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Expedition ins Korallenland

Erde|Umwelt Technik|Digitales

Expedition ins Korallenland
Mit modernsten Messgeräten und scharfen Kamera-Augen erkunden Meeresforscher Gegenden am Grund der Ozeane, die noch kein Mensch erblickt hat.

Rasch sinkt der Roboter in die Tiefe des Golfs von Mexiko. 462 Meter zeigt der Tiefenmesser. Scheinwerfer erleuchten alles, was sich direkt vor dem ferngesteuerten Tauchboot befindet – doch das hilft den Piloten Nico Nowald und Götz Ruhland im Augenblick nicht weiter. Die beiden Wissenschaftler sitzen einen halben Kilometer über dem Tauchgerät in einem abgedunkelten Raum an Bord der „Maria S. Merian”, Deutschlands modernstem Forschungsschiff.

Die Lampen des unbemannten Tauchboots erhellen nur einen Greifarm und kleine Flocken, die davor tanzen. Wichtig sind für die beiden Forscher am Fernsteuerknüppel die Sonaranzeige und eine digitale „Landkarte”, die so genau ist wie eine topografische Karte. Wie auf einem Navigationsgerät fürs Auto zeigt sie Nowald und Ruhland, wo und in welcher Position sich ihr Tauchgerät befindet. Noch vor wenigen Stunden wusste niemand, wie es dort unten aussieht.

BLINDes HERUMSTOCHErn

Die Piloten gehören zum Team von Fahrtleiter Dierk Hebbeln, Geologe am Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM) in Bremen. Die Forscher wollen in dem Seegebiet am Rand der Karibik eines der wichtigsten Ökosysteme der Welt erkunden. Dazu sind sie mit modernster Technik ausgestattet. „Wie wir hier arbeiten und was wir entdecken, ist erst seit ungefähr 15 Jahren möglich”, sagt Hebbeln. „Vorher haben wir nur blind im Meer herumgestochert” , ergänzt sein Kollege, der Meeresgeologe André Freiwald, Leiter der Forschungsinstituts Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven.

Eine der wichtigsten Neuerungen sind die ferngelenkten Tauchroboter, die ROVs (Remotely Operated Vehicles) – Geräte, wie Nico Nowald und Götz Ruhland eines durch die finstere Tiefe der Karibik lotsen. Bemannte U-Boote spielen in der Erforschung der Tiefsee kaum eine Rolle. Roboter sind viel einfacher einzusetzen und liefern mit ihren scharfen Kamera-Augen ein sehr genaues Bild des Meeresgrunds. Ein Mensch könnte in einem dick gepanzerten U-Boot auch nicht viel mehr sehen, und um etwas anzufassen, müsste er – wie ROV-Pilot Nico Nowald an Bord der Merian – einen Roboterarm bedienen.

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In der Pilotenkanzel auf dem Hauptdeck des Forschungsschiffs herrscht Schweigen. Keiner im dunklen Raum spricht, denn Tiefenmesser und Sonar zeigen, dass der Meeresboden unmittelbar vor dem Tauchroboter liegen muss. Sieben Augenpaare blicken den beiden Piloten gebannt über die Schultern und auf die Bildschirme. Sie gehören Forschern aus vier Nationen. Direkt vor dem Pilotenraum steht eine etwa 1,50 Meter hohe Kabeltrommel mit einem 3 Zentimeter dicken, gelb verkleideten Stahlkabel. In seinem Inneren verläuft ein Datenkabel – der „Nervenstrang”, der den Roboter mit der Steuerzentrale auf dem Schiff verbindet und über den Kommandos der Forscher in die Tiefe gelangen.

Schwamm in der Sandwüste

„Da!”, unterbricht einer der Forscher das Schweigen im Steuerraum. Auf den Bildschirmen taucht der Meeresboden auf: eine weite flache Sandwüste, kaum Leben, nur ein Schwamm auf einem Stein ist zu sehen – und den will sich der ROV-Pilot holen. Vorsichtig nähert sich der Roboter dem Stein und fährt seinen Arm aus. Die beiden Greifklauen öffnen sich, umfassen das Objekt und legen es in das Sammelkörbchen vorne am ROV.

