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MATHEMATIKER BERLIN

Astronomie|Physik

MATHEMATIKER BERLIN
Deutschlands größte Metropole ist zugleich Welthauptstadt der Mathematik. Mit dem Matheon gibt es dort eine einmalige Kooperation. Seit Januar ist Berlin überdies Sitz der Internationalen Mathematischen Union. Generalsekretär Martin Grötschel über Mathematik im Alltag, in der Welt und in der Schule.

bild der wissenschaft: Was ist das Besondere am Matheon, Herr Prof. Grötschel?

Martin Grötschel: Kurz gesagt, wir versuchen durch Mathematik praktische Fragen besser zu lösen, als dies bisher gelang. Und das in einer großen Gruppe von fast 50 Professorinnen und Professoren und weiteren rund 150 Mathematikern.

An mathematischer Grundlagenforschung sind Sie gar nicht interessiert?

Doch! Aber anders als die Grundlagenforscher der reinen Mathematik beschäftigen sich die Grundlagenforscher am Matheon – salopp gesagt – mit mathematischen Fragen aus dem täglichen Leben. Der große Mathematiker Carl Friedrich Gauß hat Differenzialgeometrie nicht nur deshalb entwickelt, weil er dies als intel-lektuelle Herausforderung empfand, sondern auch, weil er als Landvermesser im Königreich Hannover tätig war und bei seinen Messungen, Berechnungen und Kartendarstellungen die Krümmung der Erde mit größtmöglicher Präzision berücksichtigen wollte. Durch ihn ist Landvermessung erheblich exakter geworden.

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Haben Sie auch ein aktuelles Beispiel?

Vor wenigen Minuten habe ich mich mit Zugumläufen im IC- und ICE-Verkehr beschäftigt. Dabei stellen sich mathematische Fragen, die völlig neu sind.

20 Jahre nach Einführung des ICE?

Die Bahn und ihre Kunden haben viele anspruchsvolle Wünsche, deren gleichzeitige Erfüllung schwierig ist. Ein Ziel ist beispielsweise „Regelmäßigkeit“. Um die Aushänge an Bahnhöfen zu vereinfachen und den Vielfahrern lästiges Suchen zu ersparen, sollen Züge im Taktverkehr an einem Bahnhof immer zur selben Minute nach der vollen Stunde einfahren und bei gleicher Abfahrtszeit auch immer die gleiche Waggonfolge aufweisen. Mittags sind aber viele Züge kürzer als morgens. Die Zugbestandteile werden daher an den verschiedensten Stellen in Deutschland ständig neu zusammengestellt. Dabei haben die diversen Komponenten eines ICE unterschiedliche Wartungsintervalle, die aus Sicherheitsgründen zu beachten sind. Manche Wartung erfolgt nach soundso vielen Stunden Fahrzeit, andere nach soundso vielen Kilometern. Es wäre gut, wenn jede Zugkomponente einen Tages- oder Wochenturnus hätte, aber es fahren Züge, bei denen sich der Ablauf erst nach fünf Wochen wiederholt. Es gibt noch viele weitere zu berücksichtigende technische Details – und natürlich müssen die Arbeitszeitregelungen des Personals beachtet werden. Das alles zusammenzubringen, ist richtig kompliziert.

Wenn Mathematik erst jetzt weiterhelfen soll – wie hat die Bahn diese Aufgabe denn bisher gelöst?

Umlaufplanung erfolgt bis heute im Wesentlichen manuell. Sie beruht auf der technischen Detailkenntnis und großen Erfahrung vieler Mitarbeiter. Wir versuchen nun, den Überblick über diese sehr komplexe Aufgabe durch den Einsatz von mathematischen Modellen zu behalten und die vorhandenen Ressourcen besser einzusetzen. Eine neue Idee, die ich gerade mit drei Mitarbeitern diskutiert habe, ist eine Modellierung durch sogenannte Hypergraphen, mit denen man gewisse Regelmäßigkeitsaspekte elegant behandeln kann. Das hat bisher niemand versucht, und so muss erst einmal mathematisches Neuland betreten werden. Das Endziel ist eine Software, die die gesamte IC- und ICE-Umlaufplanung automatisiert.

Was ist für Sie der größte Erfolg des Matheon?

Für mich ist das nicht irgendein spezielles Projekt. Es ist die Ausbildung junger Leute. Viele haben inzwischen eine wissenschaftliche oder berufliche Karriere gemacht. Fast 60 unserer jungen Mitarbeiter sind Professoren, einige haben aus den Matheon-Projekten heraus Spin-off-Unternehmen gegründet. Andere sind von Partnerfirmen eingestellt worden, was uns natürlich freut. Unser Nachwuchs nimmt in die Welt unsere Vision mit, dass Mathematik einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen unseres Lebens leistet – von der Medizintechnik über den Fahrzeugbau bis hin zur Optimierung von Lasern oder Kristallzüchtung.

Wollen Sie die Welt mit dem Gedankengut des Matheons kolonialisieren?

Das Wort „kolonialisieren“ gefällt mir gar nicht. Es geht vielmehr um die Verbreitung einer guten Idee. Ich gebe gerne zu, dass ich das auch ein bisschen missionarisch verfolge. Denn auch wir Mathematiker können und sollten etwas zur Bewältigung der wichtigen Fragen beitragen, die sich in unserer Welt stellen. Im Matheon haben wir die innermathematischen Fachgrenzen überwunden und beschäftigen uns mit vielfältigen Anwendungen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Zeit der breiten Kooperation zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen angebrochen ist und diese in engem Schulterschluss mit der Industrie erfolgt. Alle großen Fragen der heutigen Zeit – ich nenne nur nachhaltige Wertschöpfung und Ökologie – erfordern den konzentrierten Einsatz vieler Wissenschaftler und Praktiker. Den Ingenieur, der die für sein Fachgebiet nötige Mathematik, Physik oder Chemie vollkommen beherrscht, gibt es nicht mehr. Das Schöne an unserem Mitwirken ist der fachgebietsübergreifende Transfer: Wenn wir in der Grundlagenforschung – etwa zu mathematischen Fragen der Telekommunikation – Fortschritte erzielen, können wir diese möglicherweise bei der Netzwerkoptimierung im öffentlichen Nahverkehr anwenden, weil die Herausforderungen mathematisch ähnlich sind. Noch ein weiteres Beispiel für angewandte Mathematik gefällig?

Gerne!

Die Firma Open Grid Europa (OGE), die in Deutschland 12 000 Kilometer Gaspipeline betreibt, muss ihr Netz durch die Marktderegulierung jedem Gaslieferanten und -abnehmer diskriminierungsfrei öffnen. Was aber heißt diese gesetzliche Vorgabe genau? Kann OGE einen Transportwunsch aus Kapazitätsgründen ablehnen? Gibt es dafür gerichtsfeste Argumente? Was Juristen als Netzkapazität definieren, lässt sich bisher mathematisch nicht genau fassen. Wir versuchen nun, diesen Prozess sauber zu modellieren. Wir müssen dazu nicht nur das physikalische Geschehen in der Pipeline abbilden, sondern auch das, was in Pumpwerken, Verdichtern und Speichern geschieht. Dazu brauchen wir mathematische Expertise in Stochastik, Nichtlinearität, Ganzzahligkeit. Das Projekt umfasst ein 30-köpfiges Team aus sechs verschiedenen mathematischen Institutionen und der OGE.

Das Matheon gibt es seit 2002. Es wird noch bis 2014 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) großzügig unterstützt. Wie kam es dazu?

Einer der Gründe für das Zustandekommen des Matheons war der Weltkongress für Mathematik, den wir 1998 in Berlin organisiert haben. Zur erfolgreichen Durchführung mussten die großen mathematischen Einrichtungen der Stadt erstmals eng und vertrauensvoll kooperieren. Diese Vernetzung führte zu dem Gedanken, die in Berlin vorhandenen mathematischen Kapazitäten besser zu bündeln. Mit Erfolg haben wir uns dann um ein DFG-Forschungszentrum zur angewandten Mathematik bemüht.

Sie entsprechen so gar nicht dem Klischee eines weltabgewandten Mathematikers, sind offensichtlich sogar ein erfolgreicher Strippenzieher. So sind Sie seit Jahren Generalsekretär der Internationalen Mathematischen Union IMU. Was ist Ihr Geheimnis?

Eine Mischung aus Pflichtbewusstsein und Wagemut. Einerseits habe ich anscheinend schon in jungem Alter gewisse Führungs- qualitäten besessen – so war ich auf dem Gymnasium Schulsprecher – , andererseits habe ich das Pflichtbewusstsein, eine einmal übernommene Aufgabe wirklich ordentlich zu bewältigen. Strippenziehen würde ich das jedoch nicht nennen, sondern organisatorischen Einsatz zur Förderung der Wissenschaft. Manchmal braucht man so etwas wie die Gunst der Stunde: Als ich 1991 nach Berlin kam, hatte man bereits mit Planungen begonnen, den Weltkongress der Mathematiker in Berlin zu organisieren. Kaum war ich da, drängte man mich, den Präsidentenjob im Organisationskomitee zu übernehmen, was ich dann auch tat. Daraufhin wurde ich in das Exekutivkomitee der Internationalen Mathematischen Union gewählt. Und 2006 wählte mich die Union zu ihrem Generalsekretär, der ich seit 2007 bin. In der anschließenden Zeit kam in der IMU der Wunsch auf, nach 90 Jahren endlich ein permanentes IMU-Büro einzurichten, um nicht alle paar Jahre an einen anderen Standort umziehen zu müssen.

Und das holten Sie 2010 nach Berlin?

Nicht ich, sondern meine Kollegen aus dem Weierstraß-Institut und anderen Berliner Institutionen haben die Bewerbung getragen. Als Generalsekretär musste ich neutral sein. Das war übrigens ein hartes Stück Arbeit. Anfangs gab es zwölf Bewerberstädte. In der letzten Ausscheidung traten dann Rio de Janeiro, Toronto und Berlin an.

Was hat der Forschungsstandort Deutschland davon?

Die Repräsentanten der Mathematik, aber natürlich auch viele Studierende und Kollegen, kommen gerne nach Berlin und sehen, dass es hier eine fantastische mathematische Landschaft gibt – die Angewandte Mathematik hat eine Breite wie sonst nirgendwo auf der Welt. Es entwickeln sich vielfältige internationale Kooperationen, auch über die Mathematik hinaus. Doch das ist nicht alles: Eine zentrale Anlaufstelle für die weltweite Mathematik bringt das ganze Land voran. Deutschland wird seinen Wohlstand langfristig nur erhalten können, wenn wir in vielen Bereichen besser sind als die anderen. Wir müssen besser planen! Wir müssen unsere Ressourcen besser einsetzen! Und das geht nur mit modernen mathematischen Methoden.

Haben wir den nötigen Nachwuchs?

Im Fach Mathematik bekommt man an praktisch jeder deutschen Universität eine ordentliche Ausbildung. Auch wenn der Mathe- matik-Unterricht in den Gymnasien reduziert worden ist, verfügen unsere Erstsemester über ordentliche Kenntnisse, und unsere Studierendenzahlen sind durchaus angemessen. Deutschland steht in dieser Hinsicht besser da als andere Länder. Natürlich ist der Übergang zur Hochschulmathematik schwierig: Eine 1,0 im Abitur sagt nicht so viel aus. Die Note kann man in der Schule durch Büffeln erreichen. Doch Büffeln alleine genügt an der Universität bei Weitem nicht. Das Gute am Mathematikstudium ist: Nach zwei Semestern weiß man, ob man das Studium schafft oder besser schmeißt. ■

Martin Grötschel ist seit 2007 Generalsekretär der Internationalen Mathematischen Union (IMU, rund 80 Mitgliedsländer) und einer der Architekten des DFG-Forschungszentrums Matheon. Grötschel (Jahrgang 1948) studierte in Bochum, promovierte 1977 an der Universität Bonn und habilitierte sich vier Jahre später auf dem Gebiet der Operations Research. 1982 bekam er einen Ruf als Professor für Angewandte Mathematik der Universität Augsburg. Seit 1991 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Informationstechnologie an der TU Berlin. Grötschel, einer der angesehensten Mathematiker weltweit, ist vielfach ausgezeichnet, aber gleichwohl ein Mensch, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht.

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