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FRÜHTEST FÜR SÜCHTE

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FRÜHTEST FÜR SÜCHTE
Forscher wollen das Sucht-Risiko junger Menschen voraussagen. Anhaltspunkte im Gehirn und im Genom kennen sie schon. Im Hamburg lassen sich jetzt Teenager für die Prognose testen.

Laura überspielt ihre Aufregung. „Es ist ein bisschen laut hier drinnen, aber alles okay“, tönt ihre Mädchenstimme aus dem Lautsprecher. Die 14-jährige Hamburgerin ruht in einem abgedunkelten Raum auf einer Liege, ihr Körper steckt in einem mannshohen Magnetresonanztomographen (MRT), den die Wissenschaftler „Röhre“ nennen. Das Mikrofon ist ihre einzige Verbindung nach draußen. Durch ein Sichtfenster können die Forscher des Instituts für Systemische Neurowissenschaften des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf nur Lauras Füße sehen. „ Du weißt ja: Nicht niesen, nicht husten und den Kopf ruhig halten“ , erteilt Psychologin Lisa Lüken die letzten Anweisungen vor dem Experiment.

Dann tauchen vor Lauras Augen Gesichter auf einem Bildschirm auf. Zufriedene Mienen, eine lächelnde Frau, zornige und wutverzerrte Visagen. Während Laura die Fotos betrachtet, blicken die Wissenschaftler in ihr Gehirn und kartieren die aktiven Regionen. Falls die Nervenzellen beim Anblick der erzürnten Gestalten kräftig feuern, gilt man als besonders leicht erregbar. Solche Menschen neigen zum Drogenkonsum. Laura weiß das nicht.

Wie gut kann sie ihre Impulse kontrollieren? Auf dem Monitor erscheinen jetzt in unterschiedlicher Abfolge Pfeile nach links und rechts. Passend dazu drückt Laura möglichst schnell eine Fernbedienung in der linken oder rechten Hand. Dazwischen taucht immer wieder unvermittelt ein Pfeil nach oben auf, bei dem sie still halten muss. Menschen mit Kontrollstörung pressen dennoch das Bedienelement. Der Test verlangt fünf Minuten höchste Konzentration. „Gut gemacht. Bitte warten“, lobt der Computer Laura am Ende, wie schon 486 Jugendliche vor ihr. Laura ist eine von 2000 Versuchspersonen im EU-Projekt Imagen. Gesunde 14-Jährige werden nach Verhalten, Elternhaus und Lebensweise befragt, ihr Erbgut wird entschlüsselt und ihr Gehirn im MRT durchleuchtet. Vier Jahre später werden alle Tests wiederholt. „ Bis dahin werden einige eine Sucht entwickeln. Rein statistisch“, sagt Neurologe Christian Büchel, der die Untersuchungen in Hamburg leitet.

