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MYSTERIEN DER NACHT

Allgemein

MYSTERIEN DER NACHT

Der Text dieses Beitrags ist ein Auszug aus dem faszinierenden Buch „Du bist, was du schläfst. Was zwischen Wachen und Träumen alles geschieht“, das im Piper-Verlag am 8. September erscheint (Preis: 19,99 Euro). Wissenschaftsjournalist Tobias Hürter beleuchtet darin die Geheimnisse des Nachtschlafs – vom Gähnen bis zum Aufwachen. Er schreibt über Schönheitsschlaf, nächtliches Lernen sowie über Schlafwandler und Rekordhalter im Schlafentzug – und gibt spannende Einblicke in Laboratorien, in denen es Versuchspersonen fertigbringen, im Hirnscanner sanft zu entschlummern, während Forscher in ihren Träumen lesen.

KOMPAKT

· Der amerikanische Mathematiker und Hippie Stephen LaBerge begann in den 1970er-Jahren mit der Klartraum-Forschung im Schlaflabor.

· Heute ziehen Psychologen aus den Hirnströmen von Klarträumern scharfe Schlüsse auf das menschliche Bewusstsein.

TRÄUMEN NACH WUNSCH

Der kleine Stephen liebte Abenteuerserien. Damals, in den 1950er-Jahren, ging man noch jede Woche ins Kino um die Ecke, um sie zu sehen. Eines Tages fand Stephen eine Möglichkeit, sie zu sich nach Hause zu holen – gratis ins Bett. Er erwachte aus einem Traum, in dem er ein Unterwasserpirat gewesen war. Stephen war begeistert und nahm sich vor, in der nächsten Nacht in den Traum zurückzukehren und die Geschichte weiterzuträumen – die nächste Folge seiner ganz privaten Serie. Er schaffte es. Und noch mehr. Im Traum war ihm bewusst, dass er träumte. Er war gleichzeitig Regisseur und Schauspieler.

Stephen LaBerge hatte seinen ersten „luziden“ Traum gehabt, ohne das Wort zu kennen. Kaum jemand kannte es damals. Schon normale Träume galten als fragwürdiges Phänomen. Luzide Träume, auch Klarträume genannt, also Träume, in denen der Träumer sich seines Traumzustands bewusst ist? Das mussten Hirngespinste von Okkultisten und Esoterikern sein.

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Auch LaBerge ließ die Klarträume mit seinem Kinderspielzeug in der Vergangenheit zurück. Er studierte Mathematik in Arizona, erwies sich als Überflieger, wechselte Fach und Ort und wandte sich der chemischen Physik an der Elite-Universität Stanford zu. 1967 dann gab es in Kalifornien den Summer of Love, und diese Hippie-Welle erfasste auch LaBerge. In einem Workshop, gehalten von einem Buddhisten aus Tibet, hörte er von der Fähigkeit der Zen-Meister, einen 24-stündigen Schlaf-wach-Zyklus in vollem Bewusstsein seiner selbst zu durchleben. Ein paar Nächte später fand LaBerge sich im Himalaya wieder, bei der Besteigung des K2. Er stellte fest, dass er nur ein T-Shirt trug, und das in dichtem Schneetreiben. Doch warum fror er nicht? „Plötzlich verstand ich, dass ich träumte“, erzählte er später. „Ich breitete die Arme aus, sprang in die Luft und flog davon.“ Er segelte den Hang hinab, statt mühsam abzusteigen, und wachte begeistert auf. Es war LaBerges erster Klartraum seit seiner Kindheit.

SUCHE NACH DEM GRAL

Und es war nicht der letzte. Nun begann er, systematisch mit Klarträumen zu experimentieren. Er wandte sich vom Hochschulbetrieb ab, um sich, wie er es später nannte, der „Suche nach dem Heiligen Gral des Hippietums“ zu widmen: der Bewusstseinserweiterung. Zehn Jahre blieb er der Academia fern, offiziell gibt er an, in dieser Auszeit „psychopharmakologische“ Studien betrieben zu haben. Dann kehrte er zurück, mit dem Ziel, die Klarträume in Reichweite der Wissenschaft zu holen.

Klarträume geisterten seit Jahrtausenden durch die Literatur, aber vor LaBerge hatte sich niemand mit naturwissenschaftlichen Methoden an sie gewagt. Schon in Aristoteles‘ Abhandlung „De insomniis“ (Über Träume) aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert lassen sich Andeutungen auf Klarträume lesen. Seit einem Jahrtausend entwickelt sich in Tibet das Traumyoga, in dem der Schlafende erkennen lernt, dass er gerade träumt, und den Traum dann lenkt. Für Buddhisten ist es eine Art der Erleuchtung. Auch die Naturforscher des aus dem Mittelalter erwachten Europa beschäftigten sich mit Klarträumen. René Descartes (1596 bis 1650) erwähnt sie. Den Ausdruck „luzider Traum“ prägte der niederländische Psychiater Frederik van Eeden, der von 1898 bis 1912 ein Nächtebuch mit 352 Klarträumen geführt und im Jahr darauf einen Aufsatz über das Phänomen veröffentlicht hatte. Dieser Aufsatz erschien wieder 1969 im Sammelband „Altered States of Consciousness“, herausgegeben vom kalifornischen Psychologieprofessor Charles Tart. So landeten die luziden Träume im Hippie-Kanon.

VERSUCHSSCHLÄFER IM LABOR

Dem akademischen Establishment galten Klarträume weiterhin als ganz und gar verruchtes Zeug. Forscher, die akademische Karriere machen wollten, ließen lieber die Finger von dem, was sie für drogeninduzierte Wahnvorstellungen hielten. Sie behaupteten, dass die vermeintlichen Klarträumer in Wirklichkeit kurz aufgewacht waren und sich eingebildet hatten, noch zu träumen. Auch William Dement, der Pionier der modernen Schlafforschung und Gründer des allerersten Schlaflabors, war skeptisch, als Stephen LaBerge zu ihm an die Stanford University kam und fragte, ob er Dements Labor für sein Dissertationsprojekt nutzen dürfe. Für LaBerge war es keine Frage, dass es Klarträume gibt. Schließlich hatte er sie ja erlebt. Und er war entschlossen, sie experimentell dingfest zu machen.

Es spricht für Dements offenen Geist, dass er trotz seiner Skepsis LaBerges Plan unterstützte und ihm sogar einen seiner Mitarbeiter zur Seite stellte, den etwas erfahreneren Lynn Nagel. „Ohne Lynn hätte ich es vielleicht nicht geschafft“, meint LaBerge, „er hat mir beigebracht, wie man Schlafaufzeichnungen macht.“ Der Versuchsschläfer sollte mit einem Polysomnographen verkabelt werden, um seine elektrischen Hirnwellen, seinen Muskeltonus und seine Augenbewegungen zu messen. LaBerge entschloss sich zum Selbstversuch, denn er wusste, dass er im Klartraum gezielt seine Augen rollen konnte.

SIGNALE AUS DER TRAUMWELT

Am Freitag, dem 13. Januar 1978, gelang es. Nach siebeneinhalb Stunden Schlaf bemerkte er plötzlich, dass er gerade nichts sehen, hören oder fühlen konnte. Er schlief also. Dann fiel ihm ein, dass er im Labor lag und warum er dort lag. Mit vorher eingeübten Augenbewegungen gab er aus dem Klartraum heraus Signale an Nagel, der über seinen Schlaf wachte. Links, rechts, links, rechts. Die Instrumente zeichneten es schwarz auf weiß auf: die erste Verbindung zwischen Traumwelt und Wirklichkeit. William Dement sah sich genau an, was LaBerge und Nagel gemessen hatten, und es überzeugte ihn. LaBerge schrieb daraufhin seine Doktorarbeit, veröffentlichte Aufsätze und hielt Vorträge bei Fachkonferenzen. Doch er stieß immer wieder auf Widerstand. Die beiden führenden Wissenschaftsmagazine „Nature“ und „Science“ lehnten sein erstes Paper zur Veröffentlichung ab.

Seither hat sich die Diskussion komplett gewandelt: Klarträume sind salonfähig geworden. Selbst die Eminenzen des Fachs nehmen sie ernst. Allan Hobson, der „Gottvater der Schlafforschung“ – so ein Kollege über ihn –, leugnete lange, dass es Klarträume überhaupt gibt. Inzwischen ist er umgeschwenkt, schreibt Forschungsarbeiten über sie und pflegt selbst das Klarträumen.

Die meisten Klarträume kommen am frühen Morgen, fast immer in einer REM-Phase. (Die Abkürzung REM steht für „rapid eye movements“, schnelle Augenbewegungen.) Der Schläfer „erwacht“ aus einem normalen REM-Traum in einen Klartraum. Was dabei im Gehirn geschieht, war lange umstritten unter Experten. Stephen LaBerge verficht die These, dass das Gehirn im Klartraum nicht wesentlich anders funktioniert als im normalen REM-Traum – der Sprung in den Klartraum ist psychologisch, nicht physiologisch. Dagegen glaubt Allan Hobson, dass beim Klarträumen ein radikal anderer Hirnzustand gegeben ist als beim altbekannten REM-Träumen.

DER SITZ DES REALITÄTSSINNS

Schon die Messung der Hirnfunktion im normalen Traum ist schwierig. Im Klartraum ist es ein wahres Kunststück, das erst wenigen Forschern gelungen ist. Nach dem, was bis jetzt bekannt ist, liegt die Wahrheit in der Mitte zwischen Hobson und LaBerge. Das Gehirn arbeitet weiter wie zuvor, auch das Elektromyogramm, das die Muskelspannung misst, bleibt komplett still. Aber es kommt noch etwas hinzu. „In Klarträumen erwacht der präfrontale Cortex“, sagt die Psychologin Ursula Voss von der Universität Frankfurt am Main, die die Köpfe von Klarträumern mit Elektroden verkabelt und erstmals gemessen hat, was darin geschieht. „Sonst sind die Aktivitätsmuster ziemlich die gleichen wie in normalen REM-Träumen.“ Damit bestätigt Voss eine alte Vermutung der Hirnforscher: Der präfrontale Cortex steuert viele Schlüsseleigenschaften des Bewusstseins, darunter Aufmerksamkeit, Entscheiden und willentliches Handeln. Er ist verantwortlich für das höherstufige Bewusstsein, das sich selbst, seine Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken reflektieren kann. Kurz gesagt: für den Realitätssinn. Als Nächstes plant Voss die Gegenprobe: Sie will in normalen REM-Phasen den präfrontalen Cortex mit elektrischer Stimulation „wecken“, um so Klarträume zu erzeugen. Wenn ihr das gelingt, könnte es große therapeutische Bedeutung haben. Denn bei Menschen, die an einer Psychose leiden, funktioniert der präfrontale Cortex auch im Wachen nicht richtig. Schon lange kennen Psychologen die Parallelen zwischen Psychosen und Träumen: Psychotiker können nicht zwischen der Außenwelt und ihrer Einbildung unterscheiden, der Bezug zur Realität geht ihnen verloren. Das Voss’sche Verfahren könnte den präfrontalen Cortex von Psychotikern stimulieren und ihnen so den Realitätssinn wiedergeben.

Manche Menschen schaffen es nie in einen Klartraum. Anderen Menschen, speziell künstlerisch oder spielerisch veranlagten, kommen Klarträume von selbst. Einige machen es sogar zu ihrem Hobby und steigern sich so hinein, dass sie der Klartraumwelt mehr Bedeutung beimessen als der Wirklichkeit. Es gibt mittlerweile mehrere Internet-Foren, in denen Klarträumer sich austauschen. Bei mir hat es auch ohne Anleitung geklappt. Bei einem Interview im Sommer 2008 empfahl mir der Schlafforscher und Psychiater Michael Wiegand: „Fragen Sie sich immer wieder, ob Sie gerade träumen, irgendwann nehmen Sie die Frage vom Wachen in den Traum mit.“

Das tat ich dann auch. Jedes Mal, wenn ich auf die Uhr schaute, machte ich einen kurzen Realitätscheck: Alles logisch und plausibel um mich herum? Alles gemäß den Naturgesetzen? Irgendwelche Monster in Sicht? Nach gut drei Wochen fand ich mich in einem alten Holzhaus wieder. Auf den engen Stiegen merkwürdig verhutzelte Menschen – so merkwürdig, dass ich auch ohne weitere Realitätsprüfung begriff: Das muss ein Traum sein. Wenn ja, dann ist es mein Traum, dann kann ich ihn ändern. Ich nahm daher einen Deckenbalken ins Visier: „Werde rosa, Balken!“ Der Balken sträubte sich zunächst, ich konzentrierte mich mehr, dann lief der Balken rosa an. Ein Traum also. Aber ein Klartraum! Vor Aufregung erwachte ich. In den folgenden Wochen kam mir in jeder zweiten oder dritten Nacht ein Klartraum. Ich experimentierte, flog über Städte und durch Computerspiel-Kulissen, träumte mir Menschen herbei, die ich vermisste. Ich staunte darüber, wie reich die Wahrnehmung im Klartraum ist. Die Sicht ist gestochen scharf, die Farben unvergleichlich kräftig. Der südafrikanische Mathematiker J. H. Michael Whiteman sagte einst über sein erstes Klartraum-Erlebnis: „Ich war nie vorher wach.“

LUZIDE, ABER EINSAM

Auch ich fühle mich im Klartraum unglaublich wach, aber auf die Dauer einsam. Ich weiß, dass alles in meinem Klartraum, jedes Ding und jedes Wesen, mein Werk ist – auch wenn die Menschen, die in meinen Klarträumen auftauchen, das manchmal bestreiten. Auf die Dauer sind mir da echte Menschen und echte Dinge lieber. Mir kamen zeitweise so viele Klarträume, dass es mir lästig wurde. Manchmal wünschte ich mir, mich mal wieder einfach berieseln lassen zu können. Inzwischen habe ich nur noch alle paar Monate einen Klartraum. ■

Tobias Hürter scheut als Wissenschaftsjournalist nicht vor Selbstversuchen zurück. 2007 dopte er sich für einen „Zeit“ -Artikel mit Epo.

von Tobias Hürter

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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