kommt die Frankfurter Psychologin Ingrid Deusinger. Seit 15 Jahren arbeitet die inzwischen emeritierte Professorin an ihrem „Frankfurter Rechtsinventar”, das jetzt veröffentlicht wird. Als Sozialpsychologin interessiert sie sich für die Ansichten ihrer Mitmenschen. Die zu Recht und Gesetz erweckten ihre Neugier besonders. Denn sie schienen immer mehr zu verfallen, wenn sie ihre Mitstudenten der so genannten Achtundsechziger-Generation betrachtete. Sie sammelte an die 400 Fragen rund um das Thema Recht. Nach vielen Überprüfungen blieben am Ende 78 besonders geeignete für das Rechtsinventar übrig. 18 davon befassen sich mit der Gesetzestreue der Deutschen. Zur Bewertung steht etwa die These: „Man sollte die Gesetze befolgen, egal, wie sehr sie die eigenen Wünsche beschneiden.” Schon während der Test-Entwicklung wurden etliche Tausend – anonym befragte – Deutsche mit solchen Gewissensfragen konfrontiert, um die Fragen auf ihre Aussagekraft zu überprüfen. Die Ergebnisse fielen erstaunlich aus. Eigentlich war es nicht schwierig, durch den professoralen Test eine positive Einstellung bescheinigt zu bekommen – es genügte, gesetzestreuen Aussagen wenigstens im Durchschnitt „eher” zuzustimmen – und negativ formulierte Fragen „eher” abzulehnen. Doch gleich beim ersten Probelauf mit 448 Erwachsenen aus dem Rhein-Main-Gebiet bekundeten nur 53 Prozent eine positive Einstellung zu den Gesetzen. Kein Einziger bekannte sich ohne Wenn und Aber zur Rechtsordnung. Nur 2 Prozent schafften wenigstens 96 Punkte – von 108 möglichen – und dokumentierten damit eine „sehr positive” Einstellung. 36 Prozent gaben sich neutral – weder so richtig für das Einhalten der Gesetze, noch ausdrücklich dagegen. 11 Prozent lehnten es rundweg ab, sich an staatliche Vorgaben zu halten. Diese erste Stichprobe war durchaus typisch. Die nächste Studie mit 1388 Teilnehmern kam zu vergleichbaren Ergebnissen – mit 47 Prozent zeigte diesmal allerdings nur knapp die Hälfte eine generelle positive Einstellung zu den Gesetzen. So wenig Rechtstreue findet Psychologin Deusinger „schon bedenklich”. Zwar waren ihre Stichproben nicht streng repräsentativ, doch nicht einmal Polizeibeamte erwiesen sich bei der Befragung als hundertprozentig gesetzestreu. Da Einstellungen sich schon im frühen Kindesalter bilden, gibt es nach Ansicht von Frau Deusinger seit einigen Jahrzehnten Defizite in der Erziehung. Das Befolgen von Gesetzen gelte offenbar inzwischen als reine Sekundärtugend und werde den Kindern kaum nahe gebracht. „Ich denke, dass das früher etwas anders war”, so die Psychologin. Ein besonders distanziertes Verhältnis haben Studenten in Fakultäten, die eher als links gelten. Angehende Sozialwissenschaftler stehen – verglichen mit Juristen oder Naturwissenschaftlern – deutlich distanzierter zum staatlichen Regelwerk. Ist es ein Zeichen von fortschrittlichem Denken und Emanzipation, wenn Gesetze nicht einfach akzeptiert, sondern immer neu hinterfragt werden? Da ist Ingrid Deusinger konservativ: In ihren Augen regeln Gesetze das Zusammenleben und sind daher für alle verbindlich – selbst wenn es „wahrscheinlich jede Menge überflüssiger Gesetze” gibt. Es geht der Psychologin nicht um Kadavergehorsam: Wer im Ausnahmefall einem Gesetz aus Überzeugung nicht folgen mag, erhält im Test immer noch einen positiven Wert. Allzu große Reserviertheit gegenüber der Rechtsordnung ist riskant: Menschen mit besonders niedrigen Testergebnissen finden sich auffällig häufig im Gefängnis wieder. 36 Prozent der befragten Häftlinge halten nichts von Recht und Ordnung – das sind mehr als doppelt so viele wie in der Gesamtbevölkerung. Weitere 39 Prozent von 152 anonym befragten Knast- insassen konnten sich nur eine neutrale Einstellung zum Gesetzbuch abringen. Nur das verbleibende Viertel erkannte die Gesetze an, für deren Bruch es einsaß. Lässt sich der Test einsetzen, wenn es um eine Entlassung auf Bewährung geht? „Im Prinzip schon”, meint Ingrid Deusinger. Der psychologische Gutachter müsste im Hinterkopf behalten, dass ein Gefangener merkt, worauf die Fragen abzielen und bei den Antworten tricksen könnte. Ganz so einfach wäre das allerdings nicht: Wer dabei übertreibt, schneidet schnell besser ab als fast die ganze Bevölkerung in Freiheit. Da würde der Gutachter allemal misstrauisch. Doch auch unbescholtene Bürger pfeifen auf die Gesetze, wenn andere Pflichten vermeintlich schwerer wiegen. Als heikel erwies sich etwa die Frage, ob man einem guten Freund zuliebe eine falsche Aussage vor Gericht machen dürfe. Da stellen 42 Prozent die persönliche Loyalität über die Paragrafen. Wo Freundespflichten so viel bedeuten, kann auch Helmut Kohl auf Verständnis hoffen. Zwar legen konservative Wähler nach den Deusinger-Untersuchungen mehr Wert auf Gesetzestreue. Doch in diesem Fall dürften auch aus diesem Lager viele für Milde plädieren. Anhand ihrer Daten schätzt die Frankfurter Forscherin: Etwa die Hälfte der Bevölkerung findet Kohls gesetzwidriges Schweigen richtig.

Kompakt

Nur 47 Prozent der Deutschen haben eine grundsätzlich positive Einstellung zu den Gesetzen, die sich die Gesellschaft gegeben hat. Überdurchschnittlich viele Sozialwissenschaftler stehen dem gesetzlichen Regelwerk besonders reserviert gegenüber. Für Freundestreue würden sich viele Bundesbürger über Paragraphen hinwegsetzen.

Jochen Paulus

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