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Der dressierte Nachwuchs

Allgemein

Der dressierte Nachwuchs
Bei allen Bemühungen um die Kinder – seien es pädagogische, psychologische oder esoterische – geht es immer um die Eltern.

Auch in anderen Kulturen glauben die Menschen an die Vorbestimmtheit des Schicksals. Die einen machen die Sterne verantwortlich, die anderen das Karma oder die Fügung Gottes. In unserer Kultur ist es die „Infantildetermination“ – die Vorstellung, dass die frühesten Lebenserfahrungen das ganze weitere Leben entscheidend prägen. … Wenn es eine psychologische Wahrheit gibt, die bis in den hintersten Winkel geglaubt wird, dann die vom kindlichen Determinismus. Wenn jemand erklären will, warum er heute keine Leber isst, Angst vor Spinnen hat, genial musiziert oder kleine Mädchen misshandelt, dann wird er auf seine früheste Kindheit Rekurs nehmen. Irgendeine Traumatisierung findet sich schon. Die Akzente verschieben sich immer weiter zurück zum Anfang. Ursprünglich waren es die ersten fünf Jahre, dann das erste Jahr, dann die ersten Stunden, nun sind wir bei der Geburt und der Zeit davor angelangt. Einem esoterisch eingefärbten Psychoberater bereitet es keine Schwierigkeiten, ein Problem in der Gegenwart mit der falschen Geburtslage des Embryos aufgrund unbewusster Widerstände der Mutter gegen das Kind zu begründen. Im Gegensatz zu den Sternen und Genen hat dieser Determinismus den Vorteil, dass Eltern Einfluss haben auf die Zukunft ihrer Kinder und damit auf die Zukunft überhaupt. … Von dieser Sorge um das Glück des Kindes, die immer auch eine Sorge um seine Lebenstüchtigkeit und Wettbewerbsfähigkeit ist, profitiert ein ganzer psychosozialer Dienstleistungsbereich. Mit Schwangeren-Yoga, Babyschwimmen und Mutter-und-Kind-Tanzen klinken sich Eltern frühestmöglich in ein Beratungsnetz ein, das Versprechen abgibt auf eine optimale körperliche, sprachliche und emotionale Entwicklung des Kindes. Begründung für alle Investitionen in die frühkindliche Seele ist die Hoffnung, dass etwas davon hängen bleibt. Hinter jeder Erziehungsmethode steckt der verzweifelte Wunsch, dass sich das Kind nach kausalen Gesetzen entwickeln möge. … Kronzeugin für die übermäßige Sorge ist die Psychologie. Sie wacht scheinbar wie ein Schutzengel neben der Wiege eines jeden Neugeborenen. Ob es um Kaiserschnitt geht, Flaschenmilch, Krippenbetreuung, Ganztagesschulen oder Gummibärchen – sie hat immer eine Warnung beizusteuern. … Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein neues Kind geschaffen, ein domestiziertes, ein von Natur aus gutes. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der NS-Zeit waren so unfassbar, dass man sich zur Unschuld zurückwünschte. Man erträumte sich den im tiefsten Inneren liebesbedürftigen Menschen; das humane, weniger egoistische Kind, das die Liebe seiner Eltern braucht. … Die passende psychologische Theorie in diesem gesellschaftlichen Kontext und die bis heute einflussreichste war die Bindungstheorie. Bindung wurde zum Zauberwort, das es in seiner moralischen Wertigkeit leicht mit dem Begriff Menschlichkeit aufnehmen konnte. Bindung stand ganz oben auf der Wunschliste von Eltern und Psychologen. Bindung zwischen Mutter und Kind schien die Voraussetzung für alle anderen Tugenden zu sein. Der Psychoanalytiker, der einen entscheidenden Beitrag zur Etablierung dieser Theorie leistete, John Bowlby, war selbst ein geschädigtes Internatskind. In seiner späteren Arbeit in der Kinderpsychiatrie hatte der Engländer Gelegenheit, die Auswirkungen von Mutter-Kind-Trennungen zu untersuchen. Seiner Beobachtung nach brauchen Kinder ein Grundmaß an Zuwendung, sonst entwickelten sie massive Verhaltensstörungen. Eine lang anhaltende Trennung von der Mutter ohne ausreichenden Ersatz stelle ein hochgradiges Risiko für die seelische Entwicklung dar. Diese an sich banale Behauptung erklärte Bowlby auf neue Weise, nämlich mit den natürlichen Bindungswünschen eines jeden Kindes. Das Kleinkind verlangt nach einem Liebesobjekt, nicht nur, weil es seine Triebstruktur so will, sondern weil es unbedingt Sicherheit und Kontakt braucht. Nähe und Geborgenheit wurden neben der Sättigung zum wichtigsten, was eine Mutter ihrem Kind geben musste. … Mary Ainsworth, die mit Bowlby gearbeitet hatte, entwickelte einen Test, der unter den Namen „ Baltimore-Test“ oder „Fremde Situation“ Psychologiegeschichte gemacht hat. … Der seither immer wieder verwendete Test läuft folgendermaßen ab: Mutter und Kind halten sich in einem Raum auf, das Geschehen wird versteckt gefilmt. Nach drei Minuten kommt eine fremde Person herein und tritt in Kontakt zu ihnen. Die Mutter verlässt unauffällig den Raum und kehrt nach drei Minuten zurück. Bei ihrer Rückkehr verabschiedet sich die unbekannte Person. Jetzt