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Pig Brother

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Pig Brother
MPG-Präsident Prof. Hubert Markl zur neuen Lust an der Selbstentblößung – und zum Recht jedes Menschen, die Unterwerfung unter die Wißbegier Dritter zu verweigern.

Wie der zweibeinige Mensch scheint auch die menschliche Gesellschaft gerne im antithetischen Wechselschritt voranzuschreiten – im dialektischen Gegensatz von Gut oder Böse, Freiheit oder Normenzwang, den Bedürfnissen von Leib oder Seele, von Materie oder Geist, Frau oder Mann, von Rechts oder Links in der Politik: Mit dem Verbindenden tun wir uns offenbar immer schwerer als mit dem Widerspruch, an dem sich die Geister (ent-)scheiden. Zur Zeit kommt ein weiterer Widerspruch zu auffallender Medienprominenz: der Widerspruch zwischen der Angst der einen vor totaler Durchleuchtung des Men-schen, vor dem Verlust des letzten Rests privater Intimität, der fortschreitenden Gefährdung des grundgesetzlich garantierten Anspruchs auf informationelle Selbstbestimmung; die Angst vor dem Verlust vor allem des Rechts darauf, nicht alles sagen zu müssen, was man denkt oder weiß und nicht alles preisgeben zu müssen, was man fühlt oder ist, vor allem des wichtigsten Menschenrechts, über sich selbst nicht wissen zu müssen, was man nicht wissen will; und der Gier der anderen, die aufdringliche Selbstentblößung bis zur schamlosen Selbstentblödung zu steigern, aus Big Brother immer schneller Pig Brother zu machen, das dem Schwein in jedem von uns endlich freien Auslauf verschafft; der Gier von denen, die sich auszogen, das Fürchten zu lehren, bis zu jenen, denen selbst die prominente öffentliche Vorführung von Heirat und Scheidung in möglichst rascher Abfolge nicht mehr genügt – was soll auch daran noch Neuigkeitswert besitzen, cosi fan tutte! – und die deshalb am liebsten gleich Zeugung, Schwangerschaft und Geburt auf Titelseiten und Breitwand vorführen, als könnte erst Zeugung unter Zeugen vom eigenen Schauwert überzeugen. Schrecklichster Gedanke: Stell Dir vor, Du bist schwanger und keiner schaut hin! Selbst Sterben und Tod werden für diese Ultraselbstschausteller und die Medien, die von ihnen leben, wohl bald nur noch als Medienereignis zum Lebensereignis. Der Fortschritt wird daran erkennbar, daß nicht die Nachricht dem Ereignis folgt, sondern daß die Nachricht immer mehr das Ereignis schafft. Die Wirklichkeit soll sich gefälligst bemühen, ihrer Vorhersage zu entsprechen. So schwanken wir zwischen der Furcht der einen vor der totalen Öffentlichkeit unseres Menschendaseins, von dem nichts mehr verborgen bleiben soll, keine genetische Aberration, kein Gedanke, der nicht auf dem Bildschirm des funktionellen Magnetresonanz-Tomographen bunt aufleuchtet, kein Privatgespräch, das nicht abgehört, keine intime Begegnung, die nicht in der GPS-Aufzeichnung datiert und lokalisiert werden kann, kein Zahlungsvorgang, gleich an welchem Ort der Welt, der uns nicht noch nach Jahr und Tag nachgewiesen werden kann, keine noch so persönliche Vorliebe, die uns nicht zum Zielobjekt einer Marketingoffensive macht; und der offenbar nicht weniger bedrückenden Furcht der anderen davor, nicht öffentlich wahrgenommen zu werden und damit ein mediales Nichts zu sein, sozusagen schlimmer als tot, nämlich gar nicht erst in der Aufmerksamkeit der Mitmenschen geboren worden zu sein.

Total durchschaut oder total übersehen, das scheint die Schreckensalternative, und es würde einen noch nicht einmal wundern, wenn beide Ängste abwechselnd die gleichen Individuen befielen. Denn Konsequenz in dem, was wir hoffen, fürchten oder verabscheuen, ist selten unsere Sache. Aber bleibt denn zwischen der Skylla der totalen Transparenz alles dessen, was uns ausmacht, und der Charybdis zwanghafter Entblößungswut wirklich kein dritter Weg ins global total-mediale Wissenszeitalter, in der Leviathan, der ganz große Bruder, nicht nur alles beherrschen, sondern auch noch alles von uns wissen will? Die beruhigende Ernüchterung kommt, wie so oft, von der stoisch-humanen Philosophie alter Zeiten, die nicht nur jedem Menschen die Würde der individuellen Einzigartigkeit zumaß, sondern zugleich auch den Weg dazu wies, wie er der Knechtschaft durch die zudringliche Wißbegier anderer genauso wie der eigenen Leidenschaft, zum Gegenstand der Wißbegier anderer zu werden, entgehen kann. Die Stichworte dafür sind Selbstbestimmung und Verweigerung.

