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Billiglöhne schaffen keinen Wohlstand

Allgemein

Billiglöhne schaffen keinen Wohlstand
Ostasien muß mehr in die Bildung investieren. Das Wirtschaftswunder in China, Thailand oder Malaysia steht auf tönernen Füßen. Billiglöhne allein reichen bald nicht mehr, um die Zukunft zu sichern. Was fehlt, ist eine solide Berufsausbildung.

Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich der globale Rüstungswettkampf verlagert. Nicht mehr die großen Militärblöcke konkurrieren, sondern die alten und neuen Technologienationen. Besonders in Ostasien haben sich kulturelle, politische und wirtschaftliche Faktoren stimuliert und zu einem gewaltigen Aufschwung geführt. Initialzündung war die japanische Herausforderung. Unter diesem Schlagwort berichteten westliche Medien in den siebziger und frühen achtziger Jahren über die japanische Eroberung vieler Weltmärkte. Japans Erfolg war für große Teile Ostasiens der Weckruf: “Was die können, schaffen wir auch.” Inzwischen versuchen Länder mit zusammen 2,5 Milliarden Einwohnern, dem japanischen Beispiel zu folgen. So spielt sich in China gegenwärtig die größte Völkerwanderung innerhalb der Grenzen eines Staates ab, die die Welt je gesehen hat. Die chinesische Agrarreform in den späten siebziger Jahren steigerte in der Folgezeit nicht nur die Produktion. Sie setzte auch massenweise Landarbeiter frei, die ihr Heil – immer noch – in den Städten suchen. Die ökonomischen Konsequenzen: Chinesische Schätzungen gehen davon aus, daß heute auf dem Lande um die 120 Millionen Menschen unterbeschäftigt oder arbeitslos sind. Bis zum Jahr 2 000 soll diese Zahl sogar auf 200 Millionen klettern. Ein Großteil dieser Arbeitslosen strömt in die Städte: 90 Millionen dieser Wanderarbeiter sind in China inzwischen unterwegs.

Die Regierung in Beijing betrachtet diese Wanderung mit gemischten Gefühlen. Einerseits nehmen die Arbeiter vom Land Tätigkeiten an, die strapaziös, gefährlich oder ungesund sind: Sie zimmern Baugerüste, tragen schwere Lasten, reinigen die Kloaken und bekommen dafür einen Tageslohn von umgerechnet 1 bis 2 Mark. Die Kehrseite ist, daß die Landarbeiter die ohnehin überforderte Infrastruktur der Städte zusätzlich belasten. Die Alteingesessenen fürchten sich zudem vor den vielen Fremden und beschuldigen sie, für die steigende Kleinkriminalität in den Städten verantwortlich zu sein.

Jahrzehntelang war Landflucht untersagt. Beamte behandeln die Provinzler deshalb heute noch von oben herab: Noch immer dürfen die Arbeit suchenden Landflüchtlinge keinen Besitz in den Städten erwerben. Auch ihre Kinder dürfen sie dort nicht zur Schule schicken.

Die Diskriminierung geht so weit, daß mitunter sogar Firmen unter Druck gesetzt werden, keine “billigen” Zuwanderer zu beschäftigen, weil dadurch die bereits in der Stadt lebenden Arbeitslosen weiter ausgegrenzt werden.

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Andererseits sind die Heerscharen an Wanderarbeitern auch keine spaltende Kraft, sondern sie sind gegenwärtig die Hefe, die in ganz Ostasien für Dynamik sorgt: Eine Wirtschaft, die sich so schnell industrialisiert, wie es China und andere asiatische Länder tun, hat großen Bedarf an billigen Arbeitskräften: Bei einem knappen Arbeitsmarkt würden die Löhne rasch steigen, und dadurch wäre dann weniger Geld für Investitionen vorhanden. Historisch gesehen spielt sich in China und weiten Teilen des übrigen Ostasiens genau das gleiche ab wie im 19. Jahrhundert in Deutschland: Berlin oder das Ruhrgebiet brauchten willige Arbeitskräfte und sorgten für eine massive Landflucht in Deutschlands Osten.

Was in China besonders drastische Formen angenommen hat, gilt auch für die Land-Stadt-Beziehung in weiten Teilen des anderen Ostasiens: Auch Djakarta, Bangkok oder Ho Chi Minh-Stadt verzeichnen ein explosives Wachstum und sind ein Magnet für billige und ungelernte Landarbeiter.

