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Die tödliche Farbe des Mäuse – Urins

Allgemein

Die tödliche Farbe des Mäuse – Urins
Es gibt viele Dinge auf dieser Welt, die Falken, Goldfische oder Schildkröten sehen können – der Mensch aber nicht.

Die Evolution ist gnadenlos. Vor allem ist sie sparsam: Wenn eine Tierart ein Gen nicht benutzt, fliegt es raus aus deren Bauplan. Weil die Natur so geizig ist, sehen Menschen und die meisten Säugetiere vieles nicht, was es gibt. Das Dilemma begann wohl vor über 65 Millionen Jahren, als die Säugetiere nur eine unbedeutende Tiergruppe neben den Sauriern waren. Die Evolution hatte bis dahin eine Vielzahl an exzellenten Augentypen hervorgebracht. Auch die Vorfahren der Säugetiere hatten vermutlich gute Augen. Dann spezialisierten sie sich auf eine ökologische Nische, in der es nicht viel zu sehen gab: die Nacht. Säuger waren damals kleine Tiere und beherrschten noch nicht die Welt. Sie hatten aber einen großen Vorteil: Sie konnten ihre Körpertemperatur regulieren und darum in den kühlen Nächten nach Futter suchen, wenn die meist wechselwarmen Saurier ruhten. Die Lebensweise im ständigen Dunkel hatte weitreichende Folgen. Die Augen der Säuger verkümmerten. Sie konnten nicht mehr vierfarbig sehen und weder UV- noch polarisiertes Licht erkennen. Hunde, Katzen, Rinder und die meisten anderen Säuger sehen die Welt darum bis heute nur in matten Farben und ohne Rot-Grün-Unterschiede. „Früher dachte man, dass Hunde nur schwarz-weiß sehen, was aber nicht stimmt“, sagt Jay Neitz, Augenforscher am Medical College von Wisconsin. „Unsere Verhaltensexperimente zeigen, dass sie die Welt eher wie ein rot-grün-blinder Mensch wahrnehmen.“ Dr. Leo Peichl, Spezialist für Säugetieraugen vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt/Main hat die Existenz von zwei verschiedenen Farbrezeptoren in Hunde- und vielen anderen Säugeraugen mit modernen Forschungsmethoden nachgewiesen. „Als wir die farbempfindlichen Zapfen mit Immunfärbemethoden im Mikroskop sichtbar machten, zeigte sich, dass fast alle Säugetiere Farben sehen – manche nachtaktive allerdings nur sehr schlecht.“ Einen ungewöhnlichen Farbwahrnehmungsverlust haben Peichl und andere Forscher bei Robben und Walen entdeckt: Diese Meeressäuger haben keinen Zapfen für Blau, nur einen für Grün. Dass ausgerechnet Blau fehlt, ist für die Forscher ein großes Rätsel, denn blaues Licht dringt tiefer ins Meer hinunter als alle anderen Farbtöne. „ Ein Blau-Rezeptor wäre in großer Tiefe sehr gut, um Hell-Dunkel-Kontraste zu erkennen“, wundert sich der Biologe. Nicht nur beim Farbempfinden, auch bei der Sehschärfe der meisten Säugetiere – zum Beispiel bei Rindern oder Hasen – sparte die Natur. Vögel, aber auch Menschen und Affen haben dagegen ein Zentrum des scharfen Sehens in ihrer Netzhaut. In dieser so genannten Sehgrube oder Fovea ist alles auf extrem hohe Auflösung getrimmt: Hier sitzen fast nur Zapfen, um optimal zwischen Farbtönen unterscheiden zu können. Außerdem gibt jede dieser Sinneszellen ihre Informationen an eine Nervenzelle weiter, die sich exklusiv um diese Daten kümmert – und nicht um die von vielen Sehzellen, wie in den Randbereichen der Augen. In der Sehgrube liegen außerdem keine lichtschluckenden Blutgefäße über den Sinneszellen, wie im Rest der Netzhaut. Auf diese wunderbare Erfindung müssen die meisten Säuger verzichten – etwa Wölfe, Kaninchen oder Hirsche. Sie sehen mehr oder weniger gleichmäßig unscharf, nur in der Mitte ihrer Netzhaut verläuft ein Streifen mit erhöhter Zelldichte. Dadurch können die Tiere halbwegs gut erkennen, was am Horizont passiert und herausfinden, ob Feinde oder Beute auftauchen. Aber sie kommen gut in der Welt zurecht – denn sie haben den Mangel an Sehkraft mit anderen Sinnen wie Hören, Riechen oder Tasten ausgeglichen. Die große Ausnahme sind die Affen Afrikas und Asiens inklusive Homo sapiens. Sie haben das Drei-Farbsehen neu „erfunden“ und können damit das, was Dinosaurier, Vögel, Schildkröten und Fische schon vor Jahrhundertmillionen konnten. Bei den Affen hat sich das Gen für die Zapfensorte verdoppelt, die langwelliges Licht sieht, und ist anschließend so mutiert, dass die Tiere die Farbtöne Rot und Grün unterscheiden können. „Das passierte vor etwa 50 Millionen Jahren“ , schätzt Jay Neitz. Außerdem haben Affen ein Zentrum des scharfen Sehens entwickelt, wie es auch viele Vögel besitzen. Der evolutionäre Grund für diese beiden Neuerungen ist beim scharfen Sehen einfach: Die frühen Primaten lebten in Bäumen. „Ein Affe, der in den Baumwipfeln herumsprang und keine Vorstellung von Distanz und Stärke eines Astes hatte, war ein toter Affe und konnte daher nicht zu unseren Vorfahren gehören“, erkannte der Paläontologe George Simpson schon vor Jahrzehnten. Beim Farbsehen war der Grund schwieriger zu finden. Lange Zeit dachte man, es diente dazu, reifes Obst von unreifem zu unterscheiden. Allerdings werden nicht alle Früchte rot. Vor wenigen Monaten veröffentlichten die Biologen Nathaniel Dominy und Peter Lucas von der Universität von Hongkong eine Theorie, die inzwischen die meisten Forscher überzeugt. Im afrikanischen Urwald hatten Dominy und Lukas beobachtet, was Schimpansen, Colobus- und andere Affen fraßen: vor allem junge Blätter. Sie sind zarter, besser verdaulich und nährstoffreicher als alte Blätter – und sie sind rötlich. Allerdings nur in Afrika, in Amerika nicht: Da sind die jungen Blätter nur selten rot, und die meisten der dort lebenden Affen können tatsächlich nicht zwischen rot und grün unterscheiden. Auch wenn sich die Affen sehr gut aus dem evolutionären Dilemma befreit haben, kommen sie doch an die Leistungen vieler Vögel, vor allem der schnellen Jäger wie Falken oder Schwalben, nicht heran. Die meisten Vögel verfügen gleich über mehrere Tricks, um extrem scharf zu sehen, und sie können zwei zusätzliche „Farben“ erkennen. So erhöhen sie die Schärfe: Die Vogelnetzhaut ist dichter mit Zapfen besetzt als die der Säuger. Das erhöht die Auflösung. In der Netzhaut sitzen verschiedenfarbige Öltröpfchen als Farbfilter vor den Zapfen. Sie ermöglichen den Tieren, kleinste Farbunterschiede zu erkennen. Falken und ähnliche Greife haben ein lang gezogenes Auge – ähnlich wie ein Teleobjektiv. Obendrein können Vogelaugen sehr viel Licht einfangen, denn sie sind sehr groß: Sie nehmen den größten Teil des Kopfes ein. Bei Eulen kann das Gewicht der Augen ein Drittel des Schädelgewichts ausmachen, während es bei Menschen nur etwa ein Prozent beträgt. Eulen können ein brennendes Streichholz deshalb noch in fast zwei Kilometer Entfernung sehen. Falken, aber auch Tauben, haben obendrein in jedem Auge ein zweites Zentrum des schärfsten Sehens. Das eine Paar Sehgruben der Vögel zeigt nach vorne, damit nimmt der Vogel seine Beute oder sein Ziel ins Visier. Das andere Paar zeigt nach links und rechts. Damit navigiert der Vogel: Er erfasst so, wo er sich gerade befindet, merkt sich markante Orte und schätzt seine Geschwindigkeit ein. Wenn ein Mensch eine Jagdbeute durch den Wald hetzt, kann er nicht gleichzeitig die Beute im Auge behalten, auf den Weg achten und sich zudem noch die Umgebung genau anschauen und merken. Ein Falke kann das. Um seine Beute überhaupt zu finden, hilft ihm eine Fähigkeit, die die Säuger verloren haben: das Vierfarb-Sehen. Die meisten Vögel haben vier verschiedene Zapfen-Typen. Menschen besitzen dagegen nur drei: je einen für rot, grün und blau. Vögel verfügen zusätzlich über einen für ultraviolettes Licht (UV). Für Falken und Bussarde hat diese Fähigkeit einen sehr nahrhaften Vorteil: Mäuse-Urin ist kräftig UV-farben. Der Greif sieht schon beim Überfliegen der Wiesen und Äcker anhand der Urin-Spuren, ob wenige oder viele Mäuse hier leben, welche Strecken sie laufen und wo sie sich besonders gerne aufhalten. Falken wissen darum ganz genau, dass es sich über manchen Stellen zu rütteln lohnt. UV-sichtig sind auch viele Reptilien, Amphibien, Fische und Insekten – und sie nutzen es ausgiebig. Etliche Vögel und Fische haben UV-Muster auf ihrem Körper. So sehen bei Blaumeