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Kristi Rogers und der Titan

Allgemein

Kristi Rogers und der Titan
Auf Madagaskar löst eine amerikanische Forscherin mit ihren Kollegen das Rätsel um den „geheimnisvollsten aller Sauropoden“.

Kristi Curry Rogers arbeitet täglich an einem riesigen Puzzlespiel. Die Paläontologin rekonstruiert das Aussehen und das Leben von Dinosauriern: „Wir versuchen, ein großes Bild zusammenzustellen. Viele Teile liegen schon vor uns, aber es klaffen immer noch Lücken. Manchmal fehlen uns Einzelteile, oder wir wissen nicht wohin mit denen, die wir haben. Erst wenn wir eines der vermissten Stücke finden, wird plötzlich klar, wie die anderen zusammengehören.“ Ein solches Schlüsselstück, den Schädel eines Titanosauriers, hat die US-Amerikanerin vor kurzem auf der Insel Madagaskar entdeckt. Damit hat sie zusammen mit der Paläontologin Catherine Forster von der Stony Brooks University im Bundesstaat New York eine der großen Fragen ihres Fachs gelöst: Seit 1877, als der Brite Richard Lydekker die ersten Knochen eines Titanosauriers entdeckte, rätselten die Wissenschaftler, wie diese vierbeinigen Riesen ausgesehen haben. Einzelne Knochen, Wirbel oder Schädelteile fanden sich immer wieder. Doch keiner konnte daraus ein vernünftiges Bild rekonstruieren. Offensichtlich war nur, dass die Tiere etwa 15 Meter groß waren und einen giraffenartigen Hals sowie einen langen Schwanz besa-ßen. Das Aussehen des Kopfes, die Herkunft der Tiere, ihre Entstehung und ihr Stammbaum blieben bislang im Dunkeln. Und das, obwohl die Titanosaurier der späten Kreidezeit vor über 65 Millionen Jahren zu den am weitesten verbreiteten Großsauriern gehörten. Sie lebten auf allen Kontinenten außer der Antarktis. Was die Paläontologen besonders interessiert: Die Titanosaurier gehörten zu den letzten Dinosauriern, bevor diese Tiergruppe ausstarb. Für Kristi Rogers ging mit der Expedition nach Madagaskar ein langer Traum in Erfüllung. „Seit ich mit sieben Jahren mein erstes Buch über Saurier gelesen hatte, wollte ich Dinosaurierforscherin werden“, erzählt die 27-Jährige. Zielgerichtet begann sie nach der Schule Biologie an der Universität Montana zu studieren. Für ihre Doktorarbeit wechselte sie an die Stony Brook University, New York, und suchte sich mit Catherine Forster eine der wenigen Saurier-Expertinnen als Betreuerin aus.

Forster hatte zu diesem Zeitpunkt schon die Spur der Titanen aufgenommen. 1995 hatte der amerikanische Paläontologe David Krause sie nach Madagaskar eingeladen, da er Hilfe bei der Identifizierung von überraschenden Knochenfunden brauchte. Krause ist Spezialist für prähistorische Säugetiere. Aber als er im Nordwesten der Insel zu graben begann, stieß er zu seinem Erstaunen nicht etwa auf die Spuren von Säugern aus der Kreidezeit, sondern holte einen Dinosaurierknochen nach dem anderen aus dem trockenen Savannenboden. „Wir ahnten damals schon, dass es sich um etwas Neues handelte“, erzählt Forster. „ Schließlich waren es Sauropoden-Skelette, und die waren noch nie auf Madagaskar gefunden worden.“ Sie machte sich, bald unterstützt von Rogers, auf die Suche nach weiteren Knochen. In Gruppen durchkämmten sie die trockene Savannenlandschaft auf der Suche nach neuen Fundstätten. „Wir sind stundenlang durch das kniehohe rote Gras gestelzt“, erinnert sich Rogers. „Die Augen auf den Boden gerichtet, ständig auf der Suche, ob nicht irgendwo zwischen den Halmen eine weiße Sandsteinschicht oder kleine Fossilien wie Schlangenwirbel, Zähne oder Knochen auftauchen – fast wie bei Hänsel und Gretel auf der Suche nach der Brotkrumenspur. Nach so einem Tag unter der brennenden Sonne freut man sich sogar auf das warme Bier oder die Cola abends im Lager.“

