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DER NUTZEN DES HimmEls

Allgemein

DER NUTZEN DES HimmEls
Gläubigkeit könnte sich in der Evolution bewährt haben. Vielleicht ist sie aber auch ein Nebenprodukt der sozialen Intelligenz – oder sogar reine Prägung.

„Thank God for Evolution!“ verkündet Michael Dowd. Mit dieser provokanten Botschaft zieht der amerikanische Theologe, Wanderprediger und selbsterklärte „evolutionäre Evangelist“ seit Monaten durch die Vereinigten Staaten – ein Land, in dem immerhin rund 45 Prozent der Bevölkerung die Evolutionstheorie ablehnen und stattdessen an die wörtliche Bedeutung der biblischen Schöpfungsberichte glauben. „Thank God for Evolution“ heißt auch der Titel des Buchs, in dem Dowd Naturwissenschaft und Gottesglaube zu versöhnen versucht und einen „evolutionären Theismus“ propagiert – schon begrifflich eigentlich ein Widerspruch in sich, zumal die Evolution sowieso keinen Schöpfergott braucht.

Den umgekehrten Weg beschreiten zurzeit einige Soziobiologen. „ Selbst Gott hat eine Naturgeschichte“, ist zum Beispiel Eckart Voland überzeugt. Der Professor an der Universität Gießen hält es für wahrscheinlich, dass die menschliche Religiosität ein evolutionäres Anpassungsprodukt ist. Gerade hat er ein umfassendes Buch herausgegeben, „The Biological Evolution of Religious Mind and Behavior“, in dem Wissenschaftler beschreiben, was für, aber auch was gegen diese Hypothese spricht. Als Religiosität wird hier die Eigenschaft bezeichnet, eine Religion zu haben und sich gläubig auf Transzendentes zu beziehen – im Denken, Fühlen und Handeln. Die jeweiligen Religionen selbst sind ein Kulturprodukt, denn es existieren keine Hinduismus- oder Katholizismus-Gene. Ob es überhaupt Erbanlagen für Religiosität gibt, ist freilich umstritten (siehe Beitrag „Weltangst schürt die Gottesfurcht“). Voland sieht eine große Herausforderung: „Man muss die Frage beantworten, wieso Religiosität naturgeschichtlich einen Nutzen hatte – also sich letztlich in der Währung der Evolution, sprich: in der genetischen Fitness, niederschlägt.“

Darüber machen sich Soziobiologen schon länger Gedanken. Eine ihrer Hypothesen bezieht sich auf positive Auswirkungen der Religiosität auf die Gesundheit, eine andere auf eine Verstärkung und Absicherung von altruistischem Verhalten (bild der wissenschaft 2/2007, „Lohnender Luxus“ und „Schutz vor Schmarotzern“). Diskutiert wird neben der natürlichen aber auch die bereits von Charles Darwin beschriebene sexuelle Selektion. Darüber hat der Psychologie-Professor Harald Euler von der Universität Kassel spekuliert. Ein Indiz für ihn ist, dass Männer ihre religiösen Überzeugungen weit stärker zur Schau stellen als Frauen. Religiosität könnte also ein „Luxus“ sein ähnlich einem Pfauengefieder oder einem Hirschgeweih, so Euler – doch keineswegs überflüssig, sondern der Partnerwahl dienlich.

RELIGION IST „UNCOOL“

Allerdings zeigte vor Kurzem eine Analyse des Flirt-Verhaltens auf der größten amerikanischen Online-Kontaktbörse OkCupid: Religion ist für die Mehrzahl der dort registrierten Frauen „ uncool“. Männer, die von Gott schrieben, hatten viel weniger Flirts als ihre skeptischen Altersgenossen. Der Begriff „ Atheismus“ stieß sogar auf besonders starkes weibliches Interesse. Bei der Studie wurden eine halbe Million erster Kontaktaufnahmen nach Worten und Ausdrücken ausgewertet.

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Auch der Bioethiker und Religionsphilosoph Edgar Dahl von der Universität Münster hält die These von der Religiosität als Produkt der sexuellen Selektion nicht für überzeugend. „Sie ist ein ebenso interessanter wie charmanter Gedanke. Doch ist es wirklich plausibel anzunehmen, dass der evangelische Bischof Huber auch nur annähernd so attraktiv auf Frauen wirkt wie der agnostische Schauspieler George Clooney?“, kritisiert er und betont: „Glücklicherweise müssen wir uns hier nicht mit bloßen Spekulationen begnügen.“ Dahl verweist auf eine Studie des Psychologen David M. Buss von der University of Texas in Austin, in der über 10 000 Männer und Frauen aus 37 verschiedenen Kulturen nach ihren Partnerwahlkriterien befragt wurden. Während „ freundlich“, „attraktiv“ und „intelligent“ auf der Wunschliste ganz oben standen, befanden sich „fromm“, „keusch“ und „religiös“ am Ende der Liste.

NUR EIN NEBENPRODUKT?

