Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Hoffmanns segensreiche Erbschaft

Allgemein

Hoffmanns segensreiche Erbschaft
100 Jahre Acetylsalicylsäure – die dritte Karriere eines Arzneimittels. Die Talente des Wunderstoffes aus der Natur erwiesen sich als überraschend vielfältig. Jetzt halten es Forscher sogar für möglich, die Acetylsalicylsäure (ASS) gegen Krebs oder Alzheimer einzusetzen. Molekulares Design soll den Klassiker weiter verbessern.

Mit nicht geringem Mißtrauen“ befürwortete Kurt Witthauer die erste klinische Prüfung der neuen Arznei. Witthauer, um die Jahrhundertwende Internist im Diakonissenkrankenhaus in Halle an der Saale, begründete seine mangelnde Zuversicht der Novität gegenüber mit einer durchaus modern klingenden Einsicht: Beinahe täglich, schrieb er im Jahr 1899 in der Zeitschrift „Die Heilkunde“, würden neue Mittel auf den Markt geworfen, und man müsse schon ein großartiges Gedächtnis besitzen, wenn man all die neuen Namen behalten wolle: „Viele tauchen auf“, bemerkte er kritisch, „werden von einzelnen Autoren und besonders von Firmen gerühmt – und nach kurzer Zeit hört man nichts mehr von ihnen.“

Doch der neue Wirkstoff, den Witthauer zu untersuchen hatte, sollte zum Klassiker werden. Die Acetylsalicylsäure (ASS) – im August 1897 erstmals von dem deutschen Chemiker Felix Hoffmann in chemisch reiner Form hergestellt – ist auch heute noch buchstäblich in aller Munde: Milliarden Menschen auf allen Kontinenten kennen ASS – vorzugsweise unter dem Handelsnamen Aspirin – ebenso viele schlucken das bewährte Medikament. Über 40 000 Tonnen ASS werden jährlich weltweit in Tausenden von Präparaten eingenommen. Einst als besser verträgliches Rheuma-Mittel erdacht, entwickelte sich die Acetylsalicylsäure zur Standardarznei gegen Schmerzen unterschiedlichster Art, Fieber und Entzündungen.

Daß in dem scheinbar simplen Hausmittel weit mehr Talente stecken, erkannten die Wissenschaftler in den letzten 25 Jahren. Immer neue Anwendungsmöglichkeiten verhalfen der Arznei zu dem vollmundigen Lob, ein „Wundermittel“ zu sein. So zeigte sich in den siebziger Jahren, daß ASS das Zusammenklumpen von Blutplättchen erschwert. Seither nutzen Ärzte und ihre Patienten die Acetylsalicylsäure, um Blutgefäß-Verschlüssen – der Ursache für Herzinfarkt und Schlaganfall – vorzubeugen. Vorbeugen könnte ASS auch dem Dickdarmkrebs: Ob die Substanz beim Menschen hält, was sie in Tierversuchen verspricht, prüfen zur Zeit Wissenschaftler in aller Welt. Ein weiteres potentielles Einsatzgebiet des intensiv erforschten Arzneimittels zeigten italienische Forscher: Sie berichteten 1996 in „Science“, daß ASS Nervenzellen am Leben erhalten kann. Offenbar blockiert der Wirkstoff eine molekulare, zellschädigende Reaktions- kette. Dies läßt an einen Einsatz von ASS zur Vorbeugung von Hirnleiden wie der Alzheimer Krankheit denken.

Was macht ASS zu einem derart bemerkenswerten Tausendsassa, der an scheinbar völlig verschiedenen Fronten gegen menschliche Pein kämpft? Sieben Jahrzehnte lang war unbekannt, wie, wo und warum ASS im menschlichen Körper wirkt – ein weiteres erstaunliches Detail in der hundertjährigen Geschichte des Wirkstoffes. Erst Anfang der siebziger Jahre gelang es dem englischen Pharmakologen John Robert Vane vom Royal College of Surgeons in London einen Teil des Geheimnisses zu lüften. Seine Entdeckung erklärte nicht nur, warum die Acetylsalicylsäure wirkt und wie sie wirkt, sondern wurde auch zur Basis für das gezielte molekulare Design künftiger Arzneien. Die Arbeiten von Vane erschienen 1971 in der Zeitschrift „nature“. Danach war klar, wie tief ASS in den Stoffwechsel eingreift: Es hemmt die Bildung von allgegenwärtigen Boten, den Prostaglandinen. Für diese Erkenntnis wurde Vane 1982 mit dem Nobelpreis geehrt.