ZEHN MiLLIONEN EURO

Die massenhafte Musterung der Jugendlichen dient vor allem einem Ziel: „Wir wollen wissen, ob sich eine Abhängigkeit schon im gesunden Zustand anhand bestimmter Merkmale angekündigt hat“, so Büchel. Falls es solche Frühwarnsignale gibt, könnten Forscher künftig voraussagen, wie suchtgefährdet Mädchen und Jungen sind. Sie könnten den Hang zu Rauschgift, Glücksspiel, Computer- und Internetsucht, Alkohol und Rauchen prophezeien. Schüler und Eltern würden vor der lauernden Gefahr gewarnt. Rechtzeitig, hoffentlich. Es ist die erste und größte Längsschnittstudie weltweit, mit der man nachgerade allen Süchten auf den Grund gehen will. Die Europäische Kommission nimmt dafür zehn Millionen Euro aus der Forschungskasse. In Frankreich, Irland, den Niederlanden, Deutschland und England melden sich seit 2007 Teenies als Testpersonen. Laura entschied sich für die Teilnahme, nachdem die Forscher in ihrer Schule das Projekt vorgestellt hatten. „Das ist ein wahnsinniger logistischer Aufwand“, gesteht Büchel. Alleine die Tests nehmen jeweils einen Tag in Anspruch. Die Daten füllen schon jetzt Dutzende Ordner und CDs. „Es wird sich auszahlen“, ist der Hamburger Neurologe überzeugt. Er spekuliert auf einen fulminanten Erfolg des Projekts: Am Ende könnte ein Suchtvorhersage-Test für Kinder stehen. Büchel will im Gehirn der Heranwachsenden fündig werden. Bei Drogenabhängigen reagiert das Belohnungszentrum im unteren Vorderhirn schwächer auf positive Reize. Bei Gesunden genügt schon Lob, um die Region anzuheizen. Es wird Dopamin ausgeschüttet. Dieser Botenstoff wirkt motivierend und sorgt für Zufriedenheit. Süchtige brauchen dagegen den Drogenkick, damit ausreichend Dopamin aus ihren Hirnzellen sickert. Sie leiden unter einem Belohnungsdefizit, mutmaßen viele Hirnforscher, und zwar gleichgültig, wovon sie abhängig sind.

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Denn obwohl verschiedene Rauschmittel die Denkzentrale unterschiedlich manipulieren – so besetzt Nikotin beispielsweise einen Acetylcholin-Rezeptor, und Kokain hängt sich an einen Dopamin-Rezeptor –, beschreiten alle dieselbe Endstrecke: Sie setzen Dopamin im Belohnungszentrum frei. „Deshalb kann allen Süchten eine gemeinsame Ursache zugrunde liegen“, meint Büchel.

LIEGT DIE URSACHE IM GEHIRN?

So einleuchtend die Theorie vom Belohnungsdefizit klingt, hegen andere Forscher doch Zweifel daran. Nikotin, Alkohol, Heroin und Kokain verändern nämlich selbst massiv das Gehirn, wie in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu Tage trat. „Sie führen zum Umbau und Abbau von Rezeptoren für Dopamin, den Andockstellen für den Treibstoff der Motivation“, bringt es Hans Dlabal, Psychiater an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Marburg-Süd auf den Punkt. Nahe liegend ist da der Schluss, dass erst die Drogen die Chemie in der Denkzentrale auf den Kopf stellen und das Belohnungszentrum abstumpfen lassen. Die Gelehrten streiten bis heute, ob ein allzu träges Belohnungssystem nun Ursache oder Folge der Abhängigkeit ist. Büchel hält es für den ärgsten Suchtstifter. Sein stärkstes Argument ist eine Studie an zwölf Spielsüchtigen: Bei ihnen flackerte die Region im MRT nur schwach auf, wenn sie beim Kartenspiel einen Euro gewannen. Da papierne Spielkarten nicht chemisch ins Gehirn eingreifen, muss das Belohnungszentrum schon vor der Sucht in den Seilen gehangen haben, schließt Büchel messerscharf.

