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HÄNDE HELFEN BEGREIFEN

Gesellschaft|Psychologie

HÄNDE HELFEN BEGREIFEN
Fast jeder Mensch benutzt beim Sprechen seine Hände. Die scheinbar beiläufigen Gesten spiegeln nicht nur Unbewusstes, sondern unterstützen auch das Denken.

6 + 3 + 7 = x + 7 steht an der Tafel. Ein Viertklässler schaut auf die Aufgabe und knobelt. Schließlich füllt er eine Zahl in die Lücke: 23. Leider falsch. Der Junge hat einfach alle Zahlen der linken und rechten Seite addiert. Offenbar hat er das Prinzip von Gleichungen mit einer Variablen noch nicht verstanden. Als er jedoch aufgefordert wird, seinen Rechenweg zu erklären, tut er etwas Interessantes: Er legt Zeige- und Mittelfinger unter die Zahlen 6 + 3. Beide zusammen ergeben 9, das richtige Ergebnis. Trotzdem fällt ihm sein Fehler nicht auf. Er korrigiert seinen Schnitzer nicht.

„Häufig sind die Hände schon einen Schritt voraus und offenbaren ein Wissen, das dem Bewusstsein noch nicht zugänglich ist“, kommentiert die Psychologin Susan Goldin-Meadow. Die Gesten-Expertin von der University of Chicago hat in ihren kürzlich veröffentlichten Mathematik-Experimenten sowie in zahlreichen weiteren Studien nachgewiesen, dass Gesten bei Lernenden aller Altersstufen häufig die Tür zu einer neuen Erkenntnis aufstoßen: Die Hände unterstützen im buchstäblichen Sinne beim „Begreifen“.

Dass die Hände sich regelrecht zu neuem Wissen vortasten, demonstrierte Goldin-Meadow in folgendem Versuch: Sie bat 70 Dritt- und Viertklässler, die Gleichungen mit einer Variablen vom Typ 6 + 3 + 7= x + 7 falsch gelöst hatten, ihren verkehrten Rechenweg zu erklären. Dabei durfte die eine Hälfte der Kinder gestikulieren, die andere nicht. Danach bekamen alle Unterricht im Lösen von Gleichungen mit einer Variablen. Ergebnis des darauf folgenden Tests: Probanden, die ihre Erläuterungen mit Gesten hatten untermalen dürfen, lösten fast doppelt so viele Aufgaben richtig wie Kinder, denen beim Erklären ihres falschen Rechenwegs das Gestikulieren untersagt worden war. „Nur dadurch, dass die Kinder ermutigt wurden zu gestikulieren“, erläutert Goldin-Meadow, „entwickelten viele unbewusst richtige Lösungsansätze, die ihnen halfen, dem Unterricht besonders gut zu folgen.“

Wie viel Wasser ist im Glas?

Wenn sich im Unterbewussten ein Wissen zusammenbraut, von dem der Verstand noch nichts ahnt, driften Worte und Gesten auseinander: Die Hände des Lernenden drücken etwas anderes aus als seine Worte. Dieses Phänomen wies Goldin-Meadow eindrucksvoll nach: Kindern zwischen fünf und acht Jahren wurden zwei Gläser mit Wasser gezeigt – beide gleich groß und mit der gleichen Menge Flüssigkeit gefüllt. Dann goss der Versuchsleiter das Wasser aus einem der Gläser in ein niedrigeres breiteres Gefäß und fragte: „ Ist in beiden Gläsern gleich viel Wasser?“ Keine leichte Aufgabe für Kinder dieses Alters, denn es galt, sowohl den Umfang der Behälter als auch den Wasserspiegel zu vergleichen.

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Viele der kleinen Tester glaubten, im niedrigeren breiteren Gefäß sei weniger Wasser. Rund die Hälfte der Kinder vollführte dabei Gesten, die mit dieser Aussage im Einklang standen: Sie wiesen mit dem Zeigefinger auf den hohen Wasserspiegel im schmalen Glas und dann auf den niedrigen im breiten Gefäß. Die andere Hälfte äußerte sich verbal ebenfalls nur zum Wasserspiegel, doch ihre Hände sagten etwas anderes: Sie formten mit den Händen einmal ein langes schmales Gefäß und einmal ein breites flaches. Das bedeutet: Die Kinder sagten das Falsche, zeigten aber das Richtige! „Die Bewegungen dieser Kinder deuteten darauf hin, dass sie kurz davor waren, das Prinzip zu begreifen“, sagt Goldin-Meadow. Nach einer kurzen Unterrichtseinheit folgte ein Test für alle Probanden. Und tatsächlich: Von den Kindern, die zuvor ihr unterschwelliges Wissen offenbart hatten, lösten sechs Mal so viele alle Aufgaben richtig wie von den anderen Schülern.

Wenn Gesten derart wirkungsvoll zur Erkenntnis führen, wäre es dann nicht sinnvoll, Kindern einen Lernstoff nicht nur verbal zu vermitteln, sondern ihnen gleichzeitig auch hilfreiche Gesten beizubringen? Um das herauszufinden, ließ Goldin-Meadow 128 Grundschüler im Alter von neun und zehn Jahren im Lösen von Gleichungen mit einer Variablen unterrichten. Dabei wählte sie nur Kinder aus, die in einem Vortest sämtliche Gleichungen nach dem Muster 6 + 3 + 7 = x + 7 falsch gelöst hatten. Die erste Gruppe dieser Probanden bekam ausschließlich verbale Erklärungen. Die zweite Gruppe lernte außerdem, beim Rechnen folgende Gesten auszuführen: den Zeige- und Mittelfinger unter 6 + 3 legen und dann mit dem Zeigefinger auf das x weisen. Eine dritte Gruppe erlernte halbrichtige Gesten: Zeige- und Mittelfinger unter 3 + 7 und dann auf x weisen. Eine niederträchtige Irreführung? Nur bedingt, denn: Auch wenn 3 + 7 nicht das richtige Ergebnis ist, vermittelt die Geste zwei wichtige korrekte Denkstrategien – die Notwendigkeit, Zahlen zu gruppieren und die beiden Seiten der Gleichung gedanklich zu trennen. Ergebnis des folgenden schriftlichen Tests: Die Kinder, denen man die richtigen Gesten gezeigt hatte, lösten fast doppelt so viele Aufgaben richtig wie die, denen man keine Gesten vermittelt hatte. Und: Kinder, die mit halbrichtigen Gesten über die Runden kommen mussten, schnitten immer noch besser ab als jene, die ganz ohne Hilfe ihrer Hände rechneten.

DAS IST EIN HUND

Dass sogar fehlerhafte Gesten eher zum Erfolg führen als rein verbale Erläuterungen, überrascht Goldin-Meadow nicht. Erstaunlicher findet die Expertin, dass fremde Gesten, die nicht von den Kindern selbst kamen, sondern ihnen von Erwachsenen gezeigt wurden, eine derart positive Wirkung hatten: „Obwohl die Handbewegungen am Anfang für die Kinder keinerlei Bedeutung hatten, konnten sie die Gesten offenbar in ihr Bewusstsein integrieren und einen schnelleren Lernfortschritt erzielen.“ Wie sehr es im Wesen des Menschen liegt, zunächst mit den Händen zu begreifen und erst danach mit dem Kopf zu verstehen, zeigt sich schon in den ersten Lebensjahren, beim Erwerb der Muttersprache. In einer im Fachmagazin „Science“ veröffentlichten Studie begleitete Goldin-Meadow die Sprachentwicklung von 50 Kindern vom 14. bis zum 54. Monat. Sie wies nach: Kinder, die mit 14 Monaten viel gestikulierten, hatten im Vorschulalter einen um 20 Prozent größeren Wortschatz als andere. Wie kann das sein? Die Antwort der Forscher lautet: weil die Geste dem Wort den Weg bahnt.

Wenn ein Kleinkind auf einen Gegenstand zeigt, lockt es das entsprechende Wort aus den Erwachsenen hervor. Weist ein Kind beispielsweise auf einen Hund, sagt die Mutter: „Das ist ein Hund.“ So lernen die Kinder eine Vokabel in dem Moment, wo sie sich dafür interessieren. Häufig vollführen die Kleinen auch nachahmende Gesten, um einen Begriff auszudrücken, zum Beispiel Armflattern für „fliegen“. Die Begriffe, die ein Kind zunächst gestisch vermittelt, tauchen ziemlich genau drei Monate später in seinem Wortschatz auf. „Wir konnten bei unserer Studie regelrecht mitverfolgen, wie Gesten systematisch zu Wörtern wurden“, berichtet Goldin-Meadow.

