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Der Mumien-Beweis

Allgemein

Der Mumien-Beweis
Europäer herschten im alten China. Seit 20 Jahrem kommen im nordwestchinesischen Tarimbecken immer mehr fantastisch erhaltene Trockenmumien ans Licht, die bis hin zur Kleidung verblüffend europid wirken. Sie erschüttern die These, daß die chinesische Hochkultur sich allein aus sich selbst entwickelt hat.

Der Mann schaut einen an. Obwohl seine Augen geschlossen sind, ist er so präsent, als ob er sich gleich erheben würde. Doch er ist 3200 Jahre alt. Im Museum der Provinzhauptstadt Urumqi hat er seine vorerst letzte Ruhestätte gefunden. Urumqi – im Triangel China, Mongolei, Zentralasien gelegen, landläufig also am Ende der Welt – ist die letzte Station an einer der legendären Seidenstraßen ins Reich der Mitte.

Was die Teilnehmer der diesjährigen bdw-Leserreise nach knapp drei Wochen China-Expedition am meisten fasziniert: Der Jahrtausend-Mann im gelben Dämmer des Provinzmuseums war ein Europäer: 1,76 Meter groß, lange Nase, tiefliegende Augen, blond-bräunliches Haar, helle Haut. Seine gut erhaltene Kleidung mutet europäisch an. Ebenso eindeutig nichtasiatisch sind ein halbes Dutzend andere Mumien in den einfachen Glasvitrinen.

Was den Laien verblüfft, ist für Wissenschaftler wie den Heidelberger Altmeister der sibirischen Archäologie, Prof. Karl Jettmar, „nicht im mindesten überraschend“. Er zeigt dem Besucher den Bericht der letzten Sven-Hedin-Expedition von 1937, in dem eine ebenfalls eindeutig europäische Mumie aus der Frühgeschichte Chinas abgebildet ist. „Nur durfte man die damals nicht näher untersuchen oder mitnehmen“, weiß Jettmar. Die Chinesen – gewarnt durch räuberische Forschungsreisende aus Europa – wachten eifersüchtig über den Funden aus ihrem Boden. Bei aller professionellen Abgeklärtheit des Heidelberger Archäologen:

Der amerikanische China-Forscher Prof. Victor H. Mair war nach eigenem Bekunden „wie von Donner gerührt“, als er 1987 bei einem beiläufigen Besuch des Museums in Urumqi die europäischen Mumien sah. Er war so elektrisiert, daß er sein eigentliches Forschungsgebiet verließ und mit aller Kraft versuchte, eine Einreise- und Arbeitserlaubnis für China zu bekommen. Die politischen Verhältnisse ließen dies jedoch erst 1993 zu.

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Ob nun laienhafte Neugier von bdw-Reiseteilnehmern, abgeklärtes Wissen in Heidelberg oder drängende Begeisterung in Amerika – Mair bringt die Faszination der blonden Mumien in China auf den Punkt: „Wer waren diese Leute? Wie kamen sie dorthin?“

Diese „Ötzi-Frage“ kann seit dem Fund des Eismannes in den Südtiroler Alpen in vielen Details immer besser beantwortet werden. Wie bei der steinzeitlichen Gletschermumie wird es auch bei den bronzezeitlichen Trockenmumien in China eine aufreibende Puzzlearbeit sein, die mit viel Zeit und Geld verbunden ist. Mair, Professor an der University of Pennsylvania in Philadelphia, hat ein interdisziplinäres Forscherteam den Chinesen angedient – inklusive Museumsneubau für die Mumien.

Die ersten mumifizierten Leichname aus den öden Sandzonen des Tarimbeckens südlich der Wüste Gobi datierten in die Zeit 200 v. Chr. bis 200 n. Chr. Das verwunderte nicht weiter:Zu dieser Zeit florierten die später so genannten Seidenstraßen zwischen Mittelmeer und fernem Osten schon lange. Die Überraschung lieferten die neueren Funde europider Mumien in Chinas Boden – sie waren zwischen 1800 und 1200 v. Chr. in den heißen Wüstenboden gelegt worden.

