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AUFSTIEG ODER AUSSTIEG

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

AUFSTIEG ODER AUSSTIEG
Immer mehr Menschen kommen bei der Arbeit an ihre Grenzen – und darüber hinaus. Die Krankheitstage wegen „ Burn-out” sind enorm gestiegen. Doch was ist das überhaupt? Und was ist das Geheimnis der Höchstleister?

Altkanzler Helmut Schmidt ließ sich nicht krankschreiben. Allenfalls fehlte er mal ein paar Tage wegen einer leichten „ Unpässlichkeit”, wie sein Regierungssprecher es nannte, als der Chef sich einen Herzschrittmacher einbauen ließ. Mehr als ein Dutzend Mal war Helmut Schmidt als Bundeskanzler bewusstlos zusammengebrochen, berichtet der politische Chronist Jürgen Leinemann in seinem Buch „Höhenrausch”. Und: „Noch als er längst 80 Jahre alt war, renommierte der Ex-Kanzler mit seinen 14 bis 16, manchmal 18 Arbeitsstunden am Tag.” Doch: „Seine eigenen Depressionen pflegte er nicht als Folge seines geliebten 16-Stunden-Tages anzusehen”, stellt der „Spiegel”-Autor und journalistische Wegbegleiter Schmidts fest.

Kann man überhaupt so viel arbeiten, ohne dass Kopf und Körper irgendwann streiken? Hat Frau Merkel ein Geheimrezept, oder leidet sie ebenso still wie ihr Vor-Vor-Vorgänger im Amt? Spurlos scheint der Arbeitsmarathon jedenfalls auch an heutigen Spitzenpolitikern nicht vorüberzugehen: Erst im März beklagte CSU-Chef Horst Seehofer öffentlich die hohe Arbeitsbelastung seiner Amtskollegen und die „fast übermenschliche Terminabfolge”. Ihr Leid teilen die Politiker mit vielen Berufstätigen – vom Paketzusteller bis zum Top-Manager. Und offensichtlich verkraftet eine steigende Zahl von Menschen die immense Arbeitslast nicht unbeschadet.

Im April vermeldete das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO): „Um nahezu das Neunfache sind die Krankheitstage zwischen 2004 und 2010 wegen Burn-out angestiegen.” Knapp 100 000 Menschen wurden laut WIdO letztes Jahr krankgeschrieben, weil sie „ ausgebrannt” waren. Eine Studie der Allianz AG und des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem gleichen Monat ergab zudem, dass die durch Depressionen verursachten Krankheitskosten in Deutschland 2008 bei bis zu 22 Milliarden Euro lagen, was gegenüber 2002 einen Anstieg von 27 Prozent bedeutet.

VERLETZUngEN – PECH GEHABT?

Während diese Grenze zur psychischen Überlastung unsichtbar und damit für viele schwer greifbar ist, zeigt sich die menschliche Leistungsgrenze im Spitzensport deutlich: Dauerverletzungen bei Fußball-, Handball- oder Eishockeyspielern sind ein Zeichen dafür, dass „über die Grenzen des Körpers hinaus” trainiert wird, wie der Marburger Bewegungsforscher Klaus Moegling in seinem gleichnamigen Buch darstellt. Um über schmerzende Muskeln und Ermüdung hinwegzutäuschen und den Körper auf noch mehr Leistung zu trimmen, ist in vielen Sparten des Spitzensports Doping an der Tagesordnung. Doch nicht nur dort: Im Gesundheitsreport der DAK von 2009 ist zu lesen, dass nach eigener Aussage fünf Prozent der 20- bis 50-jährigen Erwerbstätigen dopen. Präparate wie Methylphenidat, Modafinil, Piracetam oder Fluoxetin, die eigentlich bei ADHS, Narkolepsie, Demenz und Depression verordnet werden, sollen die Gesunden beflügeln. Provokant gefragt: Bleibt der arbeitswilligen Bevölkerung in Zeiten von Gewinnorientierung und Wirtschaftswachstum also nur die Wahl zwischen Doping und Burn-out?

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Anscheinend gibt es einen Weg, wie man ohne Blessuren Dauer- und sogar Spitzenleistungen erbringen kann. Das sagt jedenfalls Peter Wollsching-Strobel, Managementberater in Frankfurt am Main. Zusammen mit Sportpsychologen der TU Darmstadt hat der gelernte Psychotherapeut eine Leistungsformel aus sieben Punkten entwickelt, deren Anwendung – sagt Wollsching-Strobel – zwangsläufig zu sehr guter Leistung führt. Es handelt sich um ein Geflecht aus inneren und äußeren Faktoren wie Talent und dessen Förderung, jahrelangem Training, Motivation und Kampfgeist, einem intakten sozialen Netzwerk und einem guten Selbstmanagement (siehe Kasten „Die Leistungsformel”). Als prominentes Beispiel aus dem Sport nennt Wollsching-Strobel die Spielführerin der deutschen Fußball-Nationalmannschaft Birgit Prinz. Die 33-Jährige habe sehr früh mit dem Training angefangen, zeige einen starken Willen zum Sieg und könne durch Erfahrung trotz ihres für den Sport vergleichsweise hohen Alters mit jüngeren Kolleginnen technisch und konditionell mithalten.

Übung scheint also tatsächlich den Meister zu machen. Das zeigen auch Erkenntnisse aus der jungen Disziplin der Expertiseforschung: Demnach sind mindestens zehn Jahre Training oder 10 000 Trainingsstunden für Spitzenleistungen nötig – sei es im Sport, beim Schachspielen, in der Medizin oder in der Musik. Und laut Untersuchungen des amerikanischen Psychologen und Expertiseforschers K. Anders Ericsson haben hervorragende Berufsmusiker bereits im Alter von 20 Jahren über 11 000 Stunden mit ihrem Instrument zugebracht. Weniger gute Berufsmusiker hätten bis zum selben Alter nur etwa 8000 Stunden, Amateure gar nur 1500 hinter sich. Das Musizieren verändert nicht nur das Spielverhalten der Akteure, sondern auch deren neuronale Strukturen. „Professionelle Musiker gelten deshalb als Modelle für die Plastizität des Gehirns”, erklärt der Neurophysiologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich. Und: „ Überdurchschnittliche Leistungsträger unterscheiden sich vor allem darin von anderen, dass sie sich für ihre Tätigkeit begeistern”, betont Wollsching-Strobel. Diese Begeisterung treibe sie jahrelang zu 60 bis 70 Wochenstunden, ohne dass sie dies als Belastung empfinden: „Ihre persönlichen Interessen sind optimal auf die Erfordernisse des Leistungsfelds abgestimmt.”

Acht-Stunden-Tag ist keine WillKür

Doch wie vielen ist eine solche beglückende Hingabe vergönnt? Zahlreiche Jobs sind nicht so beschaffen, dass sie Erfüllung bringen können. Oder es fallen Nebentätigkeiten an, die die Arbeit verleiden – etwa der Papierkram bei Klinikärzten. Da kann jede Stunde zu viel sein. „Der Acht-Stunden-Tag ist keine willkürliche Begrenzung”, sagt Barbara Griefahn vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund. „Aber es hängt eben von der Art der Tätigkeit und der Motivation ab.” Sie selbst arbeitet seit 1971 rund 70 Stunden pro Woche – auch noch nach ihrer Emeritierung –, „ohne auch nur einen Tag krank gewesen zu sein”. Sie ist zweifelsfrei eine Ausnahme.

Doch in vielen Bereichen haben mehr als acht Stunden Arbeit an fünf Tagen in der Woche messbar negative Konsequenzen. Die Psychologin Anna Wirtz von der Universität Oldenburg hat die Folgen von Überstunden in einer 2010 herausgegebenen Vergleichsstudie zusammengetragen. Bereits bei mehr als fünfmal acht Wochenstunden lässt die kognitive Leistung nach, zeigt sich in einer 1996 publizierten Studie. Eine 2002 durchgeführte Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass eine Arbeitszeit von über 61 Stunden pro Woche das Risiko für einen Herzinfarkt gegenüber einer 40-Stunden-Woche verdoppelt. Und eine Studie von 2007 ergab: Das Unfallrisiko für Beschäftigte mit mehr als 64 Arbeitsstunden pro Woche steigt gegenüber Personen mit 40 Wochenstunden um 88 Prozent. Beate Schulze, Vizepräsidentin des Schweizer Expertennetzwerks für Burn-out, hält Überstunden noch aus einem anderen Grund für unklug: Untersuchungen aus den 1990er-Jahren hätten gezeigt, dass es kaum möglich sei, sich mehr als fünf Stunden pro Tag auf eine spezielle Beschäftigung zu konzentrieren (sogenannte „Deliberate Practice”).

In vielen Branchen wird trotzdem mehr gefordert, obwohl das deutsche Arbeitszeitgesetz ausdrücklich nur in Ausnahmen mehr als acht Stunden pro Tag erlaubt. Große Anwaltskanzleien etwa bewegen sich jenseits der Legalität, wenn sie ihren Angestellten obligatorische Zwölf-Stunden-Tage verordnen – mit der Option auf mehr. In den Arbeitsverträgen steht davon freilich nichts. Eine Liste der Bundesanstalt für Arbeitsschutz von 2007 führen Dienstleistungsberufe und Selbstständige mit durchschnittlich 63,13 Wochenstunden an. Wer bei so viel Arbeit nicht auf seine Gesundheit achtet, dem könnte „Karoshi” widerfahren. Das ist der japanische Ausdruck für „Tod durch Überarbeitung”, in Japan eine offizielle Todesursache. Als Indiz dafür gelten 100 Überstunden im Monat vor dem Tod. Wird das nachgewiesen, muss die betroffene Firma eine Hinterbliebenenrente zahlen. Über solche Fälle wird immer wieder berichtet: Es traf etwa eine 41-jährige Filialleiterin bei McDonald’s in Yokohama, die an einer Gehirnblutung starb, und einen Mitarbeiter bei Toyota, dessen Herz mit 30 Jahren versagte.

Dienstleistungen rund um die Uhr, Maschinen, die nie stillstehen – das schreit geradezu nach Nonstop-Arbeit beziehungsweise macht Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit nötig. Laut dem Fourth European Working Conditions Survey von 2007 schieben rund 15 Prozent der Deutschen Schichtdienst. 40 Prozent sind einen oder mehrere Abende im Monat beschäftigt, rund 17 Prozent regelmäßig nachts. Samstags arbeiten rund 50 Prozent, sonntags 20 Prozent. Das betrifft vor allem Berufstätige im Hotel- und Restaurantbetrieb, in der Landwirtschaft und im Transportwesen. Die irregulären Arbeitszeiten wirken sich direkt auf die Leistung der Beschäftigten aus, vor allem weil der natürliche Schlaf-Wach-Rhythmus durcheinander gerät. Die Folgen sind Schlafstörungen und Schlafmangel. „Dabei hat Nachtschlaf die wichtigste Erholungsfunktion”, betont die Marburger Arbeitspsychologin Renate Rau. Und wie viel soll es sein? „ Untersuchungen ergaben, dass die Mortalitätsrate bei sieben Stunden Schlaf am geringsten ist”, erklärt sie.

Nächtliche Katastrophen

Während Nachtschichten besteht vor allem das Problem, dass die menschliche Leistungsfähigkeit herabgesetzt ist. Ein deutlicher Leistungsrückgang liegt zwischen 0 und 6 Uhr, das absolute Tief zwischen 3 und 4 Uhr morgens. „Lapses” genannte Aufmerksamkeitsaussetzer werden dann häufiger. „Sogar massive Ereignisse werden dann zum Teil nicht mehr bewusst wahrgenommen”, betont Edmund Wascher vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund. Vor allem der frontale Cortex, der eine Art Kontrollfunktion im Gehirn hat, ist davon betroffen.

Welche katastrophalen Folgen die verminderte Leistungsfähigkeit während Nachschichten haben kann, zeigt die Analyse großer Industrieunfälle: die Havarie des Öltankers „Exxon Valdez”, die Reaktorkatastrophen von Three Mile Island und Tschernobyl, der Chemieunfall in Bhopal. Um derartiges zu verhindern, gibt es für die rund 20 000 britischen Arbeiter auf Offshore-Plattformen in der Nordsee besondere Arbeitszeitregelungen: Nach zwei Wochen Dienst ist für sie erst einmal Schluss, und sie gehen für zwei Wochen an Land. Norwegische Offshore-Arbeiter bleiben zwischen den Schichten sogar drei bis vier Wochen zu Hause. Wird der Aufenthalt auf See verlängert oder werden Schichten auf mehr als zwölf Stunden ausgedehnt, fallen Schäden und Verletzungen bei Unfällen schwerer aus, berichtete Jonathan Knox Ross 2009 in der Zeitschrift Occupational Medicine.

Besondere Arbeitszeitregelungen gelten auch für Fluglotsen, denn sie müssen sich überdurchschnittlich stark konzentrieren. Jeder Fehler kann verheerende Folgen haben. „In Frankfurt darf ein Fluglotse nicht länger als zwei Stunden am Stück arbeiten”, berichtet Edmund Wascher. Ein Drittel der täglichen Arbeitszeit sei zudem „Erholungszeit”. Nachdem es im April 2011 in den USA vermehrt Berichte über schlafende Fluglotsen gegeben hat, besteht dort nun zudem die Regel, dass zwischen den Schichten neun Stunden Pause liegen müssen. In Deutschland sind Fluglotsen aufgrund der hohen Belastung meist nur bis zum Alter von 55 Jahren im Dienst.

Arbeit UND PERSÖNLICHKEIT

Neben der Arbeitszeit, die sich auf das psychische und physische Wohlergehen des Beschäftigten auswirkt, ist es auch wichtig, dass die Arbeit und die Persönlichkeit des Einzelnen zusammenpassen. Allerdings stellt jeder andere Erwartungen an den Beruf. Deshalb könne man nicht sagen, dass Menschen mit einer bestimmten Persönlichkeit eher im Job kapitulierten als andere, betont Beate Schulze und nennt die sechs Bereiche, die für einen gelungenen sogenannten Job-Person-Match entscheidend sind:

· Die Arbeitsbelastung muss als angemessen erlebt werden.

· Der Handlungsspielraum muss zu den Bedürfnissen des Arbeitenden passen.

· Der Beschäftigte muss so viel Anerkennung erhalten, wie er erwartet.

· Er muss so viel soziale Unterstützung bekommen, wie er für seine Arbeit braucht, und sich angemessen in sein Team eingebunden fühlen.

· Es muss in seinen Augen gerecht zugehen.

· Es darf keine Wertekonflikte geben.

Problematisch für das persönliche Wertesystem sind unmoralische Arbeiten, die mit dem Gewissen des Beschäftigten nicht vereinbar sind. Das gilt etwa für Arzthelferin- nen, die Patienten zu unnötigen Zusatzleistungen überreden sollen, oder für Bankangestellte, die auf Weisung des Chefs faule Kredite vergeben.

Selbstdarstellung immer wichtiger

Der Schweizer Medizinsoziologe Johannes Siegrist geht davon aus, dass mit einem Arbeitsvertrag stets auch ein psychologischer Vertrag geschlossen wird. Erhält der Mitarbeiter für seine Leistung nicht die erwartete Gegenleistung in Form von Belohnung, Aufstiegschancen oder Anerkennung, wächst das Krankheitspotenzial. In der modernen Dienstleister- und Kopfarbeiterwelt wird es allerdings immer schwieriger, Leistung zu messen und entsprechend anzuerkennen. Der Soziologe Stephan Voswinkel von der Universität Frankfurt am Main beklagt diese mangelnde Sichtbarkeit der Arbeit. Sie führe auch dazu, dass Selbstdarstellung immer wichtiger werde, um im Wettstreit mit den Kollegen gut abzuschneiden.

Konkurrenz gab es in der Menschheitsgeschichte schon immer, doch „zwischenmenschliche Konflikte laufen heute subtiler ab als vor 10 000 Jahren”, ist Martin Brüne überzeugt. Der psychiatrische Oberarzt an der Universitätsklinik Bochum beschäftigt sich mit evolutionären Hintergründen psychischer Krankheiten. „Ich will die Steinzeit nicht romantisieren, aber früher war die Konkurrenz, etwa um Territorium oder Partner, wohl konkreter und überschaubarer. Heute sind Auseinandersetzungen um sozialen Rang und Ansehen anonymer und weniger eindeutig. Da ist es schwieriger, sich angemessen zu verhalten.” Werden Kollegen aus der Nachbarabteilung gekündigt, wird ein Firmenstandort verlegt oder ist eine Fusion geplant, entsteht bei den Mitarbeitern eine diffuse Unsicherheit: „Wird es als Nächstes mich treffen?” Derartige Umstrukturierungen schaden der Psyche, wie die europaweite Untersuchung HIRES unter der Leitung des Bremer Arbeitspsychologen Thomas Kieselbach 2009 gezeigt hat.

Arbeitszeit, Arbeitsumstände, Motivation – die Leistungsfähigkeit des Menschen ist von vielen Seiten begrenzt. Wird an einem Stellschräubchen zu viel gedreht, droht der Weg in die Erschöpfung. Immer häufiger ist von Burn-out die Rede. Die gängigste Definition dieses Phänomens stammt von der amerikanischen Psychologin Christina Maslach von der University of California at Berkeley. Sie charakterisiert Burn-out als Reaktion auf kontinuierlichen Stress im Beruf – mit drei Hauptmerkmalen: emotionale und körperliche Erschöpfung, Zynismus und eine reduzierte Leistungsfähigkeit. Ob jemand an diesen Symptomen leidet, wird meistens mit einem Fragebogen, dem Maslach-Burn-out-Inventar, erhoben. Aber er hat ein Manko: Er beruht auf Selbstauskunft. Das heißt, man erhält durch die Befragung lediglich eine subjektive Einschätzung des Betroffenen und keine objektive Fremdbeurteilung. Zudem, so kritisierte das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2010, fehlen bei vielen Burn-out-Studien die Kontrollgruppen.

Burn-out ist im internationalen Krankheitskatalog ICD-10 nicht als Syndrom verzeichnet – und wird es nach Einschätzung von Erich Seifritz von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich auch künftig nicht sein. Der Begriff ist im ICD-10, der Klassifikation von Krankheiten der WHO, seit 1992 lediglich im Anhang als „ Ausgebranntsein” und „Zustand der totalen Erschöpfung” geführt. Damit kann Burn-out zur näheren Erklärung eines offiziellen Krankheitsbildes – etwa der Depression – dienen. Welche Symptome ein Burn-out-Patient hat, ist nicht festgelegt. Das heißt, die Diagnose steht allein im Ermessen des Arztes.

Obwohl kaum ein Mediziner oder Psychologe daran zweifelt, dass es die massive Erschöpfung gibt, die so viele Arbeitswütige lahm legt, hat sich die Wissenschaft über die unklare Diagnose in zwei Lager gespalten: Die einen sehen Burn-out als eigenständiges Syndrom, die anderen begreifen es als Vorstufe oder frühes Stadium der Depression – oder schlicht als Modewort. Florian Holsboer, Direktor des Max-Planck-Instituts (MPI) für Psychiatrie in München, hält Burn-out für eine „verschleiernde Diagnose”, die das Stigma einer Depression vermeiden soll. Weder endokrinologisch, also auf hormoneller Ebene, noch neurobiologisch seien die Phänomene voneinander zu unterscheiden, ergänzt Thomas Nickel, Oberarzt am MPI für Psychiatrie. Vermeintliche Burn-out-Patienten hätten mit depressiven Symptomen wie Entscheidungsschwäche, Konzentrationsstörungen, Schuldgefühlen oder Kopfschmerzen zu kämpfen.

GEWINNBRINGENDE DIAGNOSE

Was Nickel noch viel wichtiger findet: „Da man die Ursachen der meisten psychiatrischen Erkrankungen nicht kennt, sind die Diagnosen nicht an den Ursachen orientiert, sondern von Experten zusammengefasste Krankheitsbilder, und somit eher willkürliche Kategorien.” Nickel vermutet, dass hinter einer „neumodischen Bezeichnung” wie Burn-out mitunter der Versuch von Fachkollegen steckt, einen neuen Markt zu kreieren und entsprechend für sich zu nutzen. Deshalb ist die Diskussion „Burn-out – ja oder nein” auch keine wissenschaftliche Haarspalterei. Denn ebenso wie das Konzept Burn-out auf tönernen Füßen steht, ist auch die Wirksamkeit vieler Behandlungsmethoden keinesfalls belegt (siehe Beitrag „Im Therapie-Dschungel” ab Seite 66).

Eine der wenigen soliden Arbeiten über den Zusammenhang von Arbeit und Depression hat die Marburger Arbeitspsychologin Renate Rau 2010 vorgelegt. Sie begab sich mit ihren Kollegen an den Arbeitsplatz von 517 Beschäftigten – darunter Bankangestellte, Versicherungsvertreter, Klinikmitarbeiter, Erzieherinnen und Förster. Anstatt die Arbeitsbedingungen von ihnen selbst einschätzen zu lassen, wie es beim Burn-out-Fragebogen geschieht, wurden in dieser Studie die Arbeitsmerkmale unabhängig und objektiv erfasst. Rau und ihre Kollegen konzentrierten sich dabei auf die beiden Parameter Arbeitsintensität und Handlungsspielraum, die im Wesentlichen für Zeitdruck und Entscheidungsfreiheit stehen. Das Ergebnis lässt keinen Zweifel: Je höher die objektive Arbeitsintensität war, desto häufiger traten klinisch relevante Depressionen auf. Ein enger Handlungsspielraum verursachte hingegen keine Depressionen. Allerdings sei noch zu prüfen, ob eine hohe Arbeitsintensität nicht den objektiv bestehenden Handlungsspielraum einschränken kann, meint Rau. In früheren Untersuchungen hatte die Arbeitspsychologin bereits nachgewiesen, dass ein enger Handlungsspielraum ebenso wie Überstunden den Blutdruck nach oben treiben, wodurch sich Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickeln können.

Stress im Körper

Raus Ergebnisse legen nah, dass Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zwei Auswüchse desselben Übels sein können: Stress. Der macht sich physiologisch auf der Achse aus Hypothalamus, Neurohypophyse und Nebennierenmark (HNNA) und der Achse aus Hypothalamus, Adenohypophyse und Nebennierenrinde (HANA) bemerkbar. Auf der HNNA wird unter Stress im Gehirn der hintere Hypothalamus aktiviert. Vermittelt durch den Sympathikus-Nerv kommt es im Nebennierenmark zur Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin. Adrenalin bewirkt eine Erhöhung der Herzfrequenz und des Herzzeitvolumens, sodass der systolische Blutdruck steigt. Auch Noradrenalin erhöht den Blutdruck, weil es die Herztätigkeit anregt und gleichzeitig die peripheren Gefäße verengt.

Auf der anderen Achse, der HANA, wird unter Stress im Hypothalamus das Corticon-Releasing-Hormon CRH freigesetzt. Das führt in der Adenohypophyse zur Ausschüttung des adenocorticotropen Hormons ACTH. Dieses Hormon gelangt über den Blutkreislauf zur Nebennierenrinde und stimuliert dort die Ausschüttung von Cortisol, das im Zusammenhang mit der Entstehung von Depressionen steht.

Depressionen und Herzprobleme – so sehr der Vollblutpolitiker Helmut Schmidt für seinen Job brannte, seine Motivation war als Schutzschild offenbar nicht stark genug. In seinen Kreisen war man aber wohl der Ansicht, dass müsse so sein. Jürgen Leinemann schreibt: „So ähnlich tickte sein ganzes Kabinett. Bis zum Hörsturz habe ich es schon gebracht, tönte auch Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff. 16 Stunden pflegte er als normale Arbeitszeit anzugeben, ganz so wie Justizminister Hans-Jochen Vogel. Und der rastlose Außenminister Hans-Dietrich Genscher brachte es bis zum Ausscheiden aus der Politik auf zwei Herzinfarkte.” Arbeitstiere par excellence, die in ihrer Aufgabe aufgingen – aber in Sachen Gesundheitsbewusstsein kein Vorbild waren. ■

von Cornelia Varwig

KOMPAKT

· Mit viel Motivation und Training lassen sich spezielle Fähigkeiten zu Spitzenleistungen ausbauen.

· Arbeitsumstände wie Überstunden, mangelnde Anerkennung und die Unsicherheit des Arbeitsplatzes schaden nachweislich der Gesundheit.

· Je höher die Arbeitsintensität ist, desto größer ist das Risiko für eine Depression.

DIE LEISTUNGSFORMEL

Sportpsychologen der TU Darmstadt haben zusammen mit der PWS Wollsching-Strobel Managementberatung in Frankfurt/Main eine „ Leistungsformel” für den Sport ermittelt, die auf andere Bereiche übertragbar sein soll. Demnach befähigen sieben Faktoren zu sehr guter Leistung:

1. Talent für das entsprechende Leistungsfeld, in Verbindung mit einer frühzeitigen Talent-Identifikation und -förderung.

2. Mindestens zehn Jahre intensives Training – 60 Stunden pro Woche (!) – der spezifischen Fähigkeiten entlang der eigenen Grenzen, mit dem Ziel der Grenzerweiterung.

3. Nach ersten Erfolgen: die Tätigkeit zum Beruf machen, um den jahrzehntelangen Aufwand auch praktisch dauerhaft realisieren zu können.

4. Eine enorm hohe innere Motivation für die Tätigkeit, die – selbst wenn sie temporär erlischt – immer wieder aufflackert.

5. Überdurchschnittlicher Wille und Kampfgeist, um die selbst gesetzten Ziele auch über Tiefs der Motivation und Leistungseinbrüche hinaus zu erreichen.

6. Ein funktionierendes soziales Netz, und zwar von verschiedenen Seiten: familiär, privat und professionell.

7. Ein reflektiertes und bewusstes Selbstmanagement, etwa um die eigenen Emotionen in Belastungssituationen zu kontrollieren, sich selbst auch nach Misserfolgen wieder neu zu motivieren und Interessenkonflikte mit dem Privatleben zu minimieren.

FREIBERUFLER SIND STABILER

In Deutschland sind geschätzte zwei Millionen Berufstätige selbstständig. Da ihr Leben stark von Instabilität geprägt ist, ging man davon aus, dass sie eher unter Erschöpfung leiden als Festangestellte. Doch eine Studie der Fern-Universität in Hagen ergab, dass sich viele Freiberufler zwar eine bessere Balance zwischen Berufs- und Privatleben wünschen, aber „durchweg über- raschend zufrieden sind”. Und im März 2011 veröffentlichte Ergebnisse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, die auf Grundlage der Langzeiterhebung des Sozio-ökonomischen Panels entstanden sind, zeigten, dass Selbstständige emotional stabiler und gleichzeitig risikobereiter sind. Außerdem sind sie meist davon überzeugt, dass ihre unternehmerischen Ergebnisse ihrer eigenen Kontrolle unterliegen. Das macht sie offenbar zufriedener als das Gros der Arbeitnehmer.

Soziale BErufe Stark BElastet

Die intensive Arbeit mit Menschen führt oft zur Erschöpfung, wie die Zahlen der AOK zeigen. Denn Angehörige solcher Berufe müssen ihre Bedürfnisse stark zurückstellen und ihre Emotionen gut kontrollieren. Auch Lehrer fühlen sich oft überlastet, aber als Beamte sind sie meist privat krankenversichert und deshalb hier nur zum Teil erfasst.

ARBEIT UND Hoher Blutdruck

Eine Untersuchung des US-amerikanischen Psychologen Remus Ilies von 64 Berufstätigen hat gezeigt: Der Blutdruck steigt bei zunehmender Arbeitsbelastung, wenn der Entscheidungsspielraum geringer ist. Und er erhöht sich, wenn es aus dem Unternehmen wenig Unterstützung gibt. Keine Antwort hat die Studie darauf, warum der Blutdruck bei geringer Arbeitsbelastung einen relativ niedrigen Wert aufweist, wenn der Entscheidungsspielraum gering ist.

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