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MATHEmatisch, praktisch, gut

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MATHEmatisch, praktisch, gut
Berechnungen von gefährlichen Turbulenzen, simulierte Belastung von Prothesen, Risiken an der Börse – ein Forschungsverbund geht neue Wege, um Mathematik in die Praxis zu bringen.

John Sullivan steht vor dem Portal – ein begehbarer Würfel, die Frontseite offen, die anderen Flächen aus Leinwand. „Das ist unser Theater für virtuelle Realität“, erklärt der Amerikaner, setzt sich eine 3D-Brille auf, schaltet das Licht aus und marschiert in den Kubus. Dort projizieren sechs Beamer eine Landschaft wie von einem fremden Planeten: Man wähnt sich auf einem Salzsee, die fernen Ufer flankiert von kargen Hügeln. Aus dem Nichts taucht eine riesenhafte Kugel auf. Wider alle Gesetze der Physik schwebt sie knapp über dem Grund. Sullivan startet eine Simulation: Der Ball dellt sich ein und wird zu einem Gewirr aus sich windenden Trichtern und Röhren – bis am Ende wieder die Kugel im Raum schwebt. Nur: „Jetzt ist die Innenseite außen“, sagt Sullivan, „mathematisch gesehen ein hochkomplexer Prozess.“

John Sullivan betreibt kein digitales Raritätenkabinett, sondern leitet ein Labor an der Technischen Universität Berlin. Die 3D-Software, die der Mathematiker mit seinem Team entwickelt, kann abstrakte Gesetze visualisieren, die etwa das Umstülpen der Kugel beschreiben. Doch das Programm taugt auch für handfeste Anwendungen. So können Biophysiker simulieren, wie Blutzellen zu ihrer typischen Form kommen: Ihre eingedrückte, kissenartige Gestalt erleichtert es ihnen, Sauerstoff zu binden und durch die Gefäße zu transportieren – aus Sicht der Mathematiker ein Optimierungsproblem für Kurven und Flächen in drei Dimensionen.

Das Beispiel ist typisch für die Projekte des Berliner Forschungsverbunds „Matheon“: Fast 200 Experten haben sich darin zusammengeschlossen, um die Mathematik effektiver als bisher in Wirtschaft, Medizin und Wissenschaft einzubringen. „Wir betreiben anwendungsorientierte Grundlagenforschung“, sagt Matheon-Sprecher Volker Mehrmann, Leiter der Forschungsgruppe Numerische Analyse am Institut für Mathematik der TU Berlin. „Wir entwickeln neue Mathematik, getrieben vom dringenden Bedarf aus Wissenschaft und Wirtschaft.“

NEUE GESETZE MÜSSEN HER

Fast überall steckt Mathematik drin: in den Werkhallen der Industrie und den Labors der Forscher, aber auch in kleinen wie großen Dingen des Alltags. Chip-Hersteller nutzen beim Design der nächsten Prozessorgeneration raffinierte Algorithmen, Luftfahrtkonzerne simulieren mit Rechnerprogrammen das Strömungsverhalten künftiger Passagierjets. Biologen brauchen mathematische Werkzeuge, um riesige Molekül-Datenbanken zu scannen, Physiker werten mit ihnen Myriaden von Messdaten aus. Auch Otto Normalbürger macht sich – ohne es zu ahnen – lauter Formeln und Gesetze dienstbar: Ohne Mathematik würde kein Navi seine Route finden, kein Handy eine Netzverbindung aufbauen können und kein Paket bereits nach einem Tag seinen Adressaten erreichen. Nur: Viele Prozesse und Produkte werden immer komplexer. Um sie effizient weiter entwickeln zu können, reicht die bewährte Mathematik oft nicht mehr aus. Neue Formeln und Gesetze müssen her – eine Aufgabe, die Wissenschaftler und Ingenieure nicht alleine meistern können. Immer häufiger brauchen sie die Unterstützung von Mathematikern – Fachleuten, die grundlegend neue Formeln erfinden und sie für Anwendungen nutzbar machen.

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Genau darum geht es beim Matheon: Seit neun Jahren fahnden Mehrmann und seine Kollegen nach neuen anwendungstauglichen mathematischen Verfahren – mit beachtlichem Erfolg: So können Ärzte mit einer neuen Planungssoftware Kieferoperationen detaillierter planen als zuvor, wie der Beitrag „ Gesicht u [Chirurgie]2″ ab S. 88 zeigt. Bei der Hyperthermie, einer besonderen Form der Krebstherapie mittels Wärme, helfen mathematische Verfahren, die zerstörerische Hitze präziser auf den Tumor zu konzentrieren. Mittels schlauer Algorithmen können Hersteller von Halbleiter-Wafern – den Ausgangswerkstoffen für elektronische Mikrochips – gleichmäßigere Kristalle züchten. Neue Logistik-Software, basierend auf den Ergebnissen der Mathematiker, verbessert den Containerumschlag im Hamburger Hafen und den U-Bahn-Verkehr in Berlin. Telekommunikations- und Energieunternehmen können mithilfe der Matheon-Modelle ihre Netze optimieren.

Auch mehrere Fraunhofer-Institute versuchen sich am Transfer mathematischer Methoden in die Industrie. Doch sie leisten überwiegend Auftragsforschung, übertragen meist bekannte Konzepte auf neue Anwendungen und verrichten eher Entwicklungs- als Forschungsarbeit. Die Matheon-Experten setzen früher an – bei den Grundlagen.

VERTRAUEN GEWINNEN KOSTET ZEIT

Das aber erfordert Geduld. Deshalb wird einem Matheon-Projekt eine „Inkubationszeit“ von zwei bis sechs Jahren zugestanden. In dieser Stufe geht es vor allem darum, eine Basis zu schaffen, ohne bereits konkrete Anwendungen entwerfen zu müssen. Erst danach folgt – ausreichendes Interesse bei Partnern aus Industrie oder Wissenschaft vorausgesetzt – die Transfer-Phase, in der die neu entwickelte Mathematik auf Anwendungen übertragen werden soll. „Ohne diese Inkubationszeit können unsere Projekte nicht funktionieren“, betont Christof Schütte, stellvertretender Matheon-Sprecher und Leiter der Arbeitsgruppe Biocomputing am Institut für Mathematik der Freien Universität Berlin.

Die meisten Projekte berühren gleich mehrere mathematische Teilgebiete. Deshalb müssen sich die Experten des Matheon laufend untereinander vernetzen und zu ständig neuen Teams zusammenfinden. Anspruchsvoll gestaltet sich auch die Zusammenarbeit mit tatsächlichen und potenziellen Anwendern. „Man muss deren Vertrauen gewinnen, nur dann lässt sich etwas erreichen“, meint Schütte. Dazu müssen die Mathematiker tief in das jeweilige Fachgebiet eindringen – etwa wenn es in der Medizintechnik darum geht, für jeden Patienten eine optimale Knie- oder Hüftprothese zu finden. Die Matheon-Experten stehen hier vor der Aufgabe, die mechanischen Belastungen, die beim Gehen auf die Prothesen wirken, besser vorauszuberechnen, als es bislang möglich war. Um das zu erreichen, arbeiten sie gemeinsam mit Medizinern an einer neuen Software – einem virtuellen Modell des Gelenks mit all seinen Bändern, Knorpeln und Knochen. „Es dauert Jahre, bis man ein Niveau erreicht, auf dem man die Probleme der Mediziner versteht und von ihnen ernst genommen wird“ , sagt Schütte. Nicht zuletzt deshalb besteht sein Team nicht nur aus Mathematikern, sondern umfasst auch Mediziner und Betriebswirtschaftler – wichtige Bindeglieder bei der Kommunikation mit den Anwendern.