„Das Tollste ist der Nervenkitzel, wenn du beim Graben etwas entdeckst“, begeistert sich Rogers. „Einzelne braune Knochen finden sich immer wieder in dem hellen Sandstein. Doch plötzlich legt man mit dem Meißel Stück für Stück einen Schädel oder ein paar zusammenhängende Skelett-Teile frei. Ich werde dann ganz still – und die Welt um mich herum hört auf zu existieren.“ Das geht der älteren Catherine Forster nicht anders: „So ein Moment ist es wert, dass einem jeden Tag der Rücken schmerzt und man stundenlang unter der brennenden Sonne in der Grube schwitzt“, beschreibt sie die Sonnen- und Schattenseiten einer Ausgrabung. „ Aber wenn du einmal nichts findest, kann es ganz schön langweilig werden. Wir lassen darum meist einen Kassettenrekorder mit Musik laufen – vor allem mit Tom Petty und den Dire Straits.“ Ein paar ihrer Team-Kollegen machten sich deshalb den Spaß, eine der drei nebenbei neu entdeckten Saurier-Spezies „Masiakasaurus Knopfleri“ zu nennen — nach Mark Knopfler, dem Gitarristen und Sänger der Dire Straits. 1998 war es dann so weit: Kristi Rogers und ihre Kollegen legten ein unbekanntes Schädelteil nach dem anderen frei, und allen wurde klar, dass es etwas ganz Besonderes war. Sie hatten den ersten Schädel eines Titanosaurieres und dazu ein beinah vollständiges Skelett entdeckt. „Endlich war es möglich, ein Tier vom Kopf bis zur Schwanzspitze zu betrachten“, erzählt Rogers stolz. „Dadurch wissen wir nun, was die bisher gefundenen Einzelteile bedeuten.“ Sogar dem Wissenschaftsmagazin Nature war der Fund eine Veröffentlichung wert – ein Ritterschlag für eine junge Nachwuchswissenschaftlerin. „Rapetosaurus Krausei“ tauften die beiden Amerikanerinnen die neue Titanosaurier-Spezies. Namensgeber waren der Gigant Rapeto, eine Gestalt aus der Sagenwelt Madagaskars, und der Leiter der Expedition, David Krause. 1999 begann Kristi Rogers Puzzle-Spiel im wahrsten Sinne des Wortes. Die Forscherin ließ den Haufen Knochen, aus dem der Rapetosaurus damals bestand, nach Minnesota verfrachten. Dort, in den Labors des Science Museum in St. Paul, begann Rogers die Einzelteile zusammenzusetzen. Als Assistenz-Kuratorin des Museums säuberte sie mit ihren Kollegen jedes einzelne Fundstück, begutachtete und katalogisierte es. Nach mehreren Monaten lag vor ihnen das vollständige Skelett eines acht Meter langen und drei Meter hohen, offensichtlich noch jugendlichen Titanosauriers.