Dass hier nicht mehr los ist, enttäuscht niemanden. Das wissen die Forscher – oder besser gesagt, sie nehmen es aufgrund der neuen Meeresbodenkarte an. Zu wissen, dass hier sandige Ödnis herrscht, ist für die Forscher genauso wichtig wie die Kenntnis über das pralle Leben, das sie in der Nähe vermuten. Das „pralle Leben” basiert in Wassertiefen um 600 Meter auf Organismen, die vor Kurzem noch als biologische Kuriositäten gehandelt wurden: Kaltwasserkorallen. Diese Verwandten der tropischen Flachwasserkorallen besiedeln wahrscheinlich die Meere fast auf der ganzen Welt. Sie bauen riesige Lebensräume aus Kalk für viele Tierarten (siehe Kasten unten, „Regenwälder am Meeresgrund”). Die enorme biologische Bedeutung der Tiefseekorallen kennen die Forscher erst seit einigen Jahren. Und: Dieses Wissen hat neue Fragen aufgeworfen, denn die Korallen sind an einigen Stellen der Weltmeere ausgestorben, an anderen wachsen und gedeihen sie. Und anscheinend geschieht dies im Wechsel.

Rätselhafter Ursprung

Zurzeit gibt es im Atlantik riesige Bestände vor Norwegen und Irland, aber keine vor Portugal und Spanien. Vor etwa 15 000 Jahren war es genau umgekehrt. Was ist passiert? Dass es nach der letzten Eiszeit wärmer geworden ist, kann nicht der Grund sein, denn vor Mauretanien leben diese kälteliebenden Korallen heute ebenso wie in der Karibik und im Golf von Mexiko. Darauf deuten erste Ergebnisse von Expeditionen hin. „Neben dieser Frage wollen wir auch klären, woher die nordeuropäischen Korallen stammen”, sagt Hebbeln. „In der letzten Eiszeit waren sie ausgestorben. Aber wo kamen ihre Vorfahren her? Aus der Region vor Spanien – wo sie heute ausgestorben sind – oder aus Amerika? Der Golfstrom beginnt ja hier im Golf von Mexiko und endet vor Norwegen.”

Um diese Urgeschichte des Atlantiks zu untersuchen, hat Hebbeln ein internationales Forscherteam zusammengestellt und die Maria S. Merian organisiert, Deutschlands zurzeit modernstes Forschungsschiff. Sie verfügt über die erforderliche Ausstattung, um solche Aufgaben zu lösen. „Früher hat man die Kaltwasserkorallen einfach übersehen, denn man hat ihren Lebensraum bei Untersuchungen bewusst gemieden”, sagt André Freiwald, Deutschlands führender Tiefseekorallen-Experte. „Sie leben an den Steilhängen des Kontinentalschelfs – und dort zu arbeiten, war den Meeresgeologen bislang zu gefährlich.” Denn es bestand das Risiko, das Forschungsgerät in dem schwierigen Gelände zu verlieren. Heute haben die Forscher künstliche Augen am Meeresgrund – und die beobachten Leben.

ROV-Pilot Götz Ruhland hat das Steuer übernommen, das aussieht wie ein etwas überdimensionierter Joystick mit ein paar Bedienknöpfen. Mit behäbigen 1,5 Knoten – dem Tempo eines gemütlichen Spaziergangs – schiebt er das ROV den Unterwasserhügel hinauf. Je höher es kommt, umso mehr Leben entdecken die Forscher – und umso lebhafter werden sie selbst. In der öden Ebene saßen sie meist zurückgelehnt in ihren Stühlen. Aber jetzt sind alle nach vorne gerückt, Finger zeigen auf die Bildschirme und lateinische Tiernamen werden genannt. Eine Landschaft aus weißen „Sträuchern” der Kaltwasserkorallen Lophelia pertusa ist zu sehen. Rote Krebse sitzen auf den Korallen und heben drohend ihre Scheren, um das ROV zu vertreiben. Fische huschen in die Sicherheit der Korallenstöcke zurück.