RÜTTELN an den Grundfesten

In einigen Matheon-Projekten versuchen die Wissenschaftler gar, an den Grundfesten der Ingenieurwissenschaften zu rütteln, indem sie nach völlig neuen technischen Ansätzen suchen. So ist es zwar schon lange üblich, die Baupläne für ein neues Automodell, einen Passagierjet oder einen Computerchip nicht mehr gezeichnet auf Papier aufs Reißbrett zu pinnen, sondern als 3D-Modell im Rechner zu kreieren. Doch diese Computermodelle taugen nur bedingt dazu, entsprechende Prozesse auch zu simulieren – also das Auto virtuell zum Fahren, das Flugzeug zum Fliegen oder den Chip zum Rechnen zu bringen. Erst recht scheitern die bisherigen Verfahren, wenn sie den Prozess per Rechnersimulation verbessern sollen. „Modellierung, Simulation und Regelung laufen heute weitgehend getrennt“, sagt Volker Mehrmann. „Am Matheon wollen wir das ändern und einen ganzheitlichen Ansatz schaffen.“ Ein Beispiel: Gerät ein Flugzeug in eine Turbulenz, kann die Luftströmung am Flügel abreißen – eine gefährliche Situation. Um sie zu entschärfen, tüfteln die Ingenieure an einem Regelungssystem, das die Strömung wiederherstellt, indem es vorn im Tragflügel Luft einsaugt und hinten wieder hinauspustet. Nur: Versuche im Windkanal sind aufwendig und teuer. Deshalb bemühen sich die Fachleute, das Geschehen im Rechner nachzubilden.

DIE CHANCE FÜR DIE MATHEMATIK

Das Problem: Bislang werden die Programme für Modellierung und Simulation getrennt geschrieben. Deshalb passen sie meist nicht perfekt zueinander – eine Fehlerquelle. „Eigentlich muss man Modellierung, Simulation und Optimierung aus einem Guss machen“, fordert Mehrmann. „Doch dazu ist jede Menge neue Mathematik erforderlich.“ Gleiches gilt für Rechnerprogramme, mit denen Software-Ingenieure die Schaltkreise für neue Computerchips entwerfen oder den Geräuschpegel im Innenraum eines künftigen Automobils senken. Mehrmann: „Hier sehen wir eine Lücke, bei der mit neuer Mathematik viel erreichbar ist und wo sich womöglich revolutionäre Veränderungen erzielen lassen.“ Große Herausforderungen warten auch in den Lebenswissenschaften: „ Verglichen mit Physik, Chemie oder den Ingenieurfächern liegt dort die Mathematisierung weit zurück“, beklagt Christof Schütte. „Da gibt es viel aufzuholen.“

Zum einen stehen in Kliniken und Arztpraxen immer mehr Hightech-Geräte, die Unmengen an Diagnosewerten liefern. Diese Datenflut auszuwerten, wird schwieriger und komplexer – und schreit geradezu nach neuen, effizienteren Algorithmen. Zum anderen wenden sich immer mehr Fachleute dem noch jungen Gebiet der Systembiologie zu. Sie versuchen, das Ineinandergreifen verschiedener Organe im Körper fundierter als bislang zu verstehen – ein prädestiniertes Feld für mathematische Modelle. Die Resultate könnten eines Tages helfen, die Milchproduktion bei Kühen zu steigern oder auch eine Anti-Baby-Pille mit weniger Nebenwirkungen auf den Markt zu bringen.