Wenn Religiosität auch keinen direkten Vorteil in der Evolution besitzen sollte, könnte sie dennoch ein evolutionäres „ Nebenprodukt“ sein, wie Biologen sagen – ein Begleiteffekt kognitiver Fähigkeiten, die selbst das Ergebnis einer Anpassung sind. Hier kommt hauptsächlich die soziale Intelligenz in Betracht, wie aktuelle Forschungen von Scott Atran, Jesse Bering und Pascal Boyer zeigen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Fähigkeit zur Zuschreibung von Gedanken und Gefühlen, die zumindest zum Teil angeboren ist. Kleine Kinder übertragen solche mentalen Zustände auf nichtmenschliche Lebewesen, Gegenstände und Fantasiegebilde. Auch in den Naturreligionen gelten etwa Bäume als beseelt, bestimmte Plätze von Geistern oder verstorbenen Ahnen bewohnt oder Blitze als die Handlungsfolgen göttlicher Absichten. Aus solchen Vorstellungen haben sich die abstrakteren „ Hochreligionen“ entwickelt, sind Atran und Boyer überzeugt.

Umgekehrt sind Kinder leicht zu prägen – wie die religiöse Erziehung durch Eltern und in vielen Kindergärten deutlich zeigt. Das ist damit vereinbar, dass Religiosität hauptsächlich soziokulturell vermittelt wird. Und es macht verständlich, warum religiöse Menschen im Durchschnitt mehr Kinder haben. Dass dies der Fall ist, haben mehrere Studien in den letzten Jahren gezeigt. Beispielsweise fand Dominik Enste vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln bei der Auswertung der Daten des „ World Values Survey“ einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Grad der Gläubigkeit und der Zahl der Nachkommen (siehe Grafik unten). Das gilt weltweit – auch für Deutschland. Carsten Ramsel erklärt diesen Befund durch „reproduktive Normen, die von den Angehörigen vieler religiöser Gruppen geteilt werden“. Der Religionswissenschaftler von der Universität Tübingen hat zahlreiche Muslime, Katholiken sowie landes- und freikirchliche Protestanten befragt. Die meisten hielten eine Kinderzahl von zwei bis vier für ideal und zeugten im Durchschnitt etwas mehr Kinder als ihre nichtreligiösen Zeitgenossen, die überwiegend kein Kind, eins oder zwei Kinder haben. „Die religiöse Bindung an eine Religionsgemeinschaft hat maßgeblich Anteil an diesem Reproduktionsunterschied“, so Ramsel. Doch er schränkt ein: „Es gibt auch andere Faktoren wie Schulbildung und Einkommen, die unabhängig von der Religiosität sind, und einen stärkeren Einfluss haben.“

Der Bioethiker Edgar Dahl ist dagegen überzeugt: „Es ist keineswegs die Religiosität als solche, die darüber entscheidet, ob sich ihre Anhänger erfolgreich fortpflanzen oder nicht, sondern ausschließlich die Sexualethik. Mit anderen Worten: Der ‚ Kindersegen‘ mancher religiöser Gruppen lässt sich aus ihrer Einstellung zu Ehe, Familie, Kinder, Scheidung, Verhütung und Abtreibung erklären.“ So zeugen in den USA die konservativen Amish und Hutterer viele Kinder, die anfangs missionarisch sehr erfolgreichen Shaker hingegen, die sich zur Kinderlosigkeit verpflichten, haben inzwischen kaum noch Anhänger.

Wie sich die Zahl der Gläubigen weiter entwickelt, ist unklar. Verbesserte Bildung und Lebensumstände wie in den westlichen Gesellschaften lassen sie sinken. Aber die höhere Kinderzahl religiös vergemeinschafteter Menschen könnte die Entwicklung auch wieder umkehren. Dies hat der Demograph Eric Kaufmann vom Birkbeck College der University London im Magazin „Prospect“ prognostiziert: Der mit „Breeding for God“ überschriebene Beitrag rechnet mit einer Trendwende zwischen 2035 und 2045. Der Tübinger Religionswissenschaftler Carsten Ramsel ist allerdings skeptisch, weil völlig unklar sei, wie viele der Kinder religiös bleiben. „ Demographische Prognosen im Zusammenhang mit der Religiosität sind wissenschaftlich unseriös, da die Datengrundlage heute noch nicht ausreicht.“

RELIGIÖSER SCHWUND

Wie variabel Religiosität ist – und somit abhängig vom gesellschaftlichen Umfeld –, zeigte Ende 2009 erstmals eine Studie von Vern Bengston. Der Soziologie-Professor an der University of Southern California und seine Mitarbeiter analysierten die religiösen Einstellungen von 3000 Kaliforniern aus vier Generationen über einen Zeitraum von 30 Jahren – und fanden eine drastische Abnahme des Glaubens. 1971 waren nur 5 Prozent der Eltern-Generation nicht Mitglied einer Religionsgemeinschaft, 2000 dagegen 33 Prozent und deren Kinder 37 Prozent. Zwar hatten religiösere Menschen jeweils mehr Nachkommen, aber insgesamt überwog ein anderer Effekt: Die Zahl der Gläubigen nahm viel stärker ab – das heißt in jeder Generation gaben mehr Menschen ihre Religion auf. Auch zeigte sich, dass die Großeltern-Generation, die die religiöse Einstellung ihrer Enkel 1971 noch relativ stark prägte, heute kaum mehr einen Einfluss hat. Die Daten machen also nicht nur deutlich, wie rasch sich der Glaube gesellschaftlich verändern kann, sondern sie legen auch nahe, dass er eher ein soziales als ein angeborenes Phänomen ist. ■

von Rüdiger Vaas

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