Individuum est ineffabile, sagt eine solche alte Weisheit über den Kern unserer Menschlichkeit als zur Selbstbestimmung fähige Wesen: Der einzelne Mensch ist „unsagbar”, das heißt, niemand – noch nicht einmal er selbst – vermag ihn ganz und gar zu erfassen, zu beschreiben und damit zu sagen, was ihn ausmacht. Er bleibt sich selbst und anderen Mitmenschen im Letzten immer ein Rätsel voller Überraschungen. Und zwar genau deshalb, weil seine Menschenwürde in seiner Freiheit zur Selbstbestimmung liegt, nicht aus narzistisch übersteigertem, egoistischem Individualismus, sondern weil er mit der Aufgabe dieses angeborenen Rechts auf letztliche Selbstverfügung über sich zum unwürdig abhängigen Spielball der Entscheidung anderer würde.

Gerne kommen solche Besserwisser in der Rolle moralischer Oberlehrer daher – auch dafür eignen sich Medienpriester besonders gut –, die dem einzelnen von hoher Warte aus mitteilen, welchen Gebrauch er gefälligst von seiner Freiheit zur Selbstbestimmung zu machen hat. Etwa indem sie ihm vorschreiben, daß er nie und nimmer selbst darüber entscheiden dürfe, ob ihm sein eigenes Leben noch lebenswert erscheint oder nicht; ein solcher Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben sei nämlich geradezu der Gipfel eines selbstsüchtigen Hedonismus, der den Wert des eigenen Leidens einfach nicht richtig zu schätzen weiß! Allein die Gesinnungsbeauftragten der Nation – als Abgeordnete vermeintlich von Bürgern dazu beauftragt, in ihrem Interesse zu entschei-den – dürfen darüber verfügen.

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Dies ist aber gerade der gewaltige Zugewinn des kulturfähigen, das heißt zu eigenständig schöpferischer Leistung begabten Menschen gegenüber dem genetisch oder durch Lernvorgänge oder durch äußere Zwänge bestimmten Tier, daß er und nur er selbst letztlich das Sagen über sich selbst haben kann, da sein ganzes Wesen niemals und niemandem ganz und gar enthüllbar ist, es bleibt „ineffabile” – allen modernen Super-Gen-Neuro-Psycho-Techniken zum Trotz. Und das ist gut so, denn dadurch wird jeder einzelne Mensch auch niemals gänzlich für andere kalkulierbar. Wäre er es nämlich, so würde aus ihm tatsächlich jener materialistisch konstruierte l’homme machine, den man dann wirklich am Ende auch durch eine Computersimulation ersetzen könnte.

Dazu wird es nicht kommen. Den gläsernen, durchschaubaren Menschen wird es nicht geben, weil die Verschränkung von Erbanlagen, Entwicklungsbedingungen, Lernerfahrung, äußeren Einflüssen und schöpferischer Spontaneität jeden Menschen nicht nur einzigartig macht, sondern zugleich auch selbstbestimmt eigenartig und eigensinnig, so daß es niemals gelingen wird, ihn ganz auf den Begriff (ineffabile) und dadurch auch in den Griff zu bekommen. Dies hat deshalb auch alle Erfinder angeblicher Lügendetektoren immer wieder zum Scheitern verurteilt. Darüber sollten wir froh sein, selbst wenn dadurch manch ein Ganove unentdeckt bleibt. Aber das reicht nicht aus, um auch jene zu beruhigen, die zwar vielleicht akzeptieren, daß der Mensch niemals ganz durchschaubar und damit fremd verfügbar gemacht werden kann, die aber schon die neugierige Eindringtiefe der Ausforschtechnologien – von der Genom-Analyse bis zum Intelligenztest oder zum psychosozialen Persönlichkeitsprofil – ärgerlich und beängstigend genug finden, um dadurch ihre Privat- und Intimsphäre bedroht zu sehen.