Anzeige

Prostaglandine sind Gewebehormone. Ulf von Euler, ein schwedischer Physiologe, entdeckte sie in den dreißiger Jahren in der Samenflüssigkeit von Schafen. Euler glaubte, die Substanzen würden aus der Prostata, der Vorsteherdrüse, stammen und gab ihnen deshalb diesen Namen. Heute ist bekannt, daß fast alle Zellen des Organismus Prostaglandine produzieren. Ihr Grundbaustein ist eine ungesättigte Fettsäure, die Arachidonsäure. Ein Enzym namens Cyclooxygenase, kurz Cox, baut die Säure zu einem Prostaglandin um.

Prostaglandine haben im Körper verwirrend vielfältige, auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Wirkungen. Sie beeinflussen beispielsweise Gefäße, Muskulatur und Nerven, sind für die Beweglichkeit der Spermien wichtig und steuern die Bildung von Hormonen. Ebenso bedeutend sind die Prostaglandine aber auch im Krankheitsgeschehen: Wird eine Zelle geschädigt oder gar zerstört, wird Arachidonsäure aus der Membran freigesetzt. Sekundenbruchteile später beginnt die Prostaglandin-Synthese. Schmerzen, Entzündung und Fieber sind die Folge.

Genau an dieser Stelle kommt die Acetylsalicylsäure ins Spiel: Sie stillt Schmerzen und hemmt Entzündungen, weil sie jenes Enzym aus dem Verkehr zieht, das für die Prostaglandin-Synthese zuständig ist. Chemisch gesprochen azetyliert ASS das Enzym Cyclooxygenase: Der „Zutritt“ der Arachidonsäure zum Enzym wird dadurch verhindert, demzufolge können auch keine Prostaglandine entstehen.

Dieser Mechanismus ist in allen Zellen des Körpers prinzipiell gleich. Er erklärt nicht nur den schmerz- und entzündungshemmenden Effekt der Acetylsalicylsäure, sondern auch andere Wirkungen – zum Beispiel ihre Fähigkeit, Gefäßverschlüssen und möglicherweise Krebs vorzubeugen. Gefäßverschlüsse entstehen, wenn die Blutplättchen (Thrombozyten) zu einem Thrombus verklumpen, der die Adern verstopft. Ein derartiger Propf in einem Herzkranzgefäß löst den Herzinfarkt aus, in einer Gehirnarterie den Schlaganfall. Ein bestimmter, unter anderen Umständen lebensnotwendiger Botenstoff, Thromboxan, fördert das unheilvolle Zusammenballen. Die „Quelle“ von Thromboxan ist ebenfalls die Arachidonsäure; auch zur Bildung dieses gerinnungsfördernden Stoffes bedarf es der Mithilfe von Cox. Da die Acetylsalicylsäure Cox blockiert, verhindert sie, daß Thromboxan entsteht – das gefährliche Verklumpen der Plättchen unterbleibt.

Auch die Annahme, daß ASS Dickdarmkrebs verhindert, könnte auf ihre Eigenschaft als Prostaglandin-Hemmer zurückgehen: Bereits vor 20 Jahren zeigten Grundlagenforscher, daß Dickdarmtumore erheblich mehr Prostaglandine produzieren als gesundes Gewebe. Tierversuche bestätigten die günstige Wirkung von ASS und verwandter Substanzen auf das Dickdarmkarzinom. Ob ASS dieser Krebsart vorbeugen kann, diskutieren Experten besonders intensiv seit der aufsehenerregenden Studie des Epidemiologen Michael Thun von der American Cancer Society, die 1991 im „New England Journal of Medicine“ erschien. Die regelmäßige Einnahme von ASS, heißt es darin, könne das Darmkrebsrisiko um bis zu 50 Prozent senken. Auch andere epidemiologische Studien kamen zu ähnlichen Resultaten. Allerdings liegen auch gegenteilige Befunde vor: Eine 1989 veröffentlichte Untersuchung amerikanischer Wissenschaftler über die Nebenwirkungen der täglichen Einnahme von ASS bei älteren Patienten ermittelte eine Zunahme von Dickdarmkarzinomen. In einem sind sich die Wissenschaftler derzeit einig: Eine uneingeschränkte Einnahme von ASS zur Krebsvorbeugung kann zur Zeit nicht empfohlen werden. Noch gibt es keine kontrollierte klinische Studie zur Wirkung von ASS gegen Dickdarmkrebs. Solange diese derzeit laufenden Untersuchungen nicht abgeschlossen sind, kommentierte Michael Thun den aktuellen Kenntnisstand während eines internationalen Kongresses in Venedig, müsse der Einsatz von Acetylsalicylsäure und ähnlicher Substanzen zur Prävention von Krebs „eher als interessante Möglichkeit, denn als gesicherte Tatsache“ angesehen werden.

Das letzte Kapitel im Buch der Aspirin-Geschichte ist noch nicht geschrieben – dies zeichnete sich bereits Anfang der neunziger Jahre ab. US-Forscher entdeckten, daß die Cyclooxygenase – der Schlüssel zur ASS-Wirkung – in zwei Varianten, sogenannten Isoformen, vorkommt: als „gutes“ Enzym Cox-1 und als „schlechtes“ Enzym Cox-2.

Die Wissenschaftler fanden Cox-1 in den Zellen nahezu aller Gewebe. Die von Cox-1 hergestellten Prostaglandine nutzen dem Organismus: Sie schützen beispielsweise die empfindliche Schleimhaut von Magen und Darm und regulieren die lebensnotwendige Gerinnung des Blutes. Cox-2 hingegen wird nur von Zellen freigesetzt, wenn sie durch mechanische oder chemische Reize Schaden erlitten haben. Das Enzym sorgt daraufhin für die Produktion derjenigen Prostaglandine, die für Schmerz, Fieber und Entzündung zuständig sind. Weitere Untersuchungen ergaben, daß die Acetylsalicylsäure beide Isoformen hemmt. Allerdings scheint ASS eine „Vorliebe“ für Cox-1 zu haben: Es wird stärker blockiert als Cox-2. Dieser feine Unterschied könnte den Entwicklungsweg zu einem „besseren Aspirin“ öffnen: ein Medikament ohne Nebenwirkungen.

Denn für die Nebenwirkungen von ASS – in erster Linie Blutungen in Magen und Darm, die bei regelmäßiger Einnahme vorkommen können – machen die meisten Forscher die ausgeprägte Affinität des Wirkstoffs für Cox-1 verantwortlich: Weil diese Enzymvariante durch die Acetylsalicylsäure stärker gehemmt wird, so die Hypothese, fehlen die nützlichen Prostaglandine. Ohne deren Schutz ist die Schleimhaut von Magen und Darm den Angriffen der Acetylsalicylsäure gleichsam wehrlos ausgeliefert. Gelänge es den Forschern, einen Wirkstoff zu entwickeln, der Cox-1 unberührt läßt, Cox-2 aber gezielt hemmt, könnten Schmerzen nebenwirkungsärmer bekämpft werden. Derart selektive Cox-2-Hemmer könnten auch bei Krebs oder Alzheimer einsetzbar sein: In entarteten Zellen kommt Cox-2 in hohen Konzentrationen vor; auch bei Alzheimer spielen entzündliche Prozesse eine Rolle – deutliches Zeichen einer ausgeprägten Cox-2-Aktivität.

Ob sich die schöne Theorie so glatt in die komplexe Realität physiologischer Prozesse übertragen läßt oder ob durch das Ausschalten von Cox-2 nicht wieder neue Nebenwirkungen entstehen, bleibt abzuwarten. In den Labors großer Pharmafirmen – etwa bei Boehringer Ingelheim, Dupont, Searle, Merck oder Novartis – entwickeln Wissenschaftler seit einiger Zeit Cox-2-Hemmer. Einige dieser Stoffe sollen das Entzündungsenzym Cox-2 tausendmal stärker blockieren als Cox-1. Der Cox-2-Hemmer „Meloxicam“, eine Entwicklung der zu Boehringer Ingelheim gehörenden Thomae GmbH, kam als neues Rheumamittel 1996 auf den Markt.

Wie auch die Zukunft der Cox-2-Hemmer aussehen wird, in einer Hinsicht werde der Gebrauch der klassischen Acetylsalicylsäure wohl in jedem Fall expandieren, prophezeit ASS-Forscher und Nobelpreisträger Vane in „nature“: zur Vorbeugung von Herzinfarkt und Schlaganfall – trotz sich abzeichnender medikamentöser Alternativen. Denn hier ist gerade die Blockade von Cox-1 erwünscht. ASS hindert die Blutplättchen unwiderruflich daran, Thromboxan herzustellen: Während ihres Lebens – acht bis zehn Tage – sind sie dazu nicht mehr fähig; das fatale Verklumpen (Aggregation) bleibt aus. Vanes Urteil: „Wenn ASS einst als Medikament zur Hemmung der Thrombozyten-Aggregation entwickelt worden wäre – man hätte es nicht besser machen können.“

Wurzeln in der Volksmedizin

„Wir bitten Sie, dem Aspirin, welches sich zweifellos einen hervorragenden Platz in dem Arzneischatz erwerben wird, Ihre Aufmerksamkeit zu schenken.“ Mit diesem Satz endet die erste Aspirin-Anzeige im Mai des Jahres 1899, mit dem die „Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co.“ die Ärzte auf ihr neues Produkt hinwiesen. Kaum zwei Jahre zuvor, am 10. August 1897, hatte der 29jährige Pharmazeut und Chemiker Felix Hoffmann, Angestellter des Werkes in Elberfeld, erstmals in seinem Laborjournal die erfolgreiche Herstellung der Acectylsalicylsäure, des Wirkstoffs von Aspirin, verzeichnet.

Obgleich eine Schöpfung aus der Retorte, hat die Acetylsalicylsäure ihre Wurzeln in der Volksmedizin vergangener Jahrhunderte. Ihr Name geht zurück auf „Salix“, den lateinischen Ausdruck für Weidenbäume. Ein Aufguß der Weidenrinde, wußte schon der Vater aller Ärzte, Hippokrates von Kos (460 – 377 v. Chr.), lindert Schmerzen und Fieber. Dies war auch den Kräuterfrauen des Mittelalters bekannt. Sie kochten Weidenrinde auf, um das so gewonnene bittere Gebräu schmerzgepeinigten Menschen zur Linderung zu verabreichen.

Als Naturheilmittel fast in Vergessenheit geraten, gewann der Münchner Pharmazieprofessor Johann Buchner im Jahr 1828 aus dem Weidensaft eine gelbliche Masse, die er Salicin nannte. Zehn Jahre später veredelte der Italiener Raffaele Piria das Salicin zu Salicylsäure. Mitte des 18. Jahrhunderts gelang dem Marburger Chemiker Hermann Kolbe die chemische Synthese. So konnte 1874 die industrielle Produktion der Salicylsäure beginnen. Doch die Dauerbehandlung reizte die Schleimhäute von Mund, Rachen und Magen. Zudem hatte das Mittel nach zeitgenössischen Dokumenten einen „widerlichen Geschmack“.

Felix Hoffmanns Ansporn, sich der Salicylsäure anzunehmen, war persönlicher Natur: Sein Vater litt an Rheuma. Der Jungforscher machte sich deshalb auf die Suche nach einem besser verträglichen und wirksamen Rheumamittel. Er fand es, indem er an die Salicylsäure eine „Acetyl-Gruppe“ ankoppelte. Die erste pharmakologische Untersuchung der Substanz erfolgte 1899 durch Heinrich Dreser, im gleichen Jahr die erste klinische Prüfung durch Kurt Witthauer. Noch im Jahr 1899 kam das Präparat unter dem Handelsnamen „Aspirin“ zunächst in Pulver-, ein Jahr später in Tablettenform auf den Markt.

Claudia Eberhard-Metzger

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Schilf  〈n. 11; unz.; Bot.〉 1 〈i. w. S.〉 Mitglied einer Gattung der Süßgräser: Phragmites; Sy Schilfrohr … mehr

Bru|nel|le  〈f. 19; Bot.〉 = Braunelle2

Völ|ker|kund|le|rin  〈f. 22〉 Wissenschaftlerin, Studentin der Völkerkunde; Sy Ethnologin … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige