Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Moral schützt – aber nicht immer

Allgemein

Moral schützt – aber nicht immer
Der Siedepunkt des Gewissens, etwa bei Versicherungsbetrug, liegt unterschiedlich hoch.

Wir werden alle zu Verbrechern, wenn es sich nur auszahlt. Dies behaupten prominente Wirtschaftswissenschaftler wie der Amerikaner Gary Becker. Um Kriminalität zu erklären, so diese Lehrmeinung, brauche es keine Theorien über „psychologische Unzulänglichkeiten, Erbgut oder spezielle Charakterzüge, sondern nur die normale ökonomische Analyse von Entscheidungen“: Ist die Beute groß und das Entdeckungsrisiko gering, kümmern den Menschen Gewissen und Gesetze nicht.

Absurd? Für seine originellen Anwendungen ökonomischer Theorien bekam Becker 1992 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Im Englischen heißt seine Denkschule der zweckrationalen Entscheidung doppeldeutig „Rat Choice“ – was offiziell die Abkürzung für „Rational Choice“ ist. Die Ratten-Wahl führt zu verblüffenden Behauptungen über angeblich rationale Kalkulationen von Gesetzesbrechern. Etwa: Die Mordrate sinke um ein halbes Prozent, wenn die Zahl der Hingerichteten um ein Prozent erhöht werde. In den USA trugen derartige Thesen zur Verschärfung des Strafrechts bei. Experten bezweifeln jedoch, daß potentielle Mörder die Konsequenzen durchrechnen, bevor sie zur Knarre greifen.

Rationale Gauner könnte man dagegen hinter Versicherungsbetrügern vermuten. Für die These vom Betrüger Jedermann sprechen die Statistiken: Mehrere Milliarden Mark werden jährlich durch Versicherungsbetrug ergaunert – rein rechnerisch ist jeder bundesdeutsche Haushalt mit 300 Mark Beute dabei.

Aber wer betrügt wann tatsächlich? Dazu hat der deutsche Psychologe Detlef Fetchenhauer, heute an der Universität Groningen, für eine Studie über 1000 Studenten und 730 Versicherungskunden befragt – anonym. Von letzteren gaben 27 Prozent zu, ihre Versicherung schon einmal übers Ohr gehauen zu haben. Im Schnitt erbeuteten sie dabei 687 Mark. Fetchenhauers Untersuchung ergab aber auch: Versicherungsbetrüger sind nicht rational. Für ihre dunklen Absichten spielt es keine große Rolle, wie sehr sie damit rechnen, erwischt zu werden und welche Strafen sie für diesen Fall erwarten. Nicht einmal die Größe der erhofften Summe fällt ins Gewicht. Anders als von den Rat-Choice-Theoretikern behauptet, kommt es auf den Charakter eines Versicherungskunden an. Wer sich als religiös, gesetzestreu und kontrolliert beschreibt, neigt weniger zu Betrügereien.

Anzeige

Die Moral kann allerdings recht eigenwillige Formen annehmen, wie sich bei Fetchenhauers Studenten-Befragung zu verschiedenen Szenarien zeigte:

• In einem Szenario ließ sich Herr X bei einem Einbruch gestohlene Habseligkeiten von der Versicherung bezahlen, indem er wahrheitswidrig behauptete, die Rolläden seien während seines Urlaubs geschlossen gewesen. Das fand fast die Hälfte der Studenten nicht weiter schlimm, selbst wenn es um 10 000 Mark ging. Dagegen verurteilten fast alle einen fingierten Einbruch, auch wenn nur 100 Mark auf dem Spiel standen.

• In einem anderen Szenario gab Herr X seinen Verlust beim Wohnungsbrand mit 9000 Mark an, obwohl es nur 6000 waren. Lediglich 15 Prozent der Studenten hielten diese Lüge für vertretbar. Wenn Herr X allerdings auch noch verbrannte Briefe und Tagebücher zu beklagen hatte, brachten fast 30 Prozent Verständnis für sein Verhalten auf.

Wie Fetchenhauers Befragung der Versicherungskunden ergab, mogeln die meisten auch im wirklichen Leben lieber bei entscheidenden Details oder übertreiben bei der Höhe des Verlustes, seltener dagegen werden Schadensfälle ganz erfunden.

Wenn es mit der Gesetzestreue bisweilen hapert, liegt das also weniger an gesetzeswidriger Raffsucht. Die gibt es freilich auch – nachweislich besonders häufig unter Studenten und Professoren der Wirtschaftswissenschaften. Eine – mehrere Untersuchungen zusammenfassende – Studie der Johnsons Graduate School of Management in Ithaca im Bundesstaat New York zeigte sogar, daß Teilnehmer eines Seminars über ökonomisches Denken gefundenes Geld hinterher meist einsteckten.

Jochen Paulus

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Ge|wächs  〈[–ks] n. 11〉 1 Pflanze, pflanzl. Erzeugnis 2 〈Med.〉 Auswuchs, Geschwulst, Wucherung … mehr

On|spre|cher  auch:  On–Spre|cher  〈m. 3; Film; TV〉 für den Zuschauer sichtbarer Sprecher; … mehr

Klap|pen|horn  〈n. 12u; Mus.〉 trompetenförmiges Signalhorn mit sechs Klappen

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige