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Die Raupenfabrik

Allgemein

Die Raupenfabrik
Japans Gentechniker machen aus dem Seidenspinner eine kriechende Apotheke. Gentechnisch veränderte Mikroben machen Angst, die Arzneimittelproduktion mit genetisch veränderten Kühen und Schafen ist mühsam. Deshalb läßt Japan Medikamente nun von transgenen Raupen herstellen.

Millionen hungriger Raupen fressen sich durch Berge grüner Blätter. Die Insekten werden automatisch gefüttert, gemästet bis zur „Schlachtreife“. Ihre Körperflüssigkeit enthält viele Substanzen, die für die menschliche Medizin nützlich und wertvoll sind. Japanische Forscher sind überzeugt: Die Zukunft der kommerziellen Gentechnologie liegt bei der Seidenspinnerraupe statt bei Bakterien oder Säugetieren.

Die Raupe von Bombyx mori, wie der Schmetterling bei Biologen heißt, dient im Orient seit 4000 Jahren als Produzent reiner Seidenfasern (siehe Kasten). Nach der Vorstellung japanischer Wissenschaftler soll sie jetzt dazu beitragen, die Tür zu einer neuen Ära der gentechnologischen Synthese von Biomolekülen aufzustoßen. Nötig ist dazu nur, das Erbgut des Schmetterlings mit menschlichen Genen zu ergänzen.

Prinzipiell ist das heute kein Problem mehr. Bestimmte Viren transportieren als Gentaxis jede gewünschte Erbinformation in den Zellkern von Bakterien oder Hefepilzen. Diese produzieren dann medizinisch nutzbare Moleküle: Insulin, Interferon, Wachstumshormone. Allerdings können die Mikroben nicht alle gewünschten Substanzen herstellen – kompliziert gebaute Eiweiße etwa. Dazu braucht man bisher die Zellen höherer Tiere wie Hamster, oder man modifiziert die Gene von Schafen und Kühen. Die sind als Säugetiere dem Menschen näher verwandt und scheiden die gewünschten Stoffe mit ihrer Milch aus.

Die Züchtung der genetisch veränderten – transgenen – Tiere ist allerdings nicht so einfach wie die von Bakterien. Auch ist die Isolierung der Zielsubstanz aus den Zellen oder der Milch ein mühsames Geschäft. Die Produktionslücke zwischen Mikroben und Säugetieren sollen nun Insekten schließen. Der Seidenspinner ist weltweit das zweite Insekt, dessen Erbgut Biologen gezielt umprogrammiert haben – nach der Fruchtfliege Drosophila, seit vielen Jahren das Haustier der Genetiker. Die Wahl fiel auf den Schmetterling, weil seine „Raupen sehr effizient sind bei der Synthese von Biomolekülen“, erklärt Dr. Shigeru Kimura, Direktor des Instituts für Insektenkunde in Tsukuba.

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Früher war es sein Ziel, der japanischen Seidenindustrie zu helfen. Doch inzwischen ist die Seidenproduktion in benachbarte Billiglohnländer ausgewandert. Also wurde versucht, das angehäufte Wissen über Seidenspinner anders zu nutzen. Um aus den Raupen profitable Arbeitstiere zu machen, waren zwei sehr verschiedene Forschungen zu bündeln. „Zum einen müssen die Insekten gezielt genetisch verändert werden, zum anderen müssen wir fabrikgerechte Rassen züchten“, sagt Dr. Kimura.

Seidenspinner sind Insekten, die mit den Jahreszeiten leben: Herbst und Winter verschlafen sie, im Frühjahr wachsen sie, im Sommer pflanzen sie sich fort. Diesen geruhsamen Rhythmus hat der Mensch aber schon längst beschleunigt. Er schuf in den Insektenhäusern ein künstliches Klima mit idealen Verhältnissen von Licht, Feuchtigkeit und Temperatur, allerdings viel kürzeren „Jahreszeiten“.

„Die größere Hürde waren die Ernährungsgewohnheiten der Raupen“, sagt Dr. Hajime Inou, Forschungskoordinator des Instituts. Seidenspinnerraupen fressen gewöhnlich die Blätter des Maulbeerbaums – und nichts anderes. Außerdem sind die Raupen Feinschmecker: Sie fressen weder getrocknete noch eingefrorene und wieder aufgetaute Blätter. Lieber verhungern sie. „Also mußten wir zuerst Seidenspinner züchten, die nicht so wählerisch sind“, erklärt Dr. Inou.

Die neuerdings in Tsukuba gezüchtete Rasse ist kein Kostverächter mehr. Eine bestimmte Mischung aus Karotten, Gemüseblättern und einem Laub, das nach Trockenfutter für Hunde riecht, hat sich als das ideale Futter erwiesen. Damit kann man die Raupen nun das ganze Jahr mästen und ihren Lebenszyklus von den Jahreszeiten abkoppeln.

„Wir haben ein automatisches Massenproduktionssystem entwickelt“, stellt Dr. Masanobu Ohura sein Projekt vor. Die Seidenspinnerraupen werden nach den internationalen Richtlinien für den Umgang mit genetisch veränderten Organismen zwar als weniger gefährlich für die Umwelt eingestuft als Mikroorganismen, trotzdem müssen bestimmte Sicherheitsmaßnahmen eingehalten werden. In den abgeschlossenen Räumen hinter einer Glasscheibe herrscht Unterdruck, die Luft wird kontinuierlich ausgetauscht und gefiltert.

Die Anlage erinnert an ein Riesenrad – statt Gondeln trägt sie große Tabletts. Auf denen wuseln Seidenspinnerraupen unterschiedlichen Alters herum, die automatisch mit Futter versorgt werden. Greifarme hängen ständig neue Tabletts mit kleinen Raupen an das sich drehende Rad, die mit den großen Raupen werden herausgenommen und zum „Schlachthof“ gebracht. Eine Raupe enthält rund einen Milliliter Hämolymphe – das Blut der Insekten. Darin schwimmen die gesuchten Moleküle. „Eine ausgewachsene Raupe wiegt sieben bis acht Gramm. Wir gewinnen aus einer transgenen Raupe etwa ein Milligramm des gewünschten Biomoleküls“, erläutert Ohura. Das Verhältnis ist etwa hundertmal besser als die Ausbeute von Insulin oder Interferon aus Bakterien.

Der Ertrag ist entscheidend“, betont auch Dr. Toshio Nara von der Kyushu Universität. In seinem Labor wurde die Raupe des Seidenspinners mit dem Gen ausgestattet, das verantwortlich ist für die Produktion eines ganz bestimmten Eiweisses, des gp120. Dieses Protein ermöglicht es Aids-Viren, an den Lymphzellen des menschlichen Immunsystems anzudocken. Verändert man diese Eiweißstruktur, kann man den Vorgang blockieren – ein Ziel der Aids-Forschung. Bisher konnte gp120 nur aufwendig und teuer aus den Zellen von Affen und Hamstern gewonnen werden. Die Seidenspinnerraupen sollen es bald billiger liefern.

An der Mie-Universität versuchen Forscher derweil, die Raupe so zu programmieren, daß sie ein Molekül namens Proxilin-S produziert. Das wird in der Natur von einem blutsaugenden Käfer gebildet und in seine Opfer injiziert. Da es die Blutgerinnung verzögert, soll Proxilin-S – ähnlich wie der Gerinnungshemmer Hirudin aus Egeln – Menschen mit Thrombosen und anderen Gefäßkrankheiten helfen.

Die Tiermedizin ist schon weiter: Der Pharmakonzern Toray in Shikoku hat in das Erbgut von Seidenspinnerraupen ein Gen aus Katzen verpflanzt. Die Raupen produzieren nun Katzen-Interferon, das die Immunabwehr der Tiere stimuliert. Als „Intercat“ ist das Präparat schon auf dem Markt und soll Katzen gegen Infektionen helfen. Seit 1997 ist es auch für die Behandlung von Hunden zugelassen.

Japan ist heute zweifellos führend in der Forschung an transgenen Seidenspinnerraupen und deren gentechnologischer Anwendung. „Europa und die USA haben bis jetzt wenig Geld und Mühe dafür investiert“, bedauert der französische Biologieprofessor und Insektenforscher Jules Hoffmann von der Universität Straßburg. Dabei könnten die Insekten womöglich nicht nur helfen, medizinische Probleme zu lösen, sondern auch politische und ethische.

Denn einerseits ist in der Öffentlichkeit die Angst groß vor gentechnisch veränderten und unkontrolliert in die Natur entkommenden Mikroben. Bei Kühen, Schafen und Ziegen meldet andererseits der Tierschutz Bedenken an: Die Tiere dürften nicht als „biologische Fabriken“ mißbraucht werden. Außerdem sind die von menschlichen Genen in den Säugetieren produzierten Moleküle dem tierischen Organismus oft sehr nahe verwandt und rufen in deren Stoffwechsel womöglich ungewollte Reaktionen hervor.

Das ist bei Insekten nicht zu befürchten – ihr Körper funktioniert ganz anders als der von Säugern, Menschen eingeschlossen. Vor Schmetterlingen hat auch niemand Angst – und für das Wohl von Raupen kettet sich kein Tierschützer an die Tür eines Genlabors.

4000 Jahre im Dienst

Die Seidenraupe Bombyx mori wird in China seit mindestens 4000 Jahren als Produzent von Seide gezüchtet. Das Schmetterlingsweibchen legt in seinem kurzen Leben zwischen 300 und 500 Eier. Die daraus schlüpfenden Raupen wachsen binnen 45 Tagen bis zu einer Länge von acht Zentimetern. Zu ihrem Verpuppen scheiden sie einen 300 bis 1500 Meter langen Seidenstrang aus, den sie zu einem ovalen Kokon zusammenwickeln. Die Puppe wird nach zehn Tagen in heißem Wasser getötet, der Seidenfaden von dem aufgeweichten Kokon abgespult. Einige Schmetterlinge läßt man für die Zucht ausreifen. Die weiß bis cremefarbenen Weibchen haben eine Flügelspannweite von 45 Millimetern, sie fliegen aber kaum und leben nur drei bis vier Tage. In dieser Zeit paaren sie sich mit den etwas kleineren Männchen – und der Lebenszyklus im Dienst des Menschen beginnt erneut.

Ivan Botskor

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