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Kosten rauf, Sicherheit runter

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Kosten rauf, Sicherheit runter
Wie es um die deutsche Stromversorgung steht, skizziert Prof. Hermann-Josef Wagner.

Prof. Hermann-Josef Wagner ist Inhaber des Lehrstuhls für Energiesysteme und Energiewirtschaft an der Ruhr-Universität Bochum und berät seit langem Bundesregierung und Bundestag. 1978 begann er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kernforschungsanlage Jülich im Bereich Solarforschung und war an-schließend drei Jahre stellvertretender Sekretär der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik“ des Deutschen Bundestages. Von 1983 bis 1992 leitete er in Jülich die Gruppe „ Systemanalyse und Technologische Entwicklung“. 1994 wurde Wagner (Jahrgang 1950) an der Universität Gesamthochschule Essen zum Universitätsprofessor berufen.

bild der wissenschaft: Die aufgeregten Debatten um die Zukunft unserer Stromversorgung sind mit Ausnahme der Windenergie Geschichte. Ist also alles paletti, Herr Prof. Wagner?

Wagner: Die Aufgeregtheit der siebziger und achtziger Jahre resultierte aus der Angst, dass Öl bald nicht mehr in ausreichender Menge und günstig zur Verfügung stehe. Sie hat sich gelegt, weil Öl vor etwa 15 Jahren wieder sehr preiswert wurde und heute immer noch bezahlbar ist. Des Weiteren wird Öl zur Stromerzeugung in Deutschland nicht mehr in nennenswerten Mengen eingesetzt. Außerdem wurde bis in die neunziger Jahre hinein über Verantwortbarkeit und Risiko der Kernenergie gestritten. Nachdem die Bundesregierung den Ausstiegsbeschluss gefasst hat, wonach das letzte Kernkraftwerk bis 2020 abgeschaltet werden soll, hat sich auch die Aufregung um die Kernenergie gelegt.

bdw: Welche Probleme sehen Sie dennoch vor uns liegen?

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Wagner: Zwei stehen im Vordergrund. Das erste resultiert aus dem rasanten Ausbau der Windenergie, das zweite, weil der vorhandene Kraftwerkspark am Ende seiner Lebensdauer angelangt ist. Der beschlossene Ausstieg aus der Kernenergie führt zu einem dritten Problem. bdw: Fangen wir mit der Windenergie an. Wagner: Es sind jetzt 15000 Windenergiekonverter am Netz, und 15 Prozent aller in Deutschland installierten Kraftwerksleistung basiert auf Windenergie. Sie trägt aber nur mit 5 Prozent zur Stromerzeugung bei, weil der Wind unstet bläst. Deshalb muss für jedes Wind-Kilowatt fast in der gleichen Größenordnung über den konventionellen Kraftwerkspark schnell mobilisierbare Reservekapazität zur Verfügung stehen. Durch den schnellen Ausbau der Windenergieanlagen müssen jetzt zusätzlich Kraftwerke gebaut oder bestehende Kraftwerke so umgebaut werden, dass sie rasch an die schwankende Stromproduktion aus Windenergie angepasst werden können. Weiterhin muss in das Leitungsnetz investiert werden. Die auf Deutschlands Norden konzentrierte Windenergie liefert zu manchen Stunden so viel Elektrizität, dass sie dort nicht mehr verbraucht werden kann, sondern bis ins Ruhrgebiet transportiert werden muss. Was Probleme macht, ist vermutlich nicht die halbe bis eine Milliarde Euro, die deshalb in den kommenden acht Jahren in den Netzausbau investiert werden muss, sondern es sind die langen Genehmigungsverfahren, die bei uns zehn Jahre und mehr dauern.

bdw: Als zweites Problem nannten Sie den veralteten Kraftwerkspark.

Wagner: So wie es aussieht, werden wir im kommenden Jahrzehnt fast 40 Prozent der Kraftwerkskapazität erneuern müssen. Die vorhandenen Kraftwerke sind nur noch in engen Grenzen nachzurüsten, denn sie haben bereits eine Nachbesserungswelle Anfang der achtziger Jahre durchlaufen, als sie entschwefelt und entstickt wurden. Überdies gibt es zwischenzeitlich bessere Materialien. Sie führen zu höheren Dampfzuständen und daher zu besseren Wirkungsgraden. Dadurch wird die fossile Primärenergie besser genutzt und weniger CO2 emittiert.

bdw: Sie sprechen von fossilen Kraftwerken?