Schluchten am Meeresgrund

Es sieht hier genauso aus, wie die Forscher es aufgrund ihrer erst wenige Stunden alten Meeresbodenkarte erwartet haben. Die Karte zeigt nicht nur Ebenen, Schluchten und Berge, sie verrät auch, ob der Untergrund weich oder hart ist, glatt oder rau – und rau deutet meist auf Bewuchs hin. Die Grundlage für diese Daten stammt von Kollegen, die jetzt in ihren Kojen liegen und sich von der durchgearbeiteten Nacht erholen. Sie haben den Meeresboden mit hochauflösendem Echolot abgetastet, Strömung und Salzgehalt gemessen und immer wieder gerechnet.

Die technischen Möglichkeiten für diese Messungen haben gestern Abend Bootsmann Norbert Bosselmann und seine Matrosen geschaffen. Sie haben im Hangar, dem größten Arbeitsraum an Bord, eine Holzplatte, 1,50 Meter lang und breit, hochgehoben und dann ein Loch im Rumpf der Merian geöffnet. Das Loch liegt am Ende des sogenannten Hydrographen-Schachts, über den inzwischen alle modernen großen Forschungsschiffe verfügen (siehe Beitrag „Flotte Forschung” ab S. 50). Er reicht vom Hauptarbeitsdeck bis hinab zum unteren Teil des Rumpfs. Dort befindet sich eine verriegelbare Stahlplatte.

Tonnenschweres Ungetüm

Bosselmanns Truppe löst die Verriegelung und zieht die Platte an Stahlketten heraus. Ratternd und quietschend kommt das über eine halbe Tonne schwere Ungetüm herauf und aus dem Schacht heraus. Dieser Moment ist kritisch, denn auf dem schwankenden Schiff dürfen solche Lasten nicht unkontrolliert herumschwanken. Drei kräftige Matrosen stehen bereit, platzieren die Rumpfplatte auf einer Palette und fahren sie weg. Dann holen sie ein hochauflösendes Fächerecholot heraus und versenken es im Schacht.

Moderne Fächerecholote erfassen nicht einzelne Punkte, wie klassische Echolote, sondern tasten den Meeresboden auf mehreren Hundert Metern Breite ab. In wenigen Sekunden erhalten die Bathymetriker (Meerestiefen-Vermesser) so ein viel genaueres Bild als früher nach vielen Stunden Vermessungsarbeit. Die Merian hat ein knapp vier Meter langes permanent eingebautes Fächerecholot, das Meerestiefen bis zu 12 000 Metern vermessen kann – und dessen kleinen Bruder, den die Matrosen am Abend eingesetzt haben. Dieses kleinere Echolot hat eine viel höhere Auflösung, reicht aber nur bis in etwa 1000 Meter Tiefe. Es wird nur eingesetzt, wenn die Forscher eine Meereslandschaft sehr genau erkunden wollen.

Ackern im Meer

„Matratze fahren” nennen die Fachleute das Verfahren. Dazu erfasst die Merian ein Seegebiet wie ein Bauer einen Acker. Das Schiff fährt einige Kilometer geradeaus, wendet dann und fährt 700 Meter versetzt parallel zur ersten Strecke zurück. Das macht es wieder und wieder, bis es den Plan erfüllt hat und die Meeresboden-Landkarte fertig ist.

Alle Echolot-Daten landen im Bathymetrie-Raum. Hier liegen Computer dicht an dicht gepackt in riesigen Gestellen. Sie rechnen und produzieren reichlich Daten. Paul Wintersteller vom MARUM in Bremen und Georg Eberli von der Rosenstiel School of Marine and Atmospheric Science in Miami, USA, schlagen sich fast jede Nacht um die Ohren, um die Datenströme zu entschlüsseln.

Auf ihren Bildschirmen erzeugt der Computer bereits erste Karten. Sie sehen eindrucksvoll aus, sind aber falsch. Vieles muss korrigiert werden, das fängt bei den Schiffsbewegungen an. Jedes Schiff rollt und stampft in den Wellen – und entsprechend bewegt sich das Fächer- echolot von links nach rechts und zurück sowie hinauf und herunter. Die Bewegungen produzieren eine Scheinlandschaft. Die Merian erfasst diese Bewegungen und schafft so die Basis für die Datenkorrektur.