Beistand bekommt der junge Hamburger Professor von der renommierten Neurobiologin Nora Volkow, einer der Urheberinnen der Hypothese vom Belohnungsdefizit-Syndrom (siehe Kurzporträt auf S. 30). Volkows Mitarbeiter am National Institute for Drug Abuse in Bethesda (Maryland) beobachteten, dass Mäuse mit einem lethargischen Belohnungszentrum wesentlich leichter drogenabhängig werden. „Das spricht für die Theorie, dass es eine Ursache für Sucht ist. Aber ich bin trotzdem vorsichtig und möchte das nicht verallgemeinern“, schränkt sie ein. Bisher konnte niemand abschließend beweisen, welches Lager richtig liegt. „Das machen wir jetzt mit der Imagen-Studie“, sagt Büchel und stützt sich mit den Ellbogen auf den runden Besprechungstisch in seinem Büro. Der Mann in braunem Wollpulli und Blue Jeans, der sich die Ungezwungenheit eines Studenten bewahrt hat, blickt entschlossen durch seine Brillengläser. Als Student wollte er Notarzt werden, doch die neuen Erkenntnisse übers Gehirn brachten ihn von seinem Plan ab. Besonders faszinierte ihn die Entdeckung von Hirnforscher Wolfram Schultz von der Cambridge University in England. Der hatte erkannt, dass die Hirnaktivität bei Affen eine Aussage über die erwartete Belohnung zulässt, etwa welche Menge an Fruchtsaft sich das Tier in einem Experiment erhofft. Büchel trat in die Fußstapfen seines Idols Schultz. Er konnte beweisen, dass dieselbe Region beim Menschen verrät, welchen Gewinn er sich im Glücksspiel ausmalt. Der Brückenschlag zum ersehnten Rausch einer Droge lag nahe.

Tatsächlich lässt sich die Vorfreude auf den Kick im Kopf erkennen. Doch noch etwas anderes fiel Neurobiologin Nora Volkow jüngst in den MRT-Bildern auf: Bei Süchtigen äußert sich die Erwartung des Glücksgefühls im Belohnungszentrum viel stärker als der eigentliche Rausch. „Sie wollen den Kick so sehr, aber wenn sie die Droge bekommen, ist er gar nicht so toll wie in der Vorstellung. Das treibt sie an, die Droge wieder und wieder zu nehmen“, schildert Volkow ihre Beobachtungen. „Das ist eine sensationelle Neuigkeit.“ An ihrem Institut unterdrücken nun Medikamente gezielt die Erwartungen von Drogenabhängigen mit dem Ziel, die Sucht zu mildern. Veröffentlicht sind die Ergebnisse noch nicht. So sehr Neurologen nach den Anfängen der Abhängigkeit im Kopf suchen, so fern liegt der Ansatz den Forschern anderer Disziplinen. Humangenetiker im Imagen-Projekt wünschen sich Gen-Tests zur Vorhersage von Sucht. Und Psychologen warnen vor dem Einfluss der Umwelt. Sie rechnen damit, dass sich deren Bedeutung in der Studie deutlich herausschälen wird.

KÖNNTEN ES DIE GENE SEIN?

Die Vertreter widerstreitender Fachrichtungen argumentieren jeweils mit handfesten Fakten. Imagen-Partner Rainer Spanagel, Genetiker vom Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, hat herausgefunden, dass Jugendliche mit einer Mutation im Per2-Gen deutlich mehr Alkohol trinken als Gleichaltrige. Ein Test soll künftig das Trinker-Gen bei Alkoholkranken aufspüren – zunächst zu diagnostischen Zwecken, weil aus Tierversuchen bekannt ist, dass sich Mäuse mit einer Per2-Mutation mit der Arznei Acamprosat von Alkohol entwöhnen lassen. Die brasilianische Molekularbiologin Juliane Yakubian aus Büchels Gruppe entdeckte, dass eine Veränderung in den Genen COMT und DAT bei Gesunden mit einer ausgeprägten Lust auf Nervenkitzel einhergeht. Dieses Verlangen sowie die dazugehörigen Gene wurden auch bei Suchtkranken nachgewiesen. Der Fund brachte Yakubian 2007 eine Veröffentlichung im renommierten Fachjournal PNAS ein. Auch er spricht dafür, dass sich das Risiko einer Abhängigkeit aus dem Erbgut ablesen lässt.

Doch Büchel relativiert die Erfolge der Genetik: „Vor Jahren glaubte man schon, einen Labortest für Alkoholismus in den Händen zu halten. Das hat sich, wie so oft bei den Genetikern, zerschlagen. Die genetische Literatur ist voll von Zusammenhängen, die sich dann nicht erhärten ließen“, kritisiert er. Nach wie vor stünden einige Gene sehr hoch auf der Kandidaten-Liste. Angesichts der Widersprüche wird im Imagen-Projekt aber das gesamte Erbgut der Teenies durchforstet, nicht bloß einzelne verdächtige Merkmale. An einen Durchbruch in der Genetik mag Büchel trotzdem nicht recht glauben: „Das Sucht-Gen werden wir nicht finden“, wehrt er ab.