lässt die Mutter das Kind noch einmal allein. Nach kurzer Zeit betritt die fremde Person das Zimmer und versucht, mit dem Kind zu spielen und es zu trösten. Dann erscheint die Mutter wieder, die andere Person verschwindet. Die Bindungstheoretikerin Ainsworth hat drei Reaktionsmöglichkeiten beobachtet, die aussagekräftig sein sollen. Ist das Kind traurig, lässt sich aber ablenken und freut sich dann, wenn die Mutter wiederkommt – dann ist alles in Butter. Ignoriert es aber das Gehen und Kommen seiner Mutter und spielt lebhaft mit dem fremden Menschen, ist es „unsicher gebunden“. Das gleiche gilt für das Kind, das mit heftiger Trauer auf die Trennung reagiert und sich auch später von seiner Mutter kaum beruhigen lässt. Diese Kinder sind in der „fremden Situation“ durchgefallen. Ihre Bindungsgeschichte lässt zu wünschen übrig. … Wie immer, wenn eine leicht fassbare Wahrheit in der Welt ist, konnten sich die Zweifler weit weniger Gehör im Diskurs verschaffen. Sie argumentieren damit, dass Laborversuche nur künstliche Verhaltensweisen zu Tage bringen, dass Kinder unterschiedliche Temperamente haben können, dass die Tests nur ein Schlaglicht auf ein Lebensalter werfen, dass man von einer Beobachtung, die sich über wenige Minuten erstreckt, nicht auf eine ganze Beziehungsgeschichte schließen sollte – die Einwände verhallten in einer psychologisierten kindzentrierten Kultur. Die Gretchenfrage aber ist: Welche Auswirkungen haben sichere oder unsichere Bindungsmuster in der frühesten Kindheit überhaupt auf das weitere Leben? Begleitet man die Kinder, die sich im Labor im Alter von eineinhalb Jahren als „unsicher gebunden“ herausgestellt haben, über einen größeren Zeitraum, sind die Ergebnisse äußerst ernüchternd. Ein paar Jahre lang lassen sich noch Unterschiede ausmachen, doch mit 16 Jahren finden sich keinerlei Korrelationen mehr zwischen der frühkindliche Erfahrung und irgendwelchen Problemen. Es scheint völlig egal zu sein, ob die Mutter besonders einfühlsam oder besonders kalt gegenüber ihrem Kind war. Der einzige handfeste Risikofaktor für die langfristige Entwicklung eines Menschen, der immer wieder nachgewiesen werden konnte, ist die soziale Lage der Eltern. Bildung und Wohlstand prägen offenbar weit mehr als eine gefühllose Mutter. Arbeitslosigkeit und Armut können auch von der perfektesten Mutter-Kind-Bindung nicht aus der Welt geschafft werden. … Die Gegner der Bindungstheorie weisen auf die Tatsache hin, dass frühe Beziehungserfahrungen mit der Mutter keine notwendigen Auswirkungen auf das weitere Leben haben. Unterschiedliche Erziehungsstile sind Interpretationssache: Strenge kann vom Kind als Liebe ausgelegt werden, Nachgiebigkeit als Lieblosigkeit. Vor allem aber sind frühe Erfahrungen revidierbar. Liebevolle Adoptiveltern können auch noch in fortgeschrittenem Alter die frühkindlichen Schäden reparieren. Kritische Geister wie der Wissenschaftler Jerome Kagan stellen den kindlichen Determinismus grundsätzlich infrage. Für ihn ist dieses Dogma ein „Grundirrtum“ der Psychologie. Der Entwicklungspsychologe meint, westliche Gesellschaften brauchten die Idee der psychischen Determiniertheit, um sich an der Einsicht vorbeizumogeln, dass nach wie vor die sozialen Verhältnisse dramatisch über Wohl und Wehe der Menschen entscheiden. Monokausale Erklärungen hätten es zudem viel leichter als die unangenehme Einsicht, dass Lebensläufe von vielen nicht beherrschbaren Faktoren wie Wohlstand, Geburtsort, Temperament, zufälligen Begegnungen abhängen. … Um die Jahrhundertwende 1900 war das Kind ein schwer zu bändigendes Tier, das im Laufstall gehalten und mit relativ robusten Methoden an die Bedürfnisse der Erwachsenen angepasst wurde. Heute werden die Bedürfnisse der Erwachsenen denen der Kinder angepasst. Für die permanente Empathie, die sie ihrem Nachwuchs entgegenbringen, wollen die Eltern verständlicherweise einmal entschädigt werden. Hier kommt die Idealisierung des eigenen Kindes ins Spiel. „So wie früher Kinder geschlagen wurden mit der Begründung: ,Du sollst es einmal besser haben als ich‘, werden sie heute als externalisiertes Ideal-Ich gebraucht; sie sollen haben, was an narzisstischer Befriedigung und sekundär narzisstischer Stabilität den Eltern als Idealzustand vorschwebt (oder ihnen fehlt, so dass sie dies am und durch das Kind nachholen wollen).“ Trifft diese Einschätzung des historischen Anthropologen Johann August Schülein zu, so geht die Psychologisierung der Kindheit im 20. Jahrhundert damit einher, dass Eltern ihre Kinder einfühlsamer erziehen, was unzweifelbar ein Fortschritt wäre, aber dafür auch in barer Münze mit Selbstbestätigung belohnt werden müssen. So wäre das Resultat das Gleiche geblieben. Am Ende geht es immer um die Eltern.

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