Wagner: Ja, von solchen auf Braunkohle- und auf Steinkohlebasis. Dazu kommt die Sonderproblematik Kernkraftwerke: Auch sie sind bis 2020 zu ersetzen. Dabei könnten gerade sie Kohlendioxid zu Nullkosten vermeiden. Denn Kernenergie erzeugt bei älteren, abgeschriebenen Kernkraftwerken günstiger CO2-freien Strom als jedes Kraftwerk, das erneuerbare Energie verwendet. Deshalb ergreifen Amerikaner und Franzosen auch Maßnahmen, um die Lebensdauer ihrer Kernkraftwerke zu verlängern.

bdw:Kaum noch genehmigungsfähige fossile Kraftwerke – keine Kernkraftwerke: Wo kommt unser Strom ab 2020 dann her?

Wagner:Gute Frage! Mit Sicherheit wird man die nötigen Strommengen nicht im Ausland einkaufen können. Der Osten Europas wird durch den EU-Eintritt einiger Staaten selbst kaum noch Strom abgeben können. Italien und die Schweiz brauchen schon heute Strom aus Frankreich. Wir in Deutschland werden zwangsläufig eigene Kraftwerke bauen müssen. Doch welche? Gegenwärtig haben wir nicht einmal ein Grobkonzept.

bdw: Brauchen wir in unserem Land einen Blackout der Stromversorgung, wie wir ihn aus den USA oder Italien kennen, um aus dem Dornröschenschlaf geweckt zu werden?

Wagner: Wenn das Netz mehrfach wackelt oder gar ausfällt, wird die Öffentlichkeit zu vielen Dingen eine andere Meinung vertreten als gegenwärtig. Politiker werden entsprechendes Handeln versprechen. Natürlich wird die Verantwortung erst einmal auf die Netzbetreiber abgeschoben. Dort liegt sie auch juristisch. Aber damit ist mittelfristig nichts gewonnen, weshalb die Politiker doch ein schlüssiges Energieprogramm brauchen.

bdw: Beeinflusst die Liberalisierung im Strommarkt die Versorgungssicherheit zusätzlich?

Wagner: Die Stromversorger stehen jetzt unter starker Konkurrenz. In einer solchen Situation investieren die Betreiber nicht gerne in neue Kraftwerke, weil dadurch auf jeden Fall die Kilowattstunde teurer wird als bisher. Eine zweite Folge der Liberalisierung sind die für Großkunden enorm gefallenen Preise. Um Marktanteile zu erobern, gaben viele Stromversorger ihren Strom zu Selbstkosten ab – in Einzelfällen sogar darunter. Eine weitere Folge der Liberalisierung ist, dass das Lastgefüge im europäischen Netz anders aussieht als bisher. Wenn dann noch Italien in Spitzenlastzeiten bis zu 6000 Megawatt aus Frankreich bezieht – also fast die Kapazität von sechs Kernkraftwerken –, werden Netzmanagement und Netzausbau deutlich komplexer als bisher: Mit den möglichen Folgen einer nicht mehr beherrschbaren Überlastung, die zu einem Blackout führen kann.

bdw: Wechselstromnetze funktionieren nur dann, wenn der Strom exakt nach einer Frequenz taktet. Ist dies garantiert?

Wagner: Weil man Strom nicht direkt speichern kann, muss von den Kraftwerken exakt jene Energiemenge ins Netz geschoben werden, die vom Verbraucher benötigt wird. Fragt der Verbraucher mehr Energie nach als die Generatoren liefern, sinkt deren Umdrehung, damit auch die Frequenz im elektrischen Netz – und die Generatoren liefern noch weniger Energie. Wird dagegen weniger Energie nachgefragt als die Generatoren produzieren, steigt deren Umdrehung, somit auch Frequenz und Energieproduktion. Damit es nicht zu diesen sich selbst verstärkenden Effekten kommt, werden Stromverbrauch und Stromnachfrage über eine standardisierte Frequenz von 50 Hertz geregelt, die auf Hundertstel Hertz eingehalten wird.

bdw: Ersatzbedarf bei den Kraftwerken, Nachrüstungen im Netz – was bedeutet das für den Strompreis?

Wagner: Der Strompreis wird kontinuierlich steigen. Für Großabnehmer heißt das: Ein Anstieg um einen bis zweieinhalb Eurocent pro Kilowattstunde in den nächsten 10 bis 15 Jahren. Das hört sich nach wenig an, bedeutet aber für die ganz großen Stromabnehmer fast eine Verdopplung gegenüber heute. Private Haushalte bezahlen im Durchschnitt bereits 16 Eurocent pro Kilowattstunde. Davon entfallen über 6 Cent auf öffentliche Belange, also auf die Konzessionsabgabe, Umlagen für Windkraftausbau und Kraft-Wärme-Kopplung, Öko- sowie Mehrwertsteuer. Gut 6 Cent entfallen auf die Netzkosten. Die reinen Stromerzeugungskosten belaufen sich auf unter 4 Cent. Sie werden auf 6 bis 7 Cent ansteigen. Das heißt: Der Strompreis für Privatkunden wird sich auf 17 oder 18 Cent pro Kilowattstunde erhöhen.

bdw: Vor kurzem warb eine Plakataktion damit, dass Deutschland seit 2000 Weltmeister bei der Entwicklung erneuerbarer Energien sei. Was ist dieser Weltmeistertitel unter dem Gesichtspunkt „ hineingesteckte Energie zu produzierter Energie“ wert ?

Wagner: Wenn man eine Energietechnik von der Konstruktion der Bauteile bis zu ihrem Abriss betrachtet, ergibt sich Folgendes: Frühere Untersuchungen zur Photovoltaik zeigten, dass es in unseren Breiten bis zu sechs Jahre dauert, bis eine auf monokristallinem Silizium basierende Technologie die Primärenergie zur Verfügung stellt, die man in sie hineingesteckt hat. Inzwischen sind die Produktionsverfahren energetisch besser geworden und die Energieeffizienz der Anlagen ist etwas gestiegen, so dass man heute von vielleicht vier Jahren ausgehen kann: Das ist zwar immer noch relativ lang, doch bei einer Laufzeit von 20 Lebensjahren macht sich die Anlage energetisch bezahlt. Für Windenergie liegen günstigere Ergebnisse vor: Die Anlagen auf dem Land haben bereits nach fünf, sechs Monaten die in sie hineingesteckte Primärenergiemenge erzeugt. Dabei sind die Investitionen in das konventionelle Energiesystem bereits berücksichtigt, die zum Ausgleich der Lastschwankungen durch Windenergie nötig sind. Bei den wesentlich aufwendigeren Anlagen im Meer dürfte es etwas länger dauern.

bdw: Wie sieht die Bilanz bei der CO2-Substitution aus?

Wagner: Etwas schlechter, weil man für die Aufstellung erneuerbarer Energien zum Beispiel auch Beton braucht. Wenn man das CO2 einbezieht, das bei der Betonherstellung freigesetzt wird, dauert es bei der Windenergie rund ein Jahr, ehe die Substitution greift. Kurzum: Die erneuerbaren Energien schneiden bei ihrer energetischen und CO2-Bilanz gut ab. Ähnliches gilt übrigens auch für die Biomasse.

bdw: Was halten Sie von der CO2-Reduktion direkt am Kraftwerk?

Wagner: Solche Ideen werden bereits seit 15 Jahren diskutiert. Doch dazu sind erhebliche Investitionen in die Kraftwerke nötig. Deren Wirkungsgrad würde überdies um etwa sechs Prozentpunkte fallen. Inzwischen scheint es allerdings sicher zu sein, dass die Einlagerung von CO2 in ausgebeuteten Erdgaslagerstätten keine ökologischen Probleme bereitet. Ich kann mir vorstellen, dass diese Sequestrierung kommt, weil man für bestimmte CO2-Emissionen künftig Emissions-Zertifikate braucht. Der Handel mit CO2-Zertifikaten ist ein Mechanismus, mit dem das Kyoto-Protokoll zur Minderung der weltweiten CO2-Emissionen umgesetzt werden soll. Wenn der Preis pro Tonne emittiertem CO2 sehr hoch liegt, macht es Sinn, CO2 abzutrennen und in Erdgaskavernen einzulagern.

bdw: Welche Perspektiven sehen Sie für die Kernenergie?

Wagner: In der Welt laufen rund 430 Kernkraftwerke, 20 davon in Deutschland. In Frankreich und in Japan, also in Ländern, die eindeutig in Richtung Kernenergie optierten, gibt es inzwischen politische Gruppen, die ihr kritisch gegenüber stehen. Andererseits wird China die Entwicklung weiter vorantreiben: Wohl ist mir nicht, weil dort schlechtere Sicherheitsstandards herrschen, als ich mir wünsche. Südafrika will kleine Hochtemperaturreaktoren mit hohem Sicherheitspotenzial bauen, die in Deutschland entwickelt wurden. In Finnland ist 2003 die Entscheidung für den Bau eines neuen Kernkraftwerks gefallen. Ich glaube nicht, dass die Welt dem deutschen Ausstiegskurs folgen wird. Und ich glaube auch nicht, dass in Deutschland das letzte Wort zur Kernenergie gefallen ist.

Wolfgang Hess

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