BEGEGnung mit dem Genitiv

Auch beim Erlernen der Grammatik eilen die Hände den Lippen voraus. Vor dem zweiten Geburtstag beginnen Kinder, Einzelwörter mit Gesten zu kombinieren: Sie sagen beispielsweise „Papa“ und zeigen auf einen Hut. Daraufhin bekommen sie zu hören: „Das ist der Hut von Papa.“ So begegnen sie dem umgangssprachlichen Genitiv. „Wir lernen Kommunizieren nicht erst durch Sprache, sondern schon durch vorsprachliche Gesten“, bestätigt der Psychologe Ulf Liszkowski, Spezialist für vorsprachliche Kommunikation am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen. „Sie schaffen im Bewusstsein eine Infrastruktur, die dann von der Lautsprache genutzt wird.“ Bis dem Nachwuchs die ersten verständlichen Mitteilungen über die Lippen kommen, dauert es rund zwei Jahre. Für manche Eltern ist es eine frustrierende Durststrecke, wenn sie rätseln müssen, was ihr Baby mit Gesten und ersten gelallten Silben ausdrücken möchte oder warum es plötzlich weint. Manche suchen Hilfe in Kursen für Babyzeichensprache, die derzeit einen Boom erleben und sich vor allem an die Eltern von Sprösslingen zwischen 17 und 22 Monaten wenden. Hier lernen die Kleinen Gebärden, um ihre Wünsche und Gedanken auszudrücken. Das Zeichen für „Ich will Milch trinken“ geht beispielsweise so: Das Baby hebt sein Fäustchen auf Brusthöhe und macht es mit gestrecktem Daumen zweimal auf und zu.

Doch wie sinnvoll sind solche Babygebärden? Die Befürworter berufen sich oft auf die Forschungen von Goldin-Meadow. Aber die Wissenschaftlerin ist skeptisch: „Meine Studien liefern keinerlei Beweis dafür, dass die Babyzeichensprache hilfreich ist.“ Kinder kommunizieren vom ersten Lebenstag an in vielfältiger Weise mit ihrer Umgebung, meint auch Ulf Liszkowski. „Es ist sinnvoller, die natürliche Entwicklung zu respektieren und aufmerksam die Gesten zu beachten, die der Nachwuchs von sich aus spontan ausführt. Sonst setzt man die Kleinen nur unter Leistungsdruck.“

DIE HÄNDE NICHT BÄNDIGEN

Viel verbreiteter als das Vermitteln von Babyzeichensprache ist allerdings die erzieherische Gesten-Zähmung: „Rede nicht mit Händen und Füßen“ bekommen immer noch viele Sprösslinge zu hören. „Doch die Gesten der Kinder zu unterdrücken, kann Denk- und Lernprozesse behindern“, warnt Goldin-Meadow und plädiert dafür, den Gesten freien Lauf zu lassen. Auch Erwachsene sollten ihre Hände nicht zügeln, denn: Neue Studien mit älteren Lernern haben ergeben, dass die Gesten uns ein Leben lang beim Lernen unterstützen. Dass das erste „Begreifen“ über die Hände läuft, gilt obendrein nicht nur für Menschen jeden Alters, sondern, wie Goldin-Meadows Forschungen nahelegen, auch für die verschiedensten Lernbereiche: von Sachkunde und Mathematik über Sprachen bis zum Verstehen technischer Mechanismen.

Doch die Lehrkräfte achten im Allgemeinen kaum auf ihre eigenen Hände und die ihrer Schüler. „Ein wichtiges Lernpotenzial schlummert hier ungenutzt“, meint Goldin-Meadow. Gemeinsam mit Didaktikern verschiedener Schulfächer will die Psychologin deshalb gestisch gestützte Unterrichtsmethoden entwickeln: „Es ist an der Zeit, dass Gesten Einzug in die Klassenzimmer halten.“ ■

KATHARINA KRAMER, Wissenschaftsjournalistin in Hamburg, hat sich auf die Besonderheiten der Sprache spezialisiert.

von Katharina Kramer

KOMPAKT

· Gesten können unbewusstes Wissen offenbaren.

· Gezieltes Gestikulieren hilft beim Lernen.

· Bei Kleinkindern geht das Zeigen dem Sprechen voraus.

SUSAN GOLDIN-MEADOW

Die 1949 geborene Psychologin gehört zu den renommiertesten Gesten-Experten der Welt. Vor über 30 Jahren schrieb die US-Amerikanerin ihre Doktorarbeit über die spontanen Handbewegungen gehörloser Kinder. Goldin-Meadow faszinierte die Sprache der Hände derart, dass sie an der University of Chicago gemeinsam mit anderen Psychologen das erste Gesten-Forschungszentrum weltweit aufgebaut hat. In den unwillkürlichen Handbewegungen, die wir alle beim Sprechen ausführen, fand sie ein ergiebiges Studienobjekt: einen Spiegel des Bewusstseins. Goldin-Meadows Untersuchungen trugen dazu bei, dass sich immer mehr Psychologen, Linguisten und Anthropologen für Gesten interessierten. Wenn die Wissenschaftlerin gerade nicht zu Studienzwecken auf die Hände ihrer Mitmenschen schaut, blickt sie auf ihre eigenen: Zu ihren bevorzugten Freizeitbeschäftigungen gehört das Töpfern.

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