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Riesen im Hintergrund

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Riesen im Hintergrund
Eine neue Klasse von Galaxien füllt das Weltall. Rund die Hälfte aller Sternsysteme haben die Astronomen bislang übersehen – sie leuchten so schwach, daß sie sich kaum vom Himmelshintergrund abheben. Versteckt sich hier vielleicht die Dunkle Materie?

Die Astronomen haben eine neue Gattung von Galaxien aufgestöbert. Sie kennen bereits über 1000 Exemplare dieser eigenartigen Himmelsobjekte: leuchtschwache Sternsysteme, denen sie seit einem guten Jahrzehnt auf der Spur sind. Die matt schimmernden Galaxien sind genauso häufig wie ihre helleren Geschwister, und sie gleichen ihnen auch im Aussehen und in der Anzahl der Sterne, die sie enthalten. Doch diese Sterne sind auf ein viel größeres Volumen verteilt – deshalb erscheinen die „Neuen“ so unscheinbar und leuchtschwach.

Sie bereichern wesentlich unser von Galaxien geprägtes Bild des Alls, dessen Wurzeln in der Erkenntnis des amerikanischen Astronomen Edwin P. Hubble liegen. Vor 70 Jahren entschied er einen zwei Jahrhunderte währenden Streit der Astronomen: Steht die Milchstraße allein im ansonsten leeren Kosmos, oder ist sie nur eine von unzähligen Welteninseln, die uns auf Grund unvorstellbarer Entfernungen nur als verschwommene „Nebelflecken“ erscheinen? Hubble zeigte schließlich zweifelsfrei, daß es sich um eigenständige Sternsysteme handelt, vergleichbar mit unserer Milchstraße.

Es waren die neuen Großteleskope, die Hubbles bahnbrechende Messungen erst ermöglichten. Weiter und weiter blicken die Himmelsforscher seither mit immer größeren Fernrohren in die Tiefen eines Alls, in dem es Milliarden von Galaxien gibt, von denen jede ihrerseits aus zehn oder gar hundert Milliarden von Sternen besteht. Die Galaxien wurden katalogisiert und klassifiziert: in elliptische, spiralförmige und irreguläre Systeme.

Doch 1976 äußerte Michael J. Disney, damals am Kapteyn Institut im niederländischen Groningen, eine unerhört klingende Behauptung: All die katalogisierten Galaxien seien überhaupt nicht repräsentativ, sondern vielmehr eher die Ausnahmen als normale Sternsysteme. Denn, so räsonierte Disney, bei der Suche nach Galaxien würden die Kollegen Systeme bevorzugen, die hell genug und damit auffällig sind, und sie würden sich nicht darum kümmern, ob es vielleicht noch viele unbekannte Systeme gibt, die man nicht auf Anhieb erkennt. Waren also die katalogisierten Sternsysteme nur so etwas wie die Spitze des Eisbergs? Verbarg sich unter der „Oberfläche“ des Himmelshintergrundes eine Unmenge leuchtschwächerer Galaxien? Ein Jahrzehnt verging, ehe sich zeigte, daß Disney mit seinen Überlegungen ins Schwarze getroffen hatte.

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Mitte der achtziger Jahre begaben sich Gregory Bothun und Chris Impey vom California Institute of Technology auf Spurensuche Sie hatten von einer neuen Technik zum Nachweis extrem lichtarmer Strukturen gehört, entwikkelt von dem australischen Astronomen David Malin. Malin war sofort einverstanden, eine Testaufnahme eines kleinen Feldes im Virgo-Galaxienhaufen mit seiner Methode zu bearbeiten. Tatsächlich zeigten sich zahlreiche schwache Flecken auf der Aufnahme. Skeptische Kollegen waren überzeugt, daß es sich dabei lediglich um Artefakte des Entwicklungprozesses handelte, simple Bildfehler durch Staub oder Wasserflecken etwa. Um Klarheit zu gewinnen, nahm Bothun am Las Campanas Observatorium weitere Beobachtungen vor. Dabei offenbarte eines der diffusen Fleckchen plötzlich eine spiralförmige Struktur. Es gelang Bothun schließlich, am 5-Meter-Spiegelteleskop der Mount Palomar Sternwarte ein Spektrum des Objekts aufzunehmen und daraus dessen Entfernung zu bestimmen. Offenbar, so das Resultat, handelte es sich um eine Galaxie in der 25fachen Entfernung des Virgo-Haufens! Bei dieser Entfernung mußte der vermeintlich kleine Fleck eine gewaltige Ausdehnung besitzen: 20mal so groß wie unsere Milchstraße.

So unglaublich erschien Bothun dieses Ergebnis, daß er mit seinem Kollegen Jeremy Mould um einen Sechserpack Bier wettete, daß es sich nur um eine zufällige Überlagerung einer kleinen Galaxie im Virgo-Haufen mit einem hellen, weiter entfernten Sternsystem handelte. Bothun verlor die Wette. Dafür hatte er das erste Beispiel einer „Galaxie mit geringer Flächenhelligkeit“ (Low Surface Brightness Galaxy, LSB-Galaxie) aufgespürt. „Malin 1“ taufte der Astronom zu Ehren seines australischen Kollegen das ungewöhnliche Objekt, das – noch heute – das größte bekannte Sternsystem ist. Trotz seiner Größe beträgt die Flächenhelligkeit von Malin 1 lediglich ein Prozent von der einer konventionellen Spiralgalaxie wie unserer Milchstraße.

Angestachelt durch diesen Erfolg machte sich Bothun gemeinsam mit einigen Kollegen an eine systematische Suche nach leuchtschwachen Galaxien. Die meisten der rund 1000 inzwischen aufgespürten LSB-Galaxien gleichen ganz gewöhnlichen hellen Sternsystemen. Nur wenige von ihnen sind Riesen wie Malin 1.

Praktisch überall, wo sie mit ihrer neuen Technik genau hinschauten, fanden Bothun und seine Mitstreiter leuchtschwache Sternsysteme – und zwar so viele, wie bislang helle Galaxien bekannt waren. Die Astronomen hatten bisher also die Hälfte aller Sternsysteme schlicht übersehen! Steckte hier die lange gesuchte Dunkle Materie? Rund 90 Prozent der Materie im Kosmos scheint nicht zu leuchten und sich so der unmittelbaren Beobachtung zu entziehen.

Doch die leuchtschwachen Galaxien reichen trotz ihrer großen Zahl nicht aus, um dieses Problem zu lösen. Sie könnten allerdings die Antwort auf ein ähnliches Problem der Kosmologie geben: das der fehlenden „baryonischen“ Masse. Baryonen nennen die Physiker schwere Elementarteilchen wie Neutronen und Protonen, aus denen die Atomkerne aufgebaut sind. Die Urknall-Theorie macht genaue Vorhersagen über die Gesamtzahl von Baryonen im Kosmos – aber diese Vorhersagen liefern erheblich mehr Baryonen, als bislang leuchtende Materie beobachtet wurde. Stecken die fehlenden Baryonen also in den LSB-Galaxien? Nur weitere Beobachtungen werden diese Frage klären können.

Schon heute steht fest, daß die leuchtschwachen Welteninseln das Bild der Astronomen von der Evolution der Galaxien verändern werden. In den LSB-Systemen läuft die Sternentstehung offenbar erheblich langsamer ab als in helleren Galaxien. Vermutlich ist die Gasdichte in ihnen zu gering, um die Bildung von großen Molekülwolken zu erlauben, die in Systemen wie der Milchstraße eine Rolle als Geburtsstätten insbesondere von massereichen Sternen spielen. Die leuchtschwachen Galaxien durchlaufen so eine Art Alternativ-Evolution, in der fast ausschließlich Sterne geringer Masse entstehen.

Dadurch haben die LSB-Galaxien auch eine andere chemische Zusammensetzung, denn schwere Elemente werden vor allem in den sich rascher entwickelnden Sternen mit großer Masse produziert. Die leuchtschwachen Sternsysteme sind also vermutlich die am wenigsten durch Entwicklungseffekte veränderten Objekte des Kosmos. Deshalb erhoffen sich die Astronomen von ihnen neue Erkenntnisse über die Frühzeit unseres Universums.

Die Entdeckung der leuchtschwachen Galaxien hat ein neues Fenster zum Kosmos aufgestoßen – und neue Fragen aufgeworfen: Wie viele LSB-Galaxien gibt es, wenn man zu immer geringeren Helligkeiten übergeht? Wie läuft die Sternentstehung in dieser völlig anderen Umgebung ab? Sind LSB-Galaxien ähnlich im Raum verteilt wie helle Galaxien? Vielleicht finden die Wissenschaftler schon in den nächsten Jahren Antworten auf diese Fragen.

Rainer Kayser

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