Genauso wenig können sich Psychologen mit dem Gedanken an ein „ Trinker-Gen“ anfreunden. Sie pochen auf den Einfluss der Umwelt. Die Verfügbarkeit von Drogen, Armut, Gewalt und Stress sind bekannte Risikofaktoren für ein Leben mit Flasche oder Nadel. Gefragt nach den Ursachen, nennt Psychologin Lisa Lüken aus Büchels Gruppe zuallererst „erlernte Verhaltensmuster aufgrund gelebter Erfahrung“ und veranschaulicht es mit einem Beispiel: „ Wenn zu Hause nach einem Streit die Flasche Korn herausgeholt wird, dann erscheint Alkohol als probates Mittel, Konflikte zu lösen.“ Wenn die Eltern alkoholabhängig sind, klettert das Risiko für die Kinder, der Flasche zu verfallen.

SENSATIONELLE AFFENSTUDIE

Umwelt, Gehirn und Gene beeinflussen sich allerdings auch gegenseitig. An diesem Punkt treffen sich die Forscher der verschiedenen Disziplinen. Als Sensation wurde 2008 eine amerikanische Studie im „Journal of Experimental Biology“ an Makaken gefeiert. Man hatte rangniedrige Affen mit vier Alphatieren und der Möglichkeit zu koksen in einen Käfig gesperrt. Sie reagierten gestresst. Ihr Belohnungszentrum drosselte seine Aktivität, wie Hirnaufnahmen zeigten. Die unterlegenen, angespannten Affen koksten im Käfig viel mehr als die vier Anführer. „Daran sieht man, dass die Gefahr einer Sucht auch von der Umwelt abhängt“, erkennt Büchel an. So sehr sich die Wissenschaftler uneins sind, ob das Erbgut, die Umwelt oder das Gehirn die erste Geige bei der Suchtentstehung spielen, stimmen sie doch darin überein, dass alle drei ihren Part beitragen. In der Bevölkerung suchen indes nur wenige einen Schuldigen im Kopf oder im Erbgut. Lauras Mutter Gabriele liefert eine beinahe typische Antwort: „Ich glaube nicht, dass Sucht genetisch bedingt ist. Auf den Körper kommt es nicht so sehr an. Eher darauf, was das Umfeld vorlebt und welche Drogen in der Gesellschaft verfügbar sind.“ Sie selbst rauchte fünf Jahre lang eine halbe Schachtel Zigaretten am Tag. „Ich war richtig süchtig“, erzählt sie freimütig. In der Schwangerschaft kämpfte sie sich auf ein bis zwei Glimmstängel am Tag herunter. Ans Aufhören dachte sie trotzdem nie, bis sie eines Tages wie so oft zum Automaten gehen wollte, um Nachschub zu holen. Es regnete, aber nicht ungewöhnlich stark, es war auch nicht besonders kalt, erinnert sie sich. Gabriele ärgerte sich trotzdem, dass die „blöden Zigaretten so über mein Leben bestimmen“. Weshalb es in diesem Moment „Klick“ in ihrem Kopf machte, kann sie sich bis heute nicht erklären. Ein selbstkritischer Gedanke, der von ihr Besitz ergriff, Groll über sich und die Fremdbestimmung durch die Glimmstängel … Offenbar reichten diese Zutaten bei ihr. Sie machte kehrt und beschloss, mit dem Rauchen aufzuhören. „Das finde ich richtig gut“, kommentiert Tochter Laura. In der Schule habe sie im Projekt „Rauchen ist cool“ gesehen, was Nikotin im Körper anrichtet. Ihre bunten kugeligen Ohrringe wippen auf und ab: „Rauchen werde ich nie, das ist für mich erledigt.“ Die Versuchung lauert auf Jugendliche aber nicht nur am Zigarettenautomaten. Flatrate- Partys und Koma-Saufen haben die Alkopops der 1990-er Jahre verdrängt. Computerspiele und Internet-Chats fesseln viele Teenies an den PC (siehe bild der wissenschaft 9/2009, „Auf PC-Entzug“). Statt Zigaretten sind orientalische Wasserpfeifen in Mode – und nicht minder gefährlich, wie das Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin warnt.

