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Erotische Luftblase

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Erotische Luftblase
Wissenschaftler vermuten in einem geheimnisvollen Teil der Nasenschleimhaut einen sexuellen Sinn der Säugetiere – doch wenig spricht dafür, dass er beim Menschen aktiv ist.

Mit dem Streit Liessen sich ganze Bücher füllen: Welchen Sinn hat das Vomeronasale Organ? Eigentlich ist das „Organ“ nur eine winzige Einstülpung der Schleimhaut, gelegen an der unteren Basis der Nasenscheidewand. Doch bis heute gibt es Rätsel auf. So vermuten manche Wissenschaftler darin einen zusätzlichen – sozusagen sechsten – Sinn. Der könnte chemische Signale von fremden Personen orten und den Hormonhaushalt, die Lust und die Gefühle lenken. Kurz: Es geht um Sex.

Tatsächlich mutet die Debatte um die Schleimhautstruktur, die vom dänischen Arzt und Anatomen Ludvig Levin Jacobson vor rund 200 Jahren entdeckt wurde, wie ein Glaubenskrieg an. Bis in die achtziger Jahre war die gängige Meinung, dass das VNO – so das medizinische Kürzel – zwar beim Embryo vorkommt, aber nach der Geburt verkümmert. Der mikroskopisch kleine Schleimhauttunnel in der Nase schien kaum mehr zu sein als ein langweiliger Rest der Evolution.

Doch die Einschätzung änderte sich, als in den neunziger Jahren gleich mehrere Forscherteams berichteten, dass sich bei vielen Erwachsenen zumindest in einem der beiden Nasenlöcher ein VNO ausmachen lässt. Seitdem brechen die Spekulationen über seine möglichen Funktionen nicht ab.

Denn verschiedene Tierversuche legten nahe, dass das VNO bei Säugern soziale und sexuelle Signale vermittelt. Im Spiel sind dabei bestimmte Signalsubstanzen – Experten sprechen meist von „ Pheromonen“ –, die in den Körpersekreten vorhanden sind und durch den Luftstrom von Tier zu Tier gelangen.

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Zwar gibt es auch Pheromon-Wirkungen, die nicht über das VNO, sondern über die normale Riechschleimhaut ausgelöst werden, beispielsweise die durch Duftsignale herbeigeführte Duldungsstarre des Schweins bei der Begattung durch den Eber. Doch bei Nagetieren scheint das mysteriöse Organ die Fortpflanzung tatsächlich in vielerlei Hinsicht zu beeinflussen. So steigt bei männlichen Hamstern und Mäusen der Testosteronspiegel an, wenn sie über ihren vomeronasalen Sinn ein Weibchen erspüren. Wird das Organ dagegen entfernt, wenn die Nagermännchen noch jung und sexuell unerfahren sind, bleibt das spätere Paarungsverhalten aus.

Noch drastischer ist der bei Mäusen beobachtete so genannte Bruce-Effekt: Ist eine Mäusedame von einem ihrer Verehrer schwanger, und taucht in den ersten Tagen nach der Begattung ein neues Männchen auf, so führt dessen Uringeruch dazu, dass der Hormonhaushalt des Weibchens komplett umgestellt wird und sich der Embryo nicht in die Gebärmutter einnisten kann – offenbar, um dem neuen Herrn im Haus eine eigene Chance auf Nachwuchs einzuräumen.

Es lag auf der Hand, dass das VNO auch beim Menschen eine Rolle spielt – wenn es denn funktionsfähig ist. Genau das behaupten einige Wissenschaftler, allen voran der US-Forscher Louis Monti-Bloch. Sein Team hat mehrfach berichtet, dass mit bestimmten Substanzen – Monti-Bloch nennt sie „Vomeropherine“ – elektrische Signalimpulse im VNO ausgelöst und verschiedene vegetative Körperfunktionen ebenso wie der Sexhormon-Spiegel beeinflusst werden können. Beim VNO, so die Schlussfolgerung, müsse es sich also tatsächlich um ein eigenes Sinnesorgan des Menschen handeln.

In der Öffentlichkeit wurde aus der Hypothese vom Vomeronasalen Organ des Menschen schnell eine Tatsache gemacht. Sogar der Playboy und andere Herrenmagazine berichteten darüber. Zahlreiche Internetversender bieten inzwischen Parfüms mit angeblichen Pheromonen an. Sie sollen über das menschliche VNO wirken und den Benutzer für das andere Geschlecht attraktiver machen. Das Problem indes: Fast sämtliche Belege für ein intaktes VNO stammen von Monti-Blochs eigener Arbeitsgruppe, bedauert der Neuroforscher Michael Meredith von der Florida State University. Magendrücken bereitet vielen Experten, dass Monti-Bloch mit der kalifornischen Firma Pherin Pharmaceuticals zusammengearbeitet hat und inzwischen zu deren Vize-Präsident avanciert ist.

Tatsächlich hat Pherin zahlreiche der synthetisch herstellbaren Vomeropherine patentieren lassen und spekuliert auf einen gigantischen Markt. Die Substanzen seien – beispielsweise in Form von Nasensprays – dazu geeignet, Menstruationsbeschwerden zu lindern, soziale Ängste zu beseitigen und die sexuelle Lust zu steigern, wie die Firma beteuert. Auf ihrer Website behauptet die Firma sogar, es gebe vom Vomeronasalen Organ „eine direkte Verbindung zum Hypothalamus und zum Limbischen System“ – also zu jenen Hirnregionen, die bei der Steuerung der Affekte und Hormone eine zentrale Rolle spielen.

Nur: Während bei Nagern tatsächlich eigene Nervenfasern vom VNO zum Gehirn ziehen – und neben den normalen Riechnerven einen zusätzlichen Sinneskanal bilden –, habe man eine entsprechende Verbindung beim Menschen nie gefunden, betont Meredith. Zudem erfüllten die Zellen in der vomeronasalen Schleimhaut keineswegs die Kriterien für echte Neuronen – dürften demnach also auch keine Sinnesreize verarbeiten können.

„Der Streit ist zwar noch nicht geschlichtet, aber die Stimmen mehren sich, dass das VNO beim Menschen doch keine Funktion mehr hat“, pflichtet der Dresdener Geruchsforscher Thomas Hummel bei. Gut möglich, dass die Suche nach einem sechsten – gar sexuellen – Sinn des Menschen am Ende eines bleibt: die Jagd auf ein Phantom.

Martin Lindner

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