Einige der Toten waren nur mit einer Decke bekleidet, andere trugen aufwendig gefertigte Leder- oder Filzstiefel, bunt und exklusiv gewebte Kleider aus Ziegen- oder Schafwolle, sowie Mäntel aus Leder oder Stoff. Die ausgehöhlten Baumsärge waren mit Rinderhäuten überzogen. Als Grabbeigaben fanden die Archäologen vorwiegend Dinge des täglichen Bedarfs wie Kämme, Nadeln, kleine Messer und Töpferwaren. Waffen und Prestigegegenstände, die soziale Unterschiede dokumentieren, fehlten weitgehend. Das verleitete Mair zu der vorschnellen Charakterisierung der Toten als Angehörige eines egalitären und friedlichen Volkes.

Ein halbes Dutzend der Euro-Mumien ist in Urumqi ausgestellt. Mehr als 100 weitere lagern in Kellerräumen – unter Bedingungen, die den westlichen Wissenschaftlern die Haare zu Berge treiben. Ungezählte andere sind seit den siebziger Jahren in über einem Dutzend Fundorten wieder mit Wüstensand zugeschüttet worden: Es fehlt den chinesischen Wissenschaftlern an Geld, Know-how und Räumlichkeiten, um die Bronzezeit-Zeugen sachgerecht zu bergen und nachhaltig zu konservieren.

Die Mumifizierung hatte einst die Natur übernommen. Die Leichname waren nicht, wie die ägyptischen Toten, präpariert worden: Heftig schwankende Tages- und Nachttemperaturen und das Wüstenklima „gefriertrockneten“ die Körper. Der hohe Salzgehalt des Bodens hielt zersetzende Bakterien ab.

Das alles zusammen machte die frappierende Erhaltung von Körper und Kleidung über die Jahrtausende möglich – ein einmaliger Fundus zur Beantwortung der Frage: Wie weit dehnte sich die Ökumene vor 5000 Jahren? War China tatsächlich so von aller Welt geschieden, wie es Selbstverständnis und Geschichtsschreibung im Reich der Mitte vorgeben?

Aus alten Funden, fremden und eigenen Untersuchungen kann Victor Mair in seinem letztjährigen Bericht resümieren: Das Erbgut der Mumien stimmt mehr mit dem europäischer Völker überein als mit dem asiatischer. Das erbrachten vorläufige DNA-Untersuchungen italienischer Genforscher. Zur Spezifizierung dieses – augenscheinlichen – Befundes bedarf es weiteren antiken und heutigen Genmaterials zum Vergleich. Mair: „Neben den vielen anderen Arbeitsfeldern werden die genetischen Untersuchungen eine vitale Rolle bei unseren Forschungen spielen.“ Die Herstellung des Garns und die exklusive Webtechnik der Kleidung mit mehrfarbigem Muster entspricht Textilien der gleichen Frühzeit in Österreich, Skandinavien und Deutschland. Das erbrachten Untersuchungen amerikanischer Spezialisten. Mair: „Mit absoluter Sicherheit können wir sagen: Die Textilien sind keine unabhängige Erscheinung, sondern Teil einer technologischen Tradition, die sich nach Europa und in den Kaukasus erstreckt.“ Der rund 60 Zentimeter hohe „Hexenhut“ einer edel gekleideten Frau erinnert an die Spitzhüte iranischer Prominenter oder Schamanen aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. in Zentralasien. Bruchstücke eines Wagenrades aus einem chinesischen Gräberfeld des 2. Jahrtausends v. Chr. erwiesen sich als nahezu identisch mit 1000 Jahre älteren Wagenteilen aus der Ukraine.