Im nächsten Schritt müssen Wintersteller und Eberli eine Macke des Echolots herausrechnen. „Es gehört zwar zu den besten Welt, aber es produziert einen systematischen Fehler”, sagt Wintersteller. „Dort, wo das Echo direkt von oben auf den Boden trifft, wird es nicht reflektiert, sondern dringt in den Boden ein und produziert so ein scheinbares Tal mit einem kleinen Randgebirge. Diesen Fehler müssen wir herausrechnen, damit wir vernünftige Karten bekommen.”

Eine weitere Fehlerquelle ist das Meer an sich. Es besteht aus Schichten mit unterschiedlichem Salzgehalt sowie verschiedener Temperatur und Dichte – und beim Übergang von einer Schicht zur anderen wird der Echolot-Strahl abgelenkt. Ab Mitternacht treten daher Christian Dullo, Thorsten Garlichs und Silke Glogowski vom Kieler Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung (GEOMAR) in Aktion und schicken einen runden, über zwei Meter hohen Stahlkäfig hinunter ins Meer. Er ist vollgepackt mit Messfühlern und „ Probennehmern”. Diese grauen Plastikröhren, die sich ferngesteuert verschließen lassen, bringen Wasserproben nach oben. Der Käfig wandert durch die „Wassersäule”, wie die Forscher das Meer zwischen Boden und Meeresoberfläche bezeichnen, misst und nimmt Wasser mit.

Wasser zapfen fürs labor

Kaum ist das Gerät wieder an Bord, stürzen sich die Kieler Meeresforscher darauf und zapfen Wasser ab, an dem sie im Labor erste Analysen machen. Mit diesen Laborwerten korrigieren sie Fehler der Messfühler. Nun kennen die Forscher alle Schichten der Wassersäule mit Salzgehalt, Temperatur und Dichte und liefern sie Wintersteller, der mit diesen Werten die Daten des Echostrahls korrigiert. So entstehen die präzisesten Karten vom Meeresgrund, die heute möglich sind.

Jeder Morgen auf „Station” – wie die Wissenschaftler ihr Arbeitsgebiet nennen – beginnt mit einer Analyse dieser Karten. Sie entscheidet, wo welches Arbeitsgerät in Aktion tritt. Den Anfang macht in der Regel der Tauchroboter, denn mit ihm sehen die Forscher, wie es dort unten aussieht und wo es sich lohnt, größere Proben zu nehmen.

Ein Korb voller Korallen

Im ROV-Pilotenraum beginnt Ruhland inzwischen mit dem Fernsteuern des Auftauchmanövers. Es ist Mittag. Der Tauchroboter hat sein Einsatzgebiet abgefahren und sein Körbchen voll mit Korallen, Schwämmen und anderem Meeresgetier. Die Wissenschaftler laufen in ihre Labors, um gleich danach wieder mit Schüsseln und Probenbehältern an Deck zu erscheinen. Sobald das ROV an Bord ist, müssen sie schnell sein. Im Probenkörbchen sind lebende Organismen, die vorsichtig behandelt werden müssen. Auf vielen Korallen sitzen Würmer oder kleine Krebse. Was wo mit wem zusammenlebt, verrät den Forschern viel über die ökologischen Zusammenhänge am Meeresgrund.

Nachmittags ist meist Schluss mit Hightech. Dann kommen Geräte zum Einsatz, mit denen Meeresforscher bereits seit über 100 Jahren Proben ziehen:

· Das Schwerelot: ein Rohr, rund eine Tonne schwer, mit dem sich über 10 Meter lange Bodenproben aus dem Meeresgrund herausstanzen lassen.

· Der Kastengreifer: Er holt ein großes Stück Meeresboden heraus, fast einen Meter lang, breit und tief – in seiner natürlichen Schichtung samt Bewuchs.

Früher warf man diese Geräte einfach über die Reling und hoffte, dass sie etwas Interessantes an Bord bringen. Viel mehr als die Wassertiefe kannte man ja nicht. Bis heute sind diese simplen Apparate unverzichtbar. Ihre Proben werden zum Teil erst in den folgenden Monaten im Labor analysiert und dann Antworten auf viele Fragen der Expedition geben.

Doch die Funde begeistern die Wissenschaftler schon an Bord. Sie zeugen von einem bislang kaum bekannten Teil der Erde. Schon bei der ersten Untersuchung sind die Pioniere auf über 50 verschiedene Tierarten gestoßen, die niemand zuvor erblickt hat. Tief am Meeresgrund wartet noch immer Neuland. ■

bdw-Korrespondent THOMAS WILLKE durfte die Forscher an Bord der Maria S. Merian begleiten – ein einzigartiges Erlebnis für den Biologen.

Text und Fotos von Thomas Willke

Gut zu wissen: Ferngesteuerte Tauchroboter

Wenn Wissenschaftler den Meeresgrund erforschen, begeben sie sich heute nicht mehr selbst ins Wasser, sondern sitzen im trockenen Kontrollraum eines Schiffes und lassen die Technik für sich arbeiten. Wo früher noch bemannte Tauchboote in die Tiefe geschickt wurden, werden heute ROVs eingesetzt. ROV steht für Remotely Operated Vehicle, also ferngesteuertes Fahrzeug. Das erste hat Dimitri Rebikoff, ein französischer Unterwassertechniker, 1953 erfunden. Es gibt einfache Modelle, die nur mit Kameras und Lichtern ausgestattet sind, und High-Tech-Geräte, die über Messeinrichtungen zu Druck, Temperatur, Fahrtrichtung und Position verfügen oder Greifarme und Werkzeuge zur Probenentnahme haben. Die Roboter sind per Kabel mit dem Forschungsschiff verbunden, worüber die Wissenschaftler die ROVs lenken können. Im Gegenzug schicken die Roboter ständig Fotos und Videos von ihrer Umgebung in den Kontrollraum hoch. Je nachdem, ob sie nur kleine Erkundungstouren über den Meeresboden machen oder eine komplexe Vermessung mit Bodenproben ermöglichen sollen, sind die ROVs zwischen 1,5 Kilogramm und 20 Tonnen schwer. Wie tief sie tauchen, hängt von ihren Aufgaben ab. Der Rekordhalter ist ein japanisches ROV namens Kaiko, der fast elf Kilometer zum tiefsten Punkt des Meeres abgesunken ist. ROVs werden hauptsächlich in der Ölindustrie für Wartungsarbeiten und Inspektionen eingesetzt, aber eben auch zur Vermessung des Meeresgrunds oder zur Erforschung von Organismen. Und sie halfen auch bei der Suche nach Vermissten im Rumpf des gekenterten Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia Anfang des Jahres.

Der Geistesblitz eines Bischofs

Norwegische Fischer kannten die „Blumentiere”, wie sie die Kaltwasserkorallen nannten, schon lange, denn nirgendwo sonst kommen sie in so flachem Wasser vor wie im Nordostatlantik. Die Fischer hassten sie, denn die Korallen zerrissen immer wieder die Netze, und sie erbaten geistlichen Beistand. 1768 wurde er ihnen gewährt: Gunnerus, Bischof von Trondheim, fuhr zur Fangeröffnung mit hinaus. Er sprach seinen Segen, die Netze gingen zu Wasser – und kamen zerfetzt und voller Korallen wieder nach oben. Eine herbe Niederlage für die Kirche – aber Gunnerus’ Neugier war geweckt. Er fertigte genaue Zeichnungen von den ungewöhnlichen Lebewesen an und schickte sie dem berühmten schwedischen Biologen Carl von Linné, den Erfinder der biologischen Systematik. Linné war beeindruckt und gab den Tieren den wissenschaftlichen Namen Lophelia pertusa.

Manche mögen’s kalt

„Im Grunde unterscheiden sich Kaltwasserkorallen von ihren tropischen Artgenossen nur dadurch, dass sie keine Symbionten haben”, sagt André Freiwald. Bei diesen Symbionten – Lebenspartnern, die sich gegenseitig unterstützen – handelt es sich um einzellige Pflanzen, sogenannte Dinoflagellaten. „Die Koralle nimmt sie schon als Larve auf und lässt sie in ihrem Körper leben”, erklärt der Wilhelmshavener Forscher. Für die Alge hat das Vorteile: „Die tropischen Meere sind nährstoffarm, und Pflanzen brauchen zum Wachstum Nährstoffe wie Phosphat und Nitrat.” Diese Substanzen erhalten sie aus dem Kot der Korallen. Im Gegenzug gewinnen die Algen Sauerstoff, entfernen Kohlendioxid aus dem Wasser, um Zucker zu produzieren, und machen es so den Korallen leicht, aus Kalzium und Karbonat Kalk herzustellen, den sie als Baustoff für ihr Skelett benötigen. Kaltwasserkorallen müssen das ohne fremde Hilfe schaffen. „Sie leben in tiefem Wasser, bis zu 6000 Meter unter der Oberfläche, wo es völlig dunkel ist”, sagt Freiwald. Daher kommen Pflanzen als Symbionten nicht infrage.

Kaltwasserkorallen sind Fleischfresser und leben vor allem von Plankton-Organismen, kleinen Krebsen. Um sie zu erlegen, verfügen die Korallen über Mini-Harpunen. Diese Geschosse stecken voller Zellgift und stehen unter Druck. Sie sitzen auf einer Art gespannter Spirale und werden in die Beutetiere hineingeschossen, wenn diese die Koralle berühren. Ein Widerhaken verhindert, dass die Harpune wieder hinausrutscht. Die Harpunenspitze explodiert und ergießt ihr Gift in die Beute. Danach ist es ein Leichtes für die Korallen, die Krebstierchen mit ihren Tentakeln in den „ Gastralraum” zu befördern – einen Magen-Darm-Sack, bei dem der Mund gleichzeitig der After ist. Um stets genug zu fressen zu haben, bevorzugen Korallen Gegenden, wo ihnen Meeresströmungen die Beute vor die Fangarme treiben.

„Regenwälder” am Meeresgrund

Korallen, die im Dunkeln und in der Kälte leben? Vor wenigen Jahren schien das noch eine biologische Kuriosität vor der norwegischen Küste zu sein, doch wie sich herausgestellt hat, gibt es sie überall auf der Welt, zum Beispiel vor Mauretanien, Japan, Neuseeland, in der Karibik. Und das ist wahrscheinlich erst der Anfang, denn die systematische weltweite Erforschung dieser ungewöhnlichen Tiere hat erst begonnen. Schon jetzt ist klar, dass sie wohl einen der wichtigsten Lebensräume in der Tiefsee bilden, in der Bedeutung vergleichbar mit den Regenwäldern des Amazonas. Und wie diese Wälder haben die Korallen eine ökologische und vermutlich auch wirtschaftliche Bedeutung, weit über die Tiefsee hinaus.

Am besten erforscht sind die Bestände vor Europas Küsten. Hier haben die Korallen im Atlantik ein gigantisches Kalkriff gebildet, das vom Norden Norwegens bis südlich von Irland reicht. „Es ist das größte Korallenriff der Welt – selbst das Great-Barrier-Riff vor Australien ist kleiner”, sagte Harald Benke, Direktor des Deutschen Meeresmuseums in Stralsund, wo solche Korallen zu sehen sind.

Kaltwasserkorallen gibt es seit 35 Millionen Jahren, doch erst vor etwa 2,7 Millionen Jahren haben einige Arten begonnen, Riffe und über 100 Meter hohe Hügel, sogenannte Mounts, zu bilden. „ Irgendetwas hat damals den Schalter umgelegt, und seitdem betätigen sich diese Korallen als eine Art Ökosystem-Ingenieure”, sagt André Freiwald, Leiter des Instituts Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven. Die Korallen sind ähnlich aufgebaut wie ein Busch. Darin wird die Strömungsgeschwindigkeit des Wassers gebremst, und alles, was im Wasser schwebt, sinkt herab. „Die Korallen sind in Gefahr, in dieser weichen Pampe zu ersticken”, erklärt der Meeresforscher. „Und um dem zu entgehen, wachsen sie in die Höhe.”