Solche Bedenken sollte man keineswegs leichthin abtun – „so weit wird’s schon nicht kommen” –, und zwar gerade deshalb, weil das zuerst erläuterte Argument freier Selbstbestimmung des Menschen uns dazu veranlassen muß, dem einzelnen zu überlassen, wieviel er von sich preisgeben will und wodurch er sich bedroht sieht. Die Tatsache, daß es darunter einige Zeitgenossen (und -genossinnen) gibt, die das wenige, was an ihnen der Aufmerksamkeit wert wäre, gar nicht rückhaltlos genug unter und über die Leute bringen können, zeigt nur, daß mit geistigem Minimalhorizont eben leicht auch der Anspruch an Privatsphäre schwindet, weshalb solche Schamlosigkeit durchaus als eine Art geistiger Behinderung betrachtet werden kann. Aber das bedeutet eben noch lange nicht, daß der zwanghafte – und meist von Geldgier geförderte – Exhibitionismus der einen (verbunden mit der Voyeurlust vieler anderer) ein Argument dafür sein könnte, daß jeder, ob er will oder nicht, einem gesellschaftlichen Entblößungsdiktat unterworfen werden darf. Umgekehrt dürfte es richtiger sein: Je ungebärdiger manche ihre Intimsphäre zur Massenbelustigung freigeben, um so mehr werden viele andere Wert darauf legen, daß nur sie selbst darüber bestimmen wollen, was aus ihrem persönlichen Bereich niemanden etwas angeht, auch nicht den Forscher mit den hehren Erkenntnisabsichten, für den sie nur ein Untersuchungsgegenstand zur Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen sind. Das heißt nichts anderes, als daß wir den Widerspruch akzeptieren und respektieren, ja geradezu im ureigensten Interesse fordern und fördern müssen, den Menschen gegen das hemmungslose Ausgeforschtwerden, gleich unter welcher Begründung, erheben.

Zwar gibt es Menschen, die vor solchem Ausforschungsdruck deshalb wenig besorgt sind, weil sie – gleichsam wie in der nichts verbergenden Kleingruppe einer Urhordenöffentlichkeit – meinen, wer nichts zu verheimlichen hat, kann auch nicht ausspioniert werden. Aber auch zu solcher – mitunter nur allzu schnell vorübergehender – Gelassenheit darf niemand, der dies nicht will, gezwungen werden. Denn das Recht zu Widerstand gegen die Unterwerfung unter die Wißbegier Dritter – des Staates, der Geschäftswelt, der Arbeitgeber, der Gesundheits-, Psycho- oder Sozialforscher, der Presse oder gleich welcher anderen gesellschaftlichen Agenten – gehört zum harten Kern der Menschenwürde jedes einzelnen. Das muß keineswegs Widerstand um seiner selbst willen und um jeden Preis bedeuten: Die wenigsten Menschen werden sich guten Gründen verschließen, mit denen sie etwa darum gebeten werden, sich für eine medizinische oder sozialstatistische Untersuchung zur Verfügung zu stellen, die anderen Mitmenschen diagnostische, therapeutische, rechtliche oder soziale Hilfe zu bringen verspricht. Aber auch dabei muß gelten: Nur sie selbst – oder ihre beauftragten Abgeordneten – haben darüber zu entscheiden, was sie als gute Gründe ansehen und wozu sie daher ihre Zustimmung geben.

Personen, die zu hilflos sind, ihren Willen zu bekunden, bedürfen dabei des Schutzes ihrer Rechte und der Wahrung ihrer nach bestem Gewissen vermutbaren Interessen durch die Gemeinschaft, in der sie leben. Aber auch sie dürfen dabei nicht, da selbst willensunfähig, der moralischen Willkür ihrer Betreuer ausgeliefert werden, die ihre eigenen Wertvorstellungen nur zu gern an die Stelle des mutmaßlichen Willens der Betreuten setzen. Selbstbestimmung und darauf folgendes Recht auf Widerstand gegen schrankenlose Ausforschung: Dies sind die notwendigen und wirksamen argumentativen Prinzipien zur Wahrung unseres Anspruchs auf Freiheit und Würde, auf unberührtes Privatleben und unantastbare Intimsphäre. Nicht jene gefährden diese, die sich tolldreist in aller Öffentlichkeit entblöden und entblößen können, weil die Neugier und der Beifall der zuschauenden Voyeure lockt und lohnt, sondern jene, die meinen, weil manche irre genug sind, ihr Innerstes nach außen zu kehren, müßte es eine gesellschaftliche Verpflichtung zu allgemeinem Irrsinn geben, der keine privaten Geheimnisse duldet.

Den gläsernen Menschen wird es niemals geben, weil es ihn nicht geben kann. Aber auch alle Schritte dorthin brauchen nicht getan zu werden, wenn wir uns nur immer auf das besinnen, was unsere individuelle Menschenwürde ausmacht: die Freiheit, so zu leben, wie wir dies selbst richtig finden.

Kompakt Von Medien unterstützt, grassieren sowohl Exhibitionismus als auch Ängste vor totaler Durchleuchtung. Den „ gläsernen Menschen” wird es trotzdem nie geben: Der einzelne ist zu komplex, um ihn ganz erfassen zu können. Das Recht, gegen Ausforschungsdruck Widerstand leisten zu dürfen, ist ein essentieller Bestandteil der Menschenwürde.

Hubert Markl

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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Col|tan  〈n.; –s; unz.; Min.〉 ein Erz (auch Columbit–Tantalit od. Niobit–Tantalit genannt), das aus Columbrium u. Tantal besteht u. aus dem das selten vorkommende Metall Tantal gewonnen wird

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