Die Zeugen aus der Bronzezeit wurden hauptsächlich in Qarqan, in Loulan am versickerten See Lop Nur und in Toyuq gefunden. Hunderte der Mumien versenkte man wieder im Wüstensand – es fehlt das Geld für ihre Erhaltung.

Chinas Frühzeit des 3. und 2. Jahrtausends v. Chr.? „Wir können nur spekulieren“, sagt der Heidelberger Professor Jettmar und tippt auf die Tocharer. Doch US-Professor Mair beharrt: „Es gibt keinen Grund, nicht anzunehmen, daß es die Tocharer waren.“

Und wer waren die Tocharer? Zunächst war das Tocharische nur als Sprache belegt: Es wurde vom 4. bis 8. Jahrhundert n. Chr. in den Oasen des Tarimbeckens gesprochen und für die Niederschrift religiöser Texte verwendet.

Deutsche Linguisten fanden zu Beginn dieses Jahrhunderts heraus, daß das Idiom zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehört und dem Keltischen, Italienischen, Germanischen und Griechischen nahesteht.

Die Verbindung zu den Trockenmumien im Tarimbecken wirkt etwas bemüht: Die Schriftstücke sind etwa 2000 Jahre jünger als die Mumien. Für Mair kein Problem: „Nach den chinesischen Annalen und den Berichten chinesischer Reisender waren die europiden Bewohner des Tarimbeckens die Vorfahren der Tocharer.“

Die werden in chinesischen Texten als Yuezhi bezeichnet und bildeten einen mächtigen Stammesverband. Nach Auseinandersetzungen mit Nachbarstämmen wanderten sie zum Großteil nach Baktrien und Nordwestindien aus, wo sie ein machtvolles Reich gründeten, von dem wiederum die klassischen „europäischen“ Geschichtsschreiber berichten. „Trotz des unterschiedlichen Namens“, schlußfolgert Jettmar, „müssen die Yuezhi mit den Tocharern weitgehend identisch gewesen sein. Das von ihnen besiedelte Land hieß noch im Mittelalter Tocharistan.“

Wie die frühen, europiden Tarim-Leute ausgesehen haben, da ist sich Mair sicher, „wissen wir ja, weil sich die Körper und die Kleider in den Gräbern erhalten haben“. Als Zeugnis dienen ihm Wandgemälde aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. in buddhistischen Grotten, auf denen tocharische Stifter mit schlanken Körpern, schmalen Gesichtern, langen Nasen, blauen oder grünen Augen und rotem oder blondem Haar dargestellt sind.

Wie aber das Tocharische, getragen von indoeuropäischen Stämmen, nach Westchina gekommen ist, überläßt Mair den Linguisten zur näheren Erklärung. Ihm reichen die archäologischen Belege, vor allem die Textilien, als Nachweis der direkten Verbindung zwischen Europa und China schon in der Frühgeschichte. Der amerikanische Professor geht von „langanhaltenden Wanderbewegungen“ aus. Die müßten im 4. und 3. Jahrtausend v. Chr. stattgefunden haben.

Als durchgängiges Schema solcher Wanderungen entwirft der Heidelberger Jettmar das Szenario einer Welt in Bewegung: „Angezogen von den Verlockungen des Südens, versuchen barbarische Stämme aus dem Norden über die Berge hinweg in die Hochkulturen des mesopotamischen Tieflandes einzudringen. Solchen Versuchen war zwar kein dauerhafter Erfolg beschieden, sie brachten aber den Eindringlingen technische Kenntnisse für die Kriegsführung und politische Organisation, mit deren Hilfe spätere Expeditionen in die Tiefe des (asiatischen) Steppenraumes möglich waren, wo Stämme, die bisher relativ unbehelligt lebten, keinen massiven Widerstand leisten konnten.“ Es war die Zeit vor den Pferden. Die europiden Einwanderer, die sich nicht mit den Einheimischen mischten, waren nomadisierende Rinderzüchter.

Jettmar ist vorsichtig genug, um sich nicht in den Fallstricken der Linguistik, Völkerkunde, der genetischen und physischen Anthropologie zu verfangen. Auch Stämme aus dem Kaukasusgebiet, dem Iran und aus dem sibirischen Norden sind nach seinen Mutmaßungen in das Tarimbecken eingedrungen. Hier grenzt die wissenschaftliche Beweisführung in vielen Fällen noch an pure Interpretation. Durch die Öffnung der russischen und chinesischen Grenzen werden in den nächsten Jahren viele archäologische Beweise aufhorchen lassen.

Die frühen europiden Nomaden südlich der Wüste Gobi wurden später von Iranern, die mit Pferd und Streitwagen nach Osten zogen, in ihre östlichsten Herrschaftsgebiete abgedrängt. Jettmar folgert vorsichtig: „Die Geschichte Zentralasiens war offenbar vorübergehend durch Zuwanderungen aus dem Westen und Südwesten bestimmt.“

Ungeklärt bleibt bei derlei Überlegungen die Frage, warum gerade die weit entfernten Osteuropäer den Steppenraum Westchinas nutzten, und warum nicht die neolithischen Ackerbauern Ostasiens nach Westen zogen. „Anscheinend“, so spekuliert Jettmar , „waren die Europäer schneller in der Ausnutzung extremer Bedingungen.“

Sicher ist nach den in den letzten Jahren intensivierten Forschungen: China, das sich nach seinem Selbstverständnis allein aus sich selbst entwickelt hat, war verwoben in internationale Beziehungen, in Geben und Nehmen von Ideen und Techniken wie jedes andere Volk dieser Erde. Die Mumien im Museum von Urumqi sind der heute noch sichtbare Teil der transkontinentalen Verbindung in der Frühzeit der Menschheit.

Im wilden Westen Chinas Die erste bdw-Leserreise ins Reich der Mitte, zu den Kaisergräbern, Buddha-Grotten und Palästen.

Also, mit Stäbchen essen ist ganz einfach. Man nimmt die beiden und … Gute Ratschläge gab es viele, doch eine mitteleuropäische Nahrungsaufnahme mit den Holz- oder Plastikgriffeln blieb ein Ding für sich. Verhungert ist dennoch keiner der bdw-Reisegruppe ins „Goldene Zeitalter Chinas“ durch das ungewohnte Eßgerät. Erfahrene (oder mißtrauische) Reisende hatten allerdings ihr Survival-Messer-Gabel-Löffel-Besteck mitgebracht. Aber ansonsten war alles wie immer bei bdw-Leserreisen: Funktionierende Planung, Gruppenbild mit Hotel: In Pucheng gab es für die bild der wissenschaft-Gruppe ein offizielles Empfangskomitee, das uns auch zum Kaisergrab begleitete.

kundige deutschsprachige Begleitung im Land, wissenschaftliche Reiseleitung, Ziele außerhalb der üblichen Route. Es war nur alles viel chinesischer. Und damit war doch vieles anders: Die Bombastik der kaiserlichen Bauten in Peking oder die faszinierenden Votiv-Skulpturen in Longmen, der Buddha-Gigant von Binglingsi oder die hinreißenden Wandgemälde in den Mogao-Grotten – jeder Teilnehmer wird sein persönliches Highlight in Erinnerung behalten. Die „Bequemlichkeit“ der Rumpel-und-Ratter-Nachtzüge wird ebenso noch lange Gesprächsstoff sein wie die 40 Grad im Schatten der Ruinenstädte von Jiaohe und Gaochang im wilden Westen Chinas. Eine neue Erfahrung haben selbst langgediente bdw-Leserreisende bei dieser Tour gemacht: Im Provinzstädtchen Pucheng, eigentlich nur ein bißchen abseits gelegen, waren wir, die Langnasen, die Attraktion für die Einheimischen.

Michael Zick

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