Dabei legen sie ein enormes Tempo vor, wenn man bedenkt, dass bei der riffbildenden Art Lophelia das eigentliche „Korallentier” ein Polyp von etwa 10 Millimeter Größe ist. Nach der letzten Eiszeit haben die Winzlinge vor Norwegen in rund 10 000 Jahren 35 Meter hohe Wälle aufgebaut. Der von den Korallen geschaffene Lebensraum ist sehr attraktiv, um sich vor Fressfeinden zu verstecken oder Eier zu legen. Das zieht kleine Tiere an – und die locken größere Räuber herbei. In der nährstoffreichen „Pampe” siedeln Würmer, Schnecken und Muscheln.

Die Tiefsee besteht an vielen Stellen aus Wüsten, in denen nur wenige Organismen leben. Aber wo Kaltwasserkorallen siedeln, explodiert das Leben geradezu. Andrè Freiwald schätzt, dass über 4000 verschiedene Arten in einem Lophelia-Riff leben, darunter Fische wie Kabeljau, Rotbarsch und Seelachs.

Ohne Titel

Kompakt

· Ziel der Expedition: Informationen sammeln über die Urgeschichte des Atlantiks.

· Noch fast unerforscht sind die riesigen Kolonien von Kaltwasserkorallen.

· Tauchroboter durchstreifen die Ökosysteme am Meeresgrund.

Nur ein paar Fußballfelder

Warum suchen Sie Korallen in 700 Meter Tiefe, Herr Professor Hebbeln?

Bei früheren Expeditionen, die teilweise schon 20 Jahre zurückliegen, hatte man mit dem Sonar am Meeresboden Strukturen entdeckt, die aussahen wie die Hügel, die Kaltwasserkorallen typischerweise bilden. Wir wollten jetzt nachsehen, wie es dort wirklich aussieht.

Und was haben Sie entdeckt?

Vor der Küste von Yucatan haben die Korallen tatsächlich große Strukturen aufgebaut. Dort gibt es sie in Massen. Aber vor Florida und den Bahamas sieht es anders aus. Was im Sonar wie Korallenhügel wirkte, waren in Wahrheit Bruchstücke des Kontinentalhangs, die abgerutscht waren.

Die Forscher hatten das für Massenvorkommen von Korallen gehalten …

Mit den damals verfügbaren Methoden konnte man das auch annehmen. Mit den Greifern hat man tatsächlich Proben vom Meeresboden geholt, in denen Kaltwasserkorallen waren. Wie wir aber mit den Tauchrobotern gesehen haben, siedeln nur wenige Korallen auf den Abbruchhängen. In der Grundlagenforschung verfügen wir ja erst seit 10, 15 Jahren über Tauchroboter, um nachzuschauen, was in der Tiefe wirklich los ist.

Und das hat die Vorstellung von der Tiefsee verändert?

Absolut! Aber trotzdem: 70 Prozent der Erde sind von Meeren bedeckt, und wir kennen kaum etwas von dem, was sich dort unten abspielt. 2002 sagte ein englischer Kollege: Was wir in der Tiefe vom Meeresgrund tatsächlich gesehen haben, ist nur ein paar Fußballfelder groß. Inzwischen sind es ein paar mehr, aber wir sind immer noch nicht raus aus der Dimension der Fußballfelder.

Mehr zum Thema

Internet

Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen (MARUM): www.marum.de

Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (GEOMAR): www.geomar.de

Forschungsinstitut Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven: www.senckenberg.de/root/index.php? page_id=647&standort=true&standortID=4

Beitrag über Kaltwasserkorallen auf Scinexx: scinexx.de/dossier-308–1.html

Forschungstour zwischen Karibik und Bahamas

Die Kaltwasserkorallen-Expedition der Maria S. Merian startete am 14. März 2012 von der Insel Barbados und endete am 7. April im Hafen von Freeport auf den Bahamas.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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