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Der fliegende Koffer

Allgemein

Der fliegende Koffer
Warum Kreisel nicht umfallen – Schnell drehende Massen sind äußerst beharrlich: Sie widersetzen sich jeder Richtungsänderung ihrer Achse. Diese Eigenheit hilft bei der Stabilisierung von Satelliten, Diskusscheiben und Spielzeugkreiseln.

Weil Requisiteure das Bild stören, wenn sie während der Sendung durchs Studio laufen, beschäftigten wir in unserem Fernseh-Ratespiel Roboter, die den beiden Moderatoren auf einer vorgezeichneten Metallspur alle benötigten Requisiten herbeischleppten. Eben rollte einer dieser flachen Transportwagen mit zwei großen silbernen Koffern langsam ins Fernsehstudio. Ich hatte Pause, das laufende Spiel war Sache meines Ko-Moderators.

Der hatte währenddessen einen kräftigen jungen Mann unter den Zuschauern ausgespäht und bat ihn nun, die beiden Koffer vom Wagen zu nehmen und eine Strecke geradeaus weiterzutragen. Als der Mann mit den beiden Koffern ungefähr auf gleicher Höhe mit ihm war, rief er ihn zu sich. Die plötzliche Kursänderung zwang den Kofferträger in eine scharfe Rechtskurve – und dabei geschah das Überraschende: Der Koffer an der rechten Hand stellte sich fast waagerecht, und so blieb er noch, als der Mann sich, offensichtlich erstaunt, einmal um die eigene Achse drehte. Der linke Koffer machte keinen Versuch, sich in gleicher Weise aufzurichten. Die Zuschauer amüsierten sich und applaudierten lebhaft.

Der eigenwillige Koffer: Der Ablauf war gut in Szene gesetzt. Selbstverständlich war der Mann in das Spiel eingeweiht worden. Wer die Hand des Mannes beobachtete, hätte sehen müssen, wie er die Bewegungen des Koffers steuerte. Aus der Mannschaft, der die Aufgabe zufiel, das Rätsel zu lösen, kam unvermittelt die Erklärung, in dem rechten Koffer befinde sich wohl ein rasch drehender Kreisel. “Hervorragend”, sagte der Moderator, “aber dafür bekommen Sie noch keinen Punkt. Daß Sie das vom Physikunterricht noch behalten haben, davon sind wir ausgegangen.”

Er bat ein Mitglied der Mannschaft in die Mitte des Studios und forderte den Mann auf, durch Hantieren mit dem Koffer zweierlei herauszufinden: erstens die Ausrichtung der Achse des Kreisels und zweitens den Drehsinn des Rotors. Wie gewohnt fügte er hinzu: “Sie haben eine Minute Bedenkzeit, in der die Musik spielt. Dabei dürfen Sie sich mit Ihren fünf Mitstreitern beraten.”

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Die Beratung: Die Achse zu finden, war das geringste Problem. Dazu brauchte die Mannschaft nur einige Probedrehungen des Koffers anzustellen. Die Richtung, um die sich der Koffer ohne Widerstand drehen ließ, mußte die Achsrichtung sein. Sie lag erwartungsgemäß parallel zu den kürzesten Kanten und daher senkrecht zur größten Fläche des Koffers, hinter der sich eine besonders große Rotorscheibe verbergen ließ, die durch ihr verhältnismäßig großes Trägheitsmoment viel Energie in der Drehung speichern konnte und ohne Energiezufuhr eine lange Laufzeit des Kreisels versprach.

Drehmoment und Präzession: Als schwieriger erwies es sich, den Drehsinn des Rotors zu erraten. Geschickt ist es, dabei die Achsrichtung – vor der Rechtswendung im hängenden Koffer, wie wir wissen, waagerecht und quer zur Laufrichtung – und den möglichen Drehsinn des Rotors (im Sinne einer Rechtsschraube) durch einen Vektorpfeil zu markieren. Die Länge des Vektors macht man zweckmäßig proportional zur Größe des “Drehimpulses” (Trägheitsmoment mal Winkelgeschwindigkeit).

Der Drehimpuls D eines Kreisels wird durch die Einwirkung von “Drehmomenten” geändert, die auf den Kreisel eine ähnliche Wirkung ausüben wie der Schraubenzieher beim Eindrehen von Schrauben (die mit Rücksicht auf die Mehrheit der Rechtshänder in aller Regel Rechtsschrauben sind). In entsprechender Weise wie Richtung und Länge des Drehimpulsvektors Größe, Richtung und Drehsinn des Drehimpulses angeben, werden Richtung, Drehsinn und Größe des Drehmoments durch Richtung und Länge des Momentenvektors M gekennzeichnet. Wichtig ist, daß die Änderung des Drehimpulses D in der Zeit t gleich dem Drehmoment M ist: dD/dt = M (Kreiselgleichung; d/dt bedeutet die Ableitung).

Ein Drehmoment in Richtung des Drehimpulses ändert nur dessen Größe, ein zum Drehimpuls senkrechtes Drehmoment aber auch dessen Richtung. Dadurch gerät die Kreiselachse in Bewegung: Der Kreisel fängt an zu “präzedieren”.

