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DAS GEHEIMNIS DER NACHTSICHT

Astronomie|Physik Erde|Umwelt

DAS GEHEIMNIS DER NACHTSICHT
Ein DNA-Trick erhöht die Lichtausbeute in den Augen nachtaktiver Säuger.

BEI JedeM Lebewesen ist der Bauplan im Erbgut abgespeichert. Doch die DNA samt ihrer Verpackung kann offenbar auch noch eine ganz andere Aufgabe erfüllen: in Sehzellen. In den Stäbchen nachtaktiver Säuger ist die DNA so verpackt, dass der Zellkern wie eine winzige Sammellinse funktioniert. Diese überraschende Entdeckung machte vor Kurzem ein internationales Forscherteam unter der Leitung Münchner Zellbiologen. „Das ist wohl die spannendste Sache, die mir im Laufe meiner Forschungen untergekommen ist“, begeistert sich Leo Peichl, Retina-Forscher am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. „ Ende 2006 rief mich Irina Solovei vom Biozentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München an, sie hätten da interessante Befunde“, berichtet Peichl. „Ob ich meine Retina-Kenntnisse einbringen könnte.“

VERKEHRTE WELT

Um zu verstehen, was so interessant ist, muss man wissen, wie die DNA im Zellkern organisiert ist: Im entfalteten Zustand wäre sie enorm lang, weshalb sie um bestimmte Proteine gewickelt ist. Dieser Komplex aus DNA und Protein heißt Chromatin. Doch Chromatin ist nicht gleich Chromatin: Im Euchromatin werden jene DNA-Abschnitte aufbewahrt, deren Information gerade gebraucht wird. Dagegen enthält das dichter gepackte Heterochromatin nicht benötigte DNA-Abschnitte.

Normalerweise liegen das Euchromatin im Zentrum und das Heterochromatin im Außenbereich des Zellkerns. Doch als Irina Solovei in diversen Zelltypen der Netzhaut von Mäusen die Architektur des Zellkerns untersuchte, stellte sie fest: Bei den Stäbchen sieht es anders aus. „In den Zellkernen dort lag das Euchromatin im Randbereich. Und das Heterochromatin bildete die große zentrale Masse“, berichtet Thomas Cremer, Chef der Münchner Arbeitsgruppe. Zunächst dachten die Forscher an eine Besonderheit von Mäusen. Doch nachdem sie Leo Peichl zu ihren Forschungen hinzugezogen und die Stäbchen weiterer Säugetierarten unter die Lupe genommen hatten, stellten sie fest, dass es einen Unterschied macht, ob ein Tier nacht- oder tagaktiv ist. Mittlerweile wurden die Stäbchen von beinahe 40 Arten untersucht. „Wir haben querbeet geschaut“, betont Peichl. Angesehen haben sich die Biologen zum Beispiel die Augen von Kühen, Pferden, Zebras, Katzen, Rotfüchsen, Frettchen, Eich- und Flughörnchen, Ratten, Waschbären, Kaninchen sowie von Hirschen, Fledermäusen und Affen.

„Die konventionelle Architektur, die man in beinahe allen Zellkernen vorfindet, ist in den Stäbchen tagaktiver Säuger ausnahmslos vorhanden“, sagt Boris Joffe, der Münchner Leiter der Studie. „Auf der anderen Seite findet man die ungewöhnliche invertierte Architektur bei sämtlichen nachtaktiven Säugern.“ Aber wieso? Was ist der Vorteil? Da es in der Netzhaut Zellen mit lichtleitender Funktion gibt (die sogenannten Müller-Zellen, siehe bild der wissenschaft 8/2007, „Der Müller im Auge“), hatte Boris Joffe die Idee, dass auch bei der invertierten Zellkern-Architektur Lichtbündelung eine Rolle spielen könnte.

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Bestätigen ließ sich das schließlich durch die Zusammenarbeit mit Physikern: Als Peichl auf der Göttinger Neurobiologen- Tagung 2007 auf Jochen Guck von der University of Cambridge traf, fragte er den Physiker nach dessen Meinung zu dem Phänomen. Guck und seine Arbeitsgruppe beschäftigen sich mit dem physikalischen Verhalten von Geweben. Sie erforschen zum Beispiel die Dehnbarkeit von Nervenzellen (siehe bild der wissenschaft 12/2008, „Die Zellenstrecker von Cambridge“), aber auch die optischen Eigenschaften von Retina-Zellen. Daher war Guck der ideale Partner.

zehn Prozent schärfer

Die Physiker führten in der Folgezeit sowohl Rechnungen als auch Messungen zu den lichtbrechenden Eigenschaften von Hetero- und Euchromatin durch. Ergebnis: Das dichter gepackte Heterochromatin bricht Licht stärker. Zellkerne mit invertierter Architektur wirken also wie kleine Sammellinsen. Als Guck und seine Kollegen berechneten, wie das Licht durch einen ganzen Stapel Stäbchen geführt werden kann, stellten sie fest: Mehrere invertierte Zellkerne übereinander leiten das Licht praktisch ohne diagonale Streuung in die lichtempfindlichen Bereiche. Das verbessert die Schärfe und Qualität des Bildes – und damit das Sehen im Dunkeln. Nachtaktive Säuger können so etwa zehn Prozent herausholen, schätzt Peichl. Ausführliche Experimente, die diese theoretische Überlegung belegen, stehen zwar noch aus, doch die Entdeckung hat bereits für Aufsehen gesorgt. „Die Arbeit beschreibt ein interessantes Phänomen und wirft eine Reihe von Fragen auf“, meint Peichl, „zur Evolution der Säugetiere, zur optischen Organisation der Retina, und vor allem zu den Gründen für die sonst allgegenwärtige Dominanz der konventionellen Zellkern-Architektur.“

Die Zellkern-Mikrolinsen wurden bislang nur bei Säugern gefunden. Bei Nicht-Säugern, etwa Vögeln und Reptilien, stehen die Untersuchungen noch am Anfang. Und es bleibt die Frage, wie sich die invertierte Zellkern-Architektur im Laufe der Evolution entwickeln konnte. Die Forscher haben eine plausible Erklärung dafür: Die invertierte Struktur in den Stäbchen ist die ursprüngliche. Schon die ersten Säuger, die mehrheitlich dämmerungs- und nachtaktiv waren, besaßen sie.

Doch so vorteilhaft kann der DNA-Trick mit der Mikrolinse nicht sein, sonst wären die Säuger bei diesem Standard geblieben. „In verschiedenen Zweigen des Säugerstammbaums tauchen tagsichtige Tiere auf, und die haben alle wieder die konventionelle Architektur“, berichtet Cremer und argumentiert: „ Wenn Nachtsicht nicht mehr wichtig ist, scheint die invertierte Architektur Nachteile mit sich zu bringen.“ So clever der DNA-Trick bei Nacht ist – er hat wohl seinen Preis. Und die Evolution hat dafür gesorgt, dass die Tagaktiven ihn nicht zahlen müssen. ■

von Cornelia Dick-Pfaff

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Irina Solovei, Leo Peichl, Thomas Cremer, Boris Joffe u.a. Nuclear Architecture of Rod Photoreceptor Cells Adapts to Vision in Mammalian Evolution Cell, 17. April 2009, Vol. 137, S. 356–3 68

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