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Lieb und teuer

Erde|Umwelt

Lieb und teuer
Mit dem soeben ausgelieferten Registerband ist der deutsche Nationalatlas komplett. Das 13-bändige Werk ist beeindruckend – sein Vermarktungserfolg gleichwohl bescheiden.

Helmut Kohl hat es geahnt. Als dem Bundeskanzler der Pilotband vom Nationalatlas der Bundesrepublik Deutschland überreicht wurde, ging er an seinen Schreibtisch, holte den ADAC-Atlas aus einer Schublade heraus und irritierte sein Gegenüber mit den Worten: Ich habe schon einen Deutschlandatlas.

Zum Leidwesen des Leibniz-Instituts für Länderkunde – des Herausgebers – und von Elsevier Spektrum Akademischer Verlag, sind nahezu alle Deutschen in dieser Sache einig mit Kohl: Anders als in der Schweiz oder in Schweden, wo die Nationalatlanten Bestseller-Charakter haben und einige Bände bis zu 20 000-mal verkauft wurden, erreichte das Werk in Deutschland bisher wohl höchstens 5000 zahlende Käufer. Dabei schmückt das zwölfbändige Kartenwerk plus des soeben erschienenen Registerbands jedes Bücherregel: rein äußerlich durch sein repräsentatives Format von 29,5 auf 34,5 Zentimeter, vor allem aber durch sein Inneres. 2036 Karten, angereichert durch etwa 1700 Grafiken und Tabellen, rund 1000 Bilder und 645 profunde Textbeiträge, informieren über räumliche Zusammenhänge in Umfang und Ausmaß, wie es das in Deutschland noch nie gab.

Selbstredend enthält der Atlas all jene Darstellungen über Naturräume, Geologie, Klima, Bevölkerung, Wirtschaft oder Verkehr bis auf Kreisebene hinab, die man erwartet. Doch sein wahrer Wert liegt in seinem Raumbezug sehr spezieller und daher außergewöhnlicher Daten. „Leben in Deutschland“ etwa, der zwölfte Atlasband, gibt neben vielem anderen Auskunft über die schnellsten Marathonstrecken, die Namenshäufigkeit von Meier/Maier/Mayr, die internationalen Verpflichtungen einer deutschen Weinkönigin, die Aufklärungsquote von Einbruchdiebstählen oder die Verbreitung von Feng-Shui-Dienstleistern.

Ähnlich wie bei einer gedruckten Enzyklopädie, verführt der Atlas dazu, mehr Zeit damit zu verbringen, als eine gezielte Stichwortsuche verlangt. Wer in einer ruhigen Stunde einen Band des Nationalatlasses aufschlägt, wird stets aufs Neue vom prallen Inhalt begeistert sein und davon, was Geowissenschaftler alles erforschen. So besehen gehören die seit 2000 herausgegebenen Bände in viele Hände.

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Doch genau dies ist nicht der Fall. Ursache ist einmal der Preis: Ein Originalband kostet 99 Euro, das komplette Werk 1225 Euro. Vor der Herausgabe des Atlasses durch Spektrum Akademischer Verlag, der heute zum niederländischen Elsevier-Konzern gehört, hatte der damalige Direktor des Instituts für Länderkunde in Leipzig, Alois Mayr, noch gehofft, einen Band für 80 Mark anbieten zu können.

Doch Frank Wigger, zuständiger Lektor beim Verlag und aufgrund dessen internationaler Ausrichtung dort als Senior Acquisitions Manager tituliert, führt den bescheidenen Abverkauf nicht auf den Preis zurück: „In Deutschland fehlt offensichtlich das Bewusstsein, dass in jede Schule ein solcher Atlas gehört. Nicht einmal alle Goethe-Institute, die die deutsche Kultur ins Ausland tragen sollen, haben sich den Nationalatlas geleistet.“ Auch das Bildungsbürgertum ist nicht aufgesprungen.

Daran änderte sich nichts, als die ersten sechs Bände statt für 594 Euro in einer kartonierten Ausgabe für 198 Euro angeboten wurden. Seit Kurzem bekommt man sie sogar für nur 99 Euro.

Am Geld fehlte es dem Atlasprojekt von Anfang an. So sah sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft außerstande, das Projekt zu fördern – nach den Worten von Alois Mayr auch deshalb, „weil wir uns angeblich zu sehr auf ein populärwissenschaftliches Niveau herablassen und nicht mit Fußnoten arbeiten“. Das Institut für Länderkunde musste Klinken putzen gehen – mit Erfolg. Es gewann für fast jeden Atlasband Sponsoren: beispielsweise die Zeit-Stiftung, die Fritz Thyssen Stiftung und die Mercator Stiftung.

Sabine Tzschaschel, die für die Herausgabe des Gesamtwerkes zusammen mit wechselnden Partnern von Anfang an verantwortlich zeichnete, beschäftigte insgesamt 611 Autoren, die ihre Arbeit im Rahmen ihrer zumeist wissenschaftlichen Beschäftigung ablieferten – also ohne Honorar. Einer der fleißigsten externen Autoren ist ein Gymnasialdirektor aus der Pfalz: Klaus Kremb lieferte für vier verschiedene Bände insgesamt sieben Beiträge. Oben im Autorenranking steht auch Hans-Dieter Haas, Professor für Wirtschaftsgeographie an der Ludwig Maximilians Universität in München.

Wo sich Lücken offenbarten, stieß die wissenschaftliche Redaktion am Institut für Länderkunde in Leipzig in die Bresche und organisierte Beiträge. „Freizeit ohne das Thema Fußball geht nicht“, sagt die Geographin Tzschaschel. Also enthalten verschiedene Bände ein Dutzend Karten über Fußball – etwa zur Verbreitung von Fanclubs des FC Bayern, von Schalke 04 oder vom VfL Wolfsburg.

„Die Hauptarbeit der wissenschaftlichen Redaktion bestand indes zu 90 Prozent aus Kürzen. Manchen Wissenschaftlern gefiel das nicht: Sie wollten dann lieber eine Karte weglassen“, verrät Tzschaschel. Einen zweiten Schwerpunkt sah die Redaktion darin, die Texte gut leserlich daherkommen zu lassen. „Je jünger unsere Autoren waren, desto mehr Verständnis zeigten sie für dieses Anliegen.“

Entstanden war die Idee eines Nationalatlasses der Bundesrepublik Deutschland gleich nach der Wende. In der DDR gab es einen Nationalatlas, und auch 120 weitere Staaten der Erde leisten sich einen. Die Zeit schien günstig, und die Geographen waren erfreut, ihre räumlichen Erkenntnisse einem großen Publikum vermitteln zu können. Aber hier sieht Frank Wigger auch ein Problem: „Viele der dargestellten Sachverhalte sind Ergebnisse einer einmaligen und abgeschlossenen Untersuchung. Selbst wenn wir in eine zweite Auflage gehen würden, könnten viele Untersuchungsergebnisse vom Autor nicht aktualisiert werden.“

Was also tun? Verramschen wird Elsevier die Edelausgabe des Atlasses in absehbarer Zeit kaum, „auch wenn unsere Controller das Projekt nicht als Superkiste bezeichnen“, sagt Wigger. „Dazu war das doch ein zu emotionales Projekt.“

Am Institut für Länderkunde macht man sich Gedanken, wie die Karten sonst noch unters Volk gebracht werden können. „Wir denken an Buchausgaben, die nur einen Teil der Karten und Texte beinhalten und auf eine aktuelle Fragestellung fokussiert sind.“ Auch der elektronischen Verbreitung will man nachhelfen. Zwar ist der Nationalatlas seit Band 1 auch auf CD zu beziehen, doch ein spezielles Angebot im Internet – so wie in den USA und Kanada – gibt es nicht. Wer im Internet www.nationalatlas.de anklickt, stößt nur auf das Verkaufsangebot des Verlags. Etwas mehr Informationen bekommt man unter www.ifl-nationalatlas.de. Doch auch hier bleiben viele Wünsche offen. Einzelne Karten für eigene Zwecke können noch nicht heruntergeladen werden. „Auch deshalb nicht, weil uns zu viele Institutionen ihre Rechte für eine elektronische Weiternutzung nicht übertragen haben“, sagt Sabine Tzschaschel. Frühestens ab dem Herbst wird sich das ändern, hofft sie.

Wer Deutschland als kolossales Kartenwerk erleben will, dem bleibt indes auch dann nur eines: sich den gedruckten Atlas irgendwie zu besorgen.

Wolfgang Hess

Ohne Titel

Der Nationalatlas der Bundesrepublik Deutschland

… besteht aus zwölf Bänden plus Register. Jede Ausgabe umfasst etwa 180 großformatige Seiten, enthält im Schnitt 170 Karten, 140 Tabellen und Grafiken sowie 50 Textbeiträge. Der Einzelband kostet als Hardcover 99 Euro, genau wie eine CD des gleichen Inhalts. Kartoniert werden die ersten sechs Bände zum Gesamtpreis von Euro 99 angeboten.

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