„Für uns Paläontologen ist es vor allem wichtig, endlich zu wissen wo der Titanosaurier seinen Platz im Saurierstammbaum hat. Da ein vollständiger Schädel fehlte, ist er bisher immer nur von einer Gruppe in die nächste geschoben worden“, erklärt Dr. Eberhard Frey, genannt „Dino-Frey“, kommissarischer Leiter des naturkundlichen Museums in Karlsruhe. In der Encyclopaedia of Dinosaurs werden die Tiere deshalb als die „geheimnisvollsten aller Sauropoden“ bezeichnet. Um den jahrelangen Streit der Wissenschaftler zu lösen, verglich Kristi Rogers penibel die einzelnen anatomischen Details von Titanosauriern, Brachiosauriern und den Diplodocoiden, den Verwandten der „ Donnerechse“ Diplodocus. Von außen betrachtet wirken der Schädel des Rapetosaurus und eines Diplodocoiden – wie des Brontosaurus –, erstaunlich ähnlich. Beide Arten besitzen stiftförmige spitze Zähne, mit denen sie in grauer Vorzeit die Blätter von den Bäumen gerupft haben, und die gleiche pferdeartige Schnauze mit den oberhalb der Augen liegenden Nasenlöchern. Als Rogers jedoch die Struktur der einzelnen Schädelknochen untersuchte, entdeckte sie, dass Rapeto- und Brachiosaurier einander viel ähnlicher waren. Auch im übrigen Körperbau – kürzerer Schwanz und längerer Hals – glichen sich die beiden Saurierarten. „Das Faszinierende ist, dass ihr Schädel dem der entfernteren Verwandten so viel mehr ähnelt als dem der nahen Verwandten“, fasst sie zusammen. „Das deutet darauf hin, dass die Titanosaurier mit den Brachiosauriern zwar die Vorfahren geteilt haben, mit den Diplodocoiden aber die Lebensweise.“ Auch die Frage, wie die Titanosaurier sich über den ganzen Globus verbreiten konnten, förderte Erstaunliches zu Tage. Um sie zu klären, reiste Rogers zwei Jahre lang um die Welt. In naturkundlichen Sammlungen in Argentinien, Indien und Europa verglich sie die Knochen des Rapetosauriers mit den Fundstücken anderer Titanosaurier. Sie überprüfte Ähnlichkeiten, stellte Verwandtschaften fest und versuchte ihre Erkenntnisse mit dem Stand der Wissenschaft in Einklang zu bringen.

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Bisher war man davon ausgegangen, dass die Titanosaurier ihre ersten Entwicklungsschritte in der Jura-Periode auf dem Superkontinent Pangäa gemacht hatten, als noch alle Kontinente in einer Landmasse zusammenhingen. Am Anfang der Kreidezeit – vor etwa 135 Millionen Jahren – zerbrach Pangäa in das nördliche Laurasia und das südliche Gondwana. Vor 120 Millionen Jahren, so eine Theorie, trennten sich schließlich Madagaskar und Indien endgültig vom Rest des Südkontinents ab. Schon Krauses Säugetier-Funde hatten einige dieser Theorien infrage gestellt: Wie zu erwarten, zeigten die meisten der madagassischen Fossilien zwar Zeichen einer engen Verwandtschaft zu Artgenossen in Indien, erstaunlicherweise fanden sich aber auch deutliche Übereinstimmungen mit südamerikanischen Säugern. Beziehungen zu Tieren also, die auf einem Kontinent gelebt hatten, der sich schon lange zuvor von Madagaskar und dem Rest Gondwanas abgespalten haben sollte. Eine neu entdeckte Art, der zweibeinige Fleisch fressende Saurier Majungatholus atopus wies in dieselbe Richtung. „Wir konnten uns das nur auf eine Weise erklären“, sagt Rogers. „Es muss lange nach der Teilung der Kontinente eine Landverbindung zwischen Madagaskar und Südamerika über die Antarktis bestanden haben, durch die sich die Arten austauschen konnten.“ Bei der Analyse der Knochenteile von anderen zur selben Zeit lebenden Titanosauriern rechneten die Paläontologen deshalb mit ähnlichen Ergebnissen. Wieder wurden die Forscher überrascht. Die engsten Verwandten des Rapetosaurus lebten zwar wie vorherzusehen in Indien – Angehörige in Südamerika fanden sich aber keine. Rogers und ihre Kollegen standen vor einem Rätsel. Doch kurz vor Schluss der letzten Expedition stieß das Team von Krause auf die Knochen einer zweiten madagassischen Titanosaurierart, die offensichtlich eng mit den südamerikanischen Tieren verwandt war – das fehlende Puzzleteil. Halb ausgegraben wartet der Malagasy Taxon B, so der vorläufige Name, noch darauf, dass die Wissenschaftler ihr Werk vollenden. Zurzeit ruhen alle Grabungen. In Madagaskar ist Bürgerkrieg.

Kompakt

Entschlüsselt: Das Aussehen der Titanosaurier, weit verbreiteter Großsaurier der späten Kreidezeit. Die Knochenfunde zeigen: Die Kontinentalverschiebung könnte anders verlaufen sein, als bisher gedacht.

Michael Brendler

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