WELTFREMDHEIT WAR GESTERN

In den neun Jahren seit der Gründung hat das Matheon viel bewirkt: „Es hat die Mathematiker in Berlin zu einer großen Gruppe zusammengeschweißt“, meint Mehrmann. „Außerdem haben wir deutschlandweit eine Mentalitätsveränderung angestoßen.“ Früher haben sich die Mathematiker kaum darum gekümmert, ihre Ergebnisse in die Praxis umzusetzen. Das mussten die Ingenieure tunlichst selbst erledigen. „Jetzt sehen unsere Kollegen, dass es gar nicht schlimm ist, wenn man anwendungsorientiert denkt“, sagt Mehrmann. „Die Mathematik dabei ist genauso schwer und schön wie die, bei der es um die Lösung von Grundlagenproblemen geht.“ ■

Frank Grotelüschen ist freier Wissenschaftsjournalist in Hamburg und ständiger bdw-Autor.

von Frank Grotelüschen

KOMPAKT

· 200 Mathematiker arbeiten im Berliner DFG-Forschungsschwerpunkt Matheon zusammen.

· Mit ihrer anwendungsorientierten Grundlagenforschung kurbeln sie die deutsche Wirtschaft an.

EINE HAND VOLLER TRÜMPFE

Das Matheon ist ein Verbund von fünf Institutionen. Beteiligt sind die drei Berliner Universitäten (TU, FU, Humboldt), das Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik sowie das Zuse-Institut Berlin. Gegründet wurde das Matheon 2002 als eines von mittlerweile sechs Forschungszentren der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Die Mission: Es soll neue Mathematik für Schlüsseltechnologien entwickeln und dadurch Wirtschaft, Medizin und Wissenschaft unterstützen.

Das Jahresbudget liegt bei rund 16 Millionen Euro – knapp 6 Millionen kommen von der DFG, 3,5 Millionen von den beteiligten Institutionen, und 6,5 Millionen fließen als Drittmittel ein. Derzeit arbeiten 45 Professoren und 9 Nachwuchsgruppen in dem Verbund, dazu kommen diverse Projektstellen. Wenn die DFG-Förderung 2014 ausläuft, soll das Matheon als Vorbild für ähnliche Verbundprojekte bestehen bleiben.

KLARE ANSAGE

Die Forschung am Matheon ist in sieben Bereiche unterteilt:

Lebenswissenschaften. Die Experten modellieren biologische und medizinische Vorgänge, um sie im Computer simulieren zu können. Die Ziele: wirksamere Medikamente, bessere Operationsplanungen, neue Krebstherapien.

Logistik-, Verkehrs- und Telekommunikationsnetze. Ob Post, Pipelines, Stromleitungen, Straßen, Schienen oder Internet – Netze gibt es überall. Matheon-Experten suchen das jeweilige Optimum: Netze, die schnell und kostengünstig sind.

Produktion. Die Herstellungsprozesse in der Industrie werden immer komplexer, etwa in der Automobil-, Flugzeug- oder Stahlbranche. Die Mathematiker entwickeln Algorithmen, mit denen sich die Produktion dynamisieren lässt.

Schaltkreissimulation und optische Komponenten. Ein Mikrochip ist ein Wunderwerk: Er enthält zahlreiche Leiterbahnen und Transistoren. Mathematische Methoden unterstützen Chip- Designer, die hochgradig komplexe und leistungsfähige Schaltungen entwerfen.

Finanzen. Wie wirkt es sich auf den Börsenindex aus, wenn der Kurs einer Aktie in die Knie geht? Und welche Risiken mag ein neues Finanzprodukt bergen? Die Algorithmen der Mathematik helfen, solche Fragen zu beantworten.

Visualisierung. Ob im Computerspiel oder beim Hollywood-Streifen – 3D- Animationen wirken immer realistischer. Grundlage dafür sind ausgefeilte Algorithmen aus den mathematischen Forschungslabors.

Bildung. Als Schulfach steht Mathematik nicht gerade an erster Stelle der Beliebtheitsskala. Mit Aktionen wie dem „ mathematischen Adventskalender“, der zur Vorweihnachtszeit jeden Tag eine Aufgabe stellt, will das Matheon den Nachwuchs auf seine Seite ziehen.

MEHR ZUM THEMA

INTERNET

Über aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen am Matheon sowie über dessen rege Öffentlichkeitsarbeit informiert www.matheon.de

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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