Die SORGEN EINER MUTTER

„Die Angst ist immer da“, sagt Mutter Gabriele. Während der Autofahrt zum Eppendorfer Klinikum fragt sie Laura, ob es auf der Party neulich Alkohol gegeben habe. Ja, aber nur einen Drink mit sieben Prozent, erfährt sie von ihrer Tochter, die nicht weiß, wie er hieß. Die Mutter der Freundin ließ das Getränk als alkoholfrei durchgehen, versichert sie. Gabriele verkneift sich die brennende Frage, ob Laura davon probiert habe. „Ich erinnere mich daran, wie unangenehm ich es fand, wenn meine Eltern mich löcherten. Ich muss ihr vertrauen“, erklärt die Frau mit den kurzen braunen Haaren später, als sie im Sessel des Instituts für Systemische Neurowissenschaften wartet, während ihre Tochter in der Röhre liegt. Ihre Antwort auf die allgegenwärtige Bedrohung durch Alkohol und Drogen hat sie längst gefunden: Ihre drei Töchter sollen zu starken Frauen reifen, die nein sagen und gut argumentieren können, die nicht mit jedermann auf Biegen und Brechen gut Freund sein wollen. Das soll sie wappnen, sich nicht abfüllen zu lassen und Drogen abzulehnen, wenn sie ihnen angeboten werden, meint Gabriele.

Ein Rausch macht ohnehin noch keine Sucht, hat die Forschung gezeigt. Die Abhängigkeit schleicht sich unmerklich langsam ins Leben. Das Gehirn lernt die Wirkung der Droge kennen, speichert das Erlebnis und nimmt schließlich den Rausch in freudiger Erwartung vorweg. Ein Suchtgedächtnis bildet sich. „Es kommt zu dauerhaften Veränderungen in Regionen, die unsere Gewohnheiten bestimmen. Die Zigarette wird zum Automatismus, der nicht mehr reflektiert wird“, verdeutlicht Spanagel. Das Suchtgedächtnis bleibt nach einem Entzug in die grauen Zellen eingebrannt. „Ein einschneidendes Ereignis, zum Beispiel ein Autounfall, genügt – und ein trockener Alkoholiker fängt nach 30 Jahren wieder zu trinken an“, seufzt Spanagel, der solchen Schicksalen allzu oft begegnet ist. Trotzdem gönnen sich viele Menschen jeden Abend genüsslich ein Gläschen Wein, während mehr als eine Million zwanghaft nach dem Tropfen lechzt. Was die einen von den anderen unterscheidet, ist bis heute nicht ganz klar. Vor den Forschern liegen nur Puzzlestücke für die Lösung eines großen Rätsels: Einige Menschen können Alkohol nicht richtig abbauen. Die Gene für zwei Enzyme sind in ihren Zellen mutiert. Das giftige Abbauprodukt Acetaldehyd flutet ihren Körper. Sie kriegen einen roten Kopf, und ihnen wird rasch übel. „Das ist ein Schutz vor exzessivem Trinken“, so Volkow. Viele Orientalen sind dank dieser Gen-Variante vor Alkoholabhängigkeit gefeit. Ein ähnlicher genetischer Schutz verleidet einigen Menschen das Rauchen.

Büchel zählt auf das Vorderhirn. Beim gesunden Menschen wacht es über das Trinkverhalten, auch wenn sich schon alkoholselige Fröhlichkeit des Geistes bemächtigt hat. Der präfrontale Kortex ist der Aufpasser in unserem Gehirn. Er stellt den kurzweiligen Höhenflügen des Rausches spätere Schäden gegenüber. „Er sagt mir, dass ich einen Kater haben werde, dass ich meine Gesundheit ruinieren werde, dass ich sogar meinen Job verlieren kann und entscheidet, dass der Rausch das nicht wert ist“, beschreibt es Büchel. Ganz anders beim Suchtkranken: Für ihn wiegen die Langzeitfolgen nicht sonderlich schwer.

WAS SPIELKARTEN VERRATEN

Die Unfähigkeit, Spätfolgen gegen das kurzzeitige Glücksgefühl abzuwägen, wurde bei Suchtkranken mit dem „Iowa Gambling Test“ aufgedeckt. Forscher um den berühmten amerikanischen Neurologen António Damásio ersannen dieses Spiel, das mit vier Kartenstapeln gespielt wird. Zwei Stapel bringen große Gewinne, aber auch herbe Verluste ein. Unter dem Strich wird dem Spieler das Geld aus der Tasche gezogen. Die übrigen Karten locken nur mit kärglichen Einnahmen, treiben aber auch niemanden in die Miesen. Während Menschen normalerweise, nachdem sie das Spiel durchschaut haben, nur noch von den Stapeln mit den kleinen Gewinnen ziehen, beharren Süchtige auf den großen Beträgen. Genauso verhalten sich Schlaganfallpatienten, deren präfrontaler Kortex lädiert ist. Der Aufpasser ist ihnen abhanden gekommen. Das lüsterne Belohnungszentrum regiert ohne Kontrollinstanz.

Um eben diesen Widerstreit zwischen Belohnungs- und Kontrollinstanz im Kopf geht es in Lauras letztem Test. Am Monitor tauchen Quadrate links und rechts auf. Wieder muss das Mädchen im Wechsel jeweils das rechte und linke Bedienelement drücken. Dazwischen erscheinen immer wieder andere Symbole, für die Punkte in Form von Schokokugeln winken. Ein Dreieck bringt null Punkte, ein Kreis mit zwei Strichen zwei und ein Kreis mit drei Linien drei. „Sie ist ziemlich gut“, sagt Lüken, und zu Laura: „Gleich hast du’s geschafft.“ Nur noch eine zehnminütige Ruhemessung, bei der sich das Mädchen nicht bewegen darf.

Als Lüken die Tür zum Raum mit dem MRT öffnet, ist Laura eingeschlafen. Sie lacht verlegen und blinzelt, als das grelle Neonlicht eingeschaltet wird. Gabriele nimmt ihre Tochter in den Arm: „War es schlimm?“ Laura schüttelt schlaftrunken den Kopf, schiebt die Finger in die Taschen der engen Jeans. Lisa Lüken drückt ihr einen Kleider-Gutschein über 35 Euro in die Hand und zwei Packungen Schokokugeln. „Du hast am Zweitbesten im Quadrattest abgeschnitten“, lobt die Psychologin. Wüssten Mutter und Tochter, was das bedeutet – ein reges Belohnungssystem und eine wachsame Kontrollinstanz –, würden sie sich sicher noch mehr freuen. ■

SUSANNE DONNER ist beeindruckt von der Fülle der Tests, mit denen Forscher das Risiko einer Sucht fassen wollen.

von Susanne Donner

Ohne Titel

Wissen hören: Ein Experten- Interview zum Thema Sucht hat Martin Vieweg geführt. Sie finden es unter „Podcasts“ auf www.wissenschaft.de

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Heinz Röhr SUCHT – HINTERGRÜNDE UND HEILUNG Abhängigkeit verstehen und überwinden Patmos, Düsseldorf 2008, € 14,90

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Oliver Sauer, Sascha Weilemann DROGEN Eigenschaften – Wirkungen – Intoxikationen Schlütersche Verlagsgesellschaft Hannover 2001, € 19,90

INTERNET

Zahlen und Fakten vom Fachverband Sucht e.V.: www.sucht.de

Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD): www.dbdd.de

NORA VOLKOW

Als sie sich vor mehr als 20 Jahren um ein Forschungsstipendium des National Institute of Drug Abuse (NIDA) bewarb, wurde Nora Volkow abgelehnt. Ihre Entdeckung, dass Kokain Schäden an Hirngefäßen hinterlässt, stieß auf Zweifel der Gutachter. Aber die Psychiaterin (Jahrgang 1956) behielt auf Dauer recht, was das Kokain betrifft – und seit Mai 2003 leitet sie die Behörde in Bethesda, die ihr einst die Absage schickte. Vor ihrer Berufung ans NIDA hatte sich Nora Volkow einen Namen als Suchtforscherin gemacht. Ihre Gehirnstudien am Brookhaven National Laboratory in Upton, New York, setzte sie auch nach Amtsantritt fort. Für Volkow ist Sucht eine Entwicklungsstörung des Gehirns, zu der die Umwelt eines Jugendlichen einen großen Teil beiträgt. Ihre eigene Jugend verbrachte sie in Mexiko – in dem Haus, in dem Leo Trotzki ermordet wurde. Der russische Revolutionär ist ihr Urgroßvater. Sportlich und belesen, wie sie ist, braucht Nora Volkow nur eine Droge: Coca Cola. JR

KOMPAKT

• Umweltfaktoren und Gene beeinflussen das Risiko für eine Sucht. Einen aussage- kräftigen Frühwarntest erlauben sie aber bisher nicht.

• Auch Hirnforscher haben Vorboten einer späteren Abhängigkeit im Kopf gefunden. Demnach machen ein schwaches Belohnungssystem und eine schlechte Impulskontrolle anfällig für Drogen.

• Ob der Blick ins Gehirn eine Suchtwarnung ermöglicht, soll ein Mammutprojekt an Tausenden von Jugendlichen klären.

SUCHT IN ZAHLEN

Es geht nicht nur um harte Drogen wie Kokain oder Heroin. Das Problem sind auch ganz legale Rauschmittel wie Alkohol, Zigaretten und Medikamente:

• Jeder dritte Erwachsene raucht, und wohl die meisten davon sind von den Glimmstängeln abhängig. Als positives Zeichen werten Sozialpolitiker, dass heute weniger Jugendliche rauchen als noch vor zehn Jahren.

• Fast jeder Deutsche trinkt ab und zu ein Gläschen Alkohol. Aber 1,3 Millionen können nicht mehr anders. Sorgen bereitet Sozialarbeitern das Koma-Saufen bei Jugendlichen. Im Jahr 2007 wurden in Deutschland 23 165 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 20 Jahren wegen einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert, 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Es kam wiederholt zu Todesfällen.

• 600 000 Menschen konsumieren Cannabis, eine illegale Droge, deren Beliebtheit bei Jugendlichen allerdings abgenommen hat.

• 200 000 Bürger sind von Opiaten, Kokain, Amphetaminen und anderen Rauschmitteln abhängig.

WIE DOPAMIN DAS GLÜCKSGEFÜHL ANFACHT

Die Zeichnung zeigt wichtige Strukturen des Belohnungssystems im Gehirn: Vom ventralen Tegmentum (1) im Mittelhirn führen Faserverbindungen zum Nucleus accumbens (2) und ins Stirnhirn (3). Diese Nerven schütten Dopamin aus. Dopamin macht wach, regt aber auch die Produktion hirneigener Opiate an, die Glücksgefühle vermitteln.

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