Nach der Untersuchung von einem der führenden Ökonomen an der Stanford University, Prof. Paul Krugman, liegen exakt hier aber deutliche strukturelle Schwächen vieler asiatischer Volkswirtschaften: Der gegenwärtige Wirtschaftsboom basiert auf billigen Arbeitskräften, die massenweise zur Verfügung stehen. Effizientes und effektives Arbeiten – so Krugman – kommt dabei eindeutig zu kurz. Sobald der Strom arbeitssuchender Landarbeiter versiegt, wird sich das Wirtschaftswachstum verlangsamen – davon ist Krugman überzeugt. Denn die “etablierten” Industriearbeiter werden bald bessere Wohnungen, eine ordentliche Ausbildung für ihre Nachkommen und eine hinreichende Gesundheitsversorgung verlangen – kurzum einen bescheidenen Wohlstand. Mit Sicherheit wird das Ostasien als Wirtschaftsstandort verteuern.

Japan ist das beste Beispiel. Das Land hat ein gehobenes Wohlfahrtsniveau erreicht und kämpft nun gegen ähnlich kostspielige Folgen eines langanhaltenden Aufschwungs wie Westeuropa. Gegenüber anderen ostasiatischen Staaten hat Japan allerdings eines noch immer voraus: Das Land verfügt über ein riesiges Heer hervorragend ausgebildeter, und unternehmenstreuer Facharbeiter und Ingenieure.

Eine vor wenigen Monaten vorgestellte Studie des Hongkonger Beratungsunternehmens Political & Economic Risk Consultancy, bewertet Qualitäten und Mängel asiatischer Facharbeiter und offenbart den wunden Punkt der gesamten Region: Trotz Masse an Arbeitnehmern haben die Firmen das Problem, Leute zu finden, die sich dauerhaft an ein Unternehmen binden und deren Aus- und Weiterbildung sich denn auch für die Unternehmen lohnt.

Thailand etwa mangelt es an Ingenieuren. Obwohl das Land ähnlich viele Einwohner hat wie die Bunderepublik vor der Wiedervereinigung, beendeten 1993 lediglich 5127 Studenten ihre Ingenieursausbildung erfolgreich. In Deutschland waren es zehnmal mehr. Wer in Thailand zur Universität geht, entscheidet sich häufig für eine gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung, weil sie mit höherem Prestige verbunden ist. Um in der Elektronik, im Maschinenbau und bei der Stahl-Herstellung international konkurrenzfähig zu bleiben, müßte das Land dies schleunigst ändern. “Wir haben bisher nicht viel dafür getan, daß in unserem Land auch künftig hochwertige Industrien zur Verfügung stehen”, sagt Wirtschaftswissenschaftler Wisarn Pupphavesa von Thailand Development Research. Der Luxus von Bangkok täuscht. Die Schulbildung auf dem Land wird sträflich vernachläßigt. Konzequenz: Nicht einmal zwei Drittel der Thai-Arbeiter gingen länger als sechs Jahre zur Schule. Auch bessere Schulen werden stiefmütterlich behandelt: Das Lehrergehalt ist schlecht. Moderne Lehrhilfen wie ein Physik- oder Chemielabor sowie Computer sind nur selten zu finden.

Auch Mohamad Mahathir, Ministerpräsident von Malaysia, fordert ein Umdenken: Weg von der Produktionsphilosophie der billigen Arbeitskräfte, hin zu kapital- und technologieintensiven Industrien. Sein Land, dessen Ausgaben für Forschung und Entwicklung 1994 lediglich 0,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachten (Deutschland: 2,5 Prozent Japan: 2,8 Prozent), unternimmt derzeit enorme Anstrengungen, um den Wert bis zum Jahr 2000 auf wenigstens 1 Prozent zu erhöhen. Zügig werden Universitäten und staatliche Forschungseinrichtungen ausgebaut, die Zahl der Wissenschaftler soll rasch wachsen. 1992 kamen auf eine Million Einwohner 400 Wissenschaftler, zur Jahrtausendwende sollen es 1000 sein. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik Deutschland kommen 6200 und in Japan 7200 Wissenschaftler und forschungsorientierte Techniker auf eine Million Einwohner.

Als Musterknabe für die jüngere Entwicklung in Ostasien wird Singapur genannt. Der Stadtstaat ist in der Tat gegenüber Malaysia, China oder Thailand in einer besseren Lage. Sein Budget für Forschung und Entwicklung liegt bereits über einem Prozent am Bruttoinlandsprodukt. Und neuerdings können sogar Tochterunternehmen ausländischer Konzerne in den Genuß dieser Fördermittel kommen. Sony und Matsushita haben diese Chance bereits beim Schopf gegriffen und forschen in Singapur an Computern und für die Telekommunikation.

Auch für Singapur gilt: Das Land leidet an einem eklatanten Mangel an qualifiziertem Personal. Deswegen werden die Hochschulprogramme erweitert und Fachpersonal im Ausland rekrutiert. Das Singapur Economic Board bemüht sich in etlichen europäischen Ländern und den USA um wissenschaftliche Mitarbeiter, die sich der Herausforderung Singapur stellen wollen. Das International Manpower Department sucht erfahrene, junge Wissenschaftler und bietet dafür ein interessantes Einkommen. Wichtigste Zielgruppe sind amerikanische Naturwissenschaftler chinesischer Abstammung. Singapur plant seine Zukunft mit einer Akribie, die in der heutigen Welt ihresgleichen sucht. Nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der gesellschaftlichen Entwicklung sind Einfluß und Druck des Staates mit paternalistischer Autorität allgegenwärtig. Bei einem weltweiten Wettbewerb im letzten Jahr erzielten die Schüler des Stadtstaates die besten Resultate in Mathematik und Naturwissenschaften.

Die sehr guten Ergebnisse sind natürlich das Resultat von Paukerei. Daß man mit Pauken allein keine Kreativität freisetzt, ist erkannt. Der neue Bildungsminister Teo Chee Hean – ein ehemaliger Admiral – will ein Konzept für mehr Kreativität an Singapurs Schulen ausarbeiten. Singapur soll eine “intelligente Insel in Asien” werden – ein Zentrum für die Computerindustrie.

Die Regierung will nicht nur Hardware herstellen lassen, sondern auch bedeutsame Software-Autoren in Singapur haben. In einem 100 Millionen-Dollar-Projekt soll das Land vernetzt werden. Ende nächsten Jahres soll es möglich sein, daß 95 Prozent aller Haushalte, die meisten inländischen Unternehmen und Schulen mit modernen Datenleitungen verknüpft werden können. Darüber hinaus werden in wenigen Monaten alle Schulen üppig mit Computern ausgestattet sein, was sich das ostasiatische Land stolze 1,5 Milliarden Mark kosten läßt.

Kaum Probleme mit dem Ausbildungsstand hat man dagegen heute schon in Korea und Taiwan. Beide Länder sind bereits an das Weltniveau der forschungsintensiven Staaten herangerückt (Korea gibt 2,3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aus, Taiwan 1,8 Prozent).

Ursache dieses hohen Standards ist, daß Taiwan und Korea vor 1945 jahrzehntelang zum japanischen Kaiserreich gehörten und dadurch ein anspruchsvolles Ausbildungssystem erhielt – eine Tatsache, die man dort natürlich gerne übersieht. Im Elektronik- und Computerbereich haben beide Länder das Weltniveau erreicht, beim Automobilbau, bei Chemie und Stahl sind sie nicht mehr weit davon entfernt.

Das anspruchsvolle Ausbildungssystem ist es auch, das Deutschland in allen Ländern Ostasiens immer noch großen Respekt verschafft. Mehr und mehr setzt sich im Fernen Osten die Auffassung durch, daß der Facharbeitermangel nur durch ein duales Ausbildungssystem nach deutschem Vorbild beseitigt werden kann. Das offenbart sich in Thailand, das gerade dabei ist, sich zu einem asiatischen Produktionszentrum der Automobilindustrie – General Motors, Toyota, Nissan, Chrysler – zu entwickeln: “Im Rahmen unseres Dual-Vocational-Training-Program sind bereits 20 000 junge Thais in einem dualen Ausbildungssystem engagiert”, sagt Prof. Rudolf Mann, der von der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GTZ, entsandt ist, um das thailändische Bildungsministerium bei der Entwicklung einer beruflichen Ausbildung zu beraten. “Für das Land ist es wichtig, junge Menschen an die Drehbank zu bringen”, sagt Mann. “Doch dazu ist ein Umdenken notwendig, weil sozialer Aufstieg bisher mit dem Ergattern eines Angestelltenjobs gleichgestellt wurde.”

Ostasien muß nach Schätzungen der Weltbank in den kommenden zehn Jahren um die 500 Milliarden Dollar in seine Infrastruktur investieren, also für Bildung, Telekommunikation, Stromerzeugung, Straßenbau oder Kanalisation. Gleichzeitig werden die Beschäftigten in der Industrie mehr Verdienst fordern – schon allein deshalb, weil sie den Wohlstand reicher Industrieländer durch den Wert ihrer Exportprodukte sowie aufgrund moderner Kommunikation ständig vor Augen und Ohren haben.

Die ostasiatische Herausforderung wird Europa daher nicht nur negativ, sondern auch positiv beeinflussen. Ostasien wird so zum Katalysator in unserem Sozial- und Wirtschaftssystem. Bei der richtigen Weichenstellung könnten Mitteleuropäer durch ihre fortschrittliche Aus- und Weiterbildung Punkte sammeln und so Standortnachteile gegenüber Ostasien ausgleichen. Die Vision von der Wissensgesellschaft ist also nicht nur auf dem Papier eine Chance für die Mitteleuropäer.

Iván Botskor

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