In der Internatszeit des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins steckte ein Lehrer seine Hand in die Hose des Jungen. Wie Dawkins einer Reporterin der „New York Times“ erzählte, fand er es „peinlich, unangenehm, aber nicht grausam, und es hat sicher nicht im entferntesten bleibenden Schaden bei mir angerichtet“ .
So abgewogen sehen die wenigsten die Folgen von sexuellem Missbrauch, dramatische Meldungen dominieren. „Kindesmissbrauch wird von Beziehungsproblemen bis zum Serienmord für alles verantwortlich gemacht“, lästerte der Psychiatrieprofessor Donald Black von der Universität Iowa.
Viele solcher Alarmmeldungen gehen auf die Erfahrungen von Therapeuten zurück, die bei Patientinnen mit schweren psychischen Störungen immer wieder auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit stoßen. Auch Studien konzentrieren sich häufig auf diese Klientel. Das Problem dabei: Betroffene, die keine Auffälligkeit oder Krankheit entwickeln, werden nicht berücksichtigt.
Diesen Fehler versuchte der Psychologe Bruce Rind von der Temple University in Philadelphia mit zwei Kollegen zu vermeiden. Die Ergebnisse von 59 Studien mit insgesamt 35 703 Teilnehmern fassten sie 1998 in einer Meta-Analyse zusammen. Ihr Fazit: „ Sexueller Missbrauch von Kindern verursacht nicht in großem Umfang schwere Schäden.“ Weniger als ein Prozent der Ängste, Depressionen, Essstörungen und Alkoholprobleme der Betroffenen ließen sich auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückführen.
Die in einem führenden psychologischen Fachblatt veröffentlichte Arbeit sorgte für einen Sturm der Entrüstung. Der amerikanische Kongress verdammte sie einstimmig, andere Forscher verfassten lange Kritiken – genau wie die Originalstudie gespickt mit komplizierten statistischen Berechnungen.
Es gibt noch immer keine Einigung. Denn eine Reihe von Schwierigkeiten machen die Forschungsaufgabe für beide Seiten äußerst diffizil:
• Sexueller Missbrauch tritt besonders häufig in Problemfamilien auf, in denen Kinder auch geschlagen werden. Die Folgen von beidem sind hinterher schwer auseinander zu halten.
• Missbrauch ist nicht gleich Missbrauch: Einmal einem Exhibitionisten zu begegnen, ist etwas anders, als jahrelang vom Onkel vergewaltigt zu werden.
• Sexuelle Übergriffe scheinen gerade ältere Kinder nicht immer als Zwang zu erleben.
So bleibt die Gefährdung durch sexuelle Übergriffe für das weitere Leben umstritten. Einig sind sich die Forscher in Zweierlei: Missbrauch kann dramatische Folgen haben, was auch Rind nie bestritten hat. Er kann aber auch folgenlos bleiben, wie selbst Kritiker einräumen. Richard Dawkins glaubt, dass heutzutage seine Internats-Erfahrungen zu Spätschäden führen würden – „aber nur wegen der Gerichtsverfahren, der nachforschenden Sozialarbeiter und der Anwälte mit ihren Kreuzverhören“.
Werden die Opfer später zu Tätern?
Jungen, die als Kind sexuell missbraucht wurden, entwickeln sich häufig selbst zu Sexualtätern. Das ist der in der Fachliteratur meist zitierte Risikofaktor. Doch die Gefahr ist geringer als angenommen. Das wiesen Wissenschaftler der Universitäten London und Southampton um David Salter vergangenes Jahr im Journal „Lancet“ nach.
Sie überprüften, was aus 224 Jungen geworden war, die man in einer Spezialklinik für sexuell missbrauchte Kinder behandelt hatte. 26 waren selbst zu Tätern geworden, das entspricht 12 Prozent – weniger als bisher vermutet.
Die Schwere des Missbrauchs hatte keinen Einfluss darauf, ob die Opfer zu Tätern wurden – ob es zum Geschlechtsverkehr kam, ob mehrere Täter beteiligt waren und wie lange das Ganze dauerte, das alles spielt keine Rolle. Es machte auch keinen Unterschied, ob der Täter eine Bezugsperson war oder nicht.
Als verhängnisvoll allerdings erwiesen sich weibliche Täter. Ihre Opfer missbrauchten später deutlich häufiger selbst Kinder als die Opfer von männlichen Tätern. Das Gleiche wurde schon in einer früheren Untersuchung festgestellt. Jegliche Erklärung fehlt.
Jochen Paulus