Die Präzession eines drehenden Kreisels infolge seiner Dreh-Trägheit ist analog zur Beharrung seiner Masse infolge ihrer Trägheit bei der Bahnbewegung. Wirkt auf die bewegte Masse eine Kraft in Richtung der augenblicklichen Geschwindigkeit, fliegt sie in derselben Richtung weiter, wenn auch mit wachsender oder abnehmender Geschwindigkeit. Wirkt die Kraft aber quer zur Geschwindigkeit, wird die Bahn gekrümmt. Keinesfalls aber nimmt die Geschwindigkeit der Masse augenblicklich die Richtung der wirkenden Kraft an.

Ebenso verhält es sich mit der Präzession des Kreisels. Bei der Drehung des Koffers an seinem Griff in die Rechtskurve wirkt auf den horizontalen Drehimpulsvektor ein vertikales Drehmoment mit Vektorpfeil nach unten. Es zieht die Spitze des Drehimpulsvektors nach unten, der Drehimpulsvektor nähert sich der Richtung des Momentenvektors (“gleichstimmiger Parallelismus” – ein Begriff, der auf Léon Foucault zurückgeht). Wenn sich dabei der Koffer – wie eingangs beschrieben – aufrichten soll, mußte der Drehimpulsvektor vorher nach links zeigen. Das heißt, der Rotor mußte sich im hängenden Koffer in Bewegungsrichtung des Mannes so gedreht haben, wie ein Wagenrad läuft.

Zugegeben, es war schwer, sich bei solchen Fragen nicht im Vorzeichen zu irren, zumal mit Lampenfieber vor vier Fernsehkameras. Der Moderator hatte sich eine Markierung auf den Koffer kleben lassen. Mit etwas Hilfe kam die Mannschaft zum richtigen Ergebnis und bekam dafür zwei volle Punkte, die ihr zum Sieg im Ratespiel verhalfen.

Weltraumkreisel: Der Kreisel im Koffer war baugleich mit dem Stabilisierungskreisel, der mit dem Nachrichtensatelliten “Symphony” in den Weltraum geflogen war und dort seit fünf Jahren seinen Dienst versah.

Die Herstellerfirma Teldix in Heidelberg hatte uns den Gyrokoffer und sein Double für die Sendung zur Verfügung gestellt. Aus meinen Notizen von damals entnehme ich, daß der Rotor eine Masse von 3,5 Kilogramm hatte und sich mit 3000 Umdrehungen pro Minute oder 50 Umdrehungen pro Sekunde drehte. Er war berührungsfrei magnetisch gelagert, um sowenig wie möglich kinetische Energie durch Reibung zu verlieren. Die kleinen in Gleitlagern laufenden Kreisel, die man für Kinder und Amateure in Spielwarengeschäften kaufen kann, leiden dagegen sehr unter der Gleitreibung. Johann Gottlieb Friedrich Bohnenberger soll sie 1817 erfunden haben; seit 1852 heißen sie nach Léon Foucault Gyroskope.

Tanz auf der Spitze: Das klassische Gyroskop besteht aus einem eisernen Rotor, der zwischen Justierschrauben in einem Stahlring gelagert ist. Früher fand man in der Verpackung als Accessoire einen massiven Eiffelturm aus Zinkguß, auf dem das Gyroskop großartig präzedierte. Das kleine Plastikhütchen, das der Käufer heutzutage bekommt, ist viel zu leicht und eignet sich nur zum Wegwerfen. Durch Abziehen einer Schnur, die man vorher auf eine Seite der Rotorwelle aufwickeln muß, läßt sich der Rotor auf recht hohe Umdrehungsgeschwindigkeit bringen.

Unter der Voraussetzung, daß die Winkelgeschwindigkeit γ der Eigendrehung des Rotors sehr groß im Vergleich zur Winkelgeschwindigkeit wp der Präzession des Kreisels um die Senkrechte ist (γ » ωp: “schneller” Kreisel), darf der Anteil der Präzession am Drehimpuls gegen den Drehimpuls C γder Rotordrehung (“Spin”) vernachlässigt werden. C ist das Trägheitsmoment des Rotors um seine Symmetrieachse (gemessen, zum Beispiel in kgxm). Bei stationärer (zeitunabhängiger) Präzession ändert sich nur die Richtung, aber nicht die Größe des Drehimpulsvektors. Die Änderung des Drehimpulses bei der Präzession ist das Produkt der Winkeländerung pro Zeiteinheit (ωp) und der Länge der Horizontalkomponente des Drehimpulses, C γ sinδ: ωp C γsinδ. Sie liegt senkrecht zur Zeichenebene und ist dem in gleicher Richtung wirkenden Drehmoment G l sinδ des Gesamtgewichts G des Gyroskops gleich. Daraus errechnet sich die Winkelgeschwindigkeit der Präzession: ωp = G l / C γ Je schneller sich der Rotor dreht (je größer γ ist), desto langsamer präzediert das Gyroskop (desto kleiner ist ωp).

Bemerkenswerterweise ist ωp für den schnellen Kreisel unabhängig vom Nickwinkel . Solange der Kreisel schnell ist, kann man also einen beliebigen Winkel δ einstellen und das Gyroskop in dieser Lage präzedieren lassen. Vor allem aber präzediert das Gyroskop für Nickwinkel zwischen den Grenzen 90 und 0 Grad, die dem hängenden und dem waagerecht “fliegenden” Koffer entsprechen, im Drehsinn des Rotors. Mit diesem Wissen hätte es die Ratemannschaft der Bewegung des Koffers ansehen können, in welcher Richtung sich der Kreisel darin drehte. .

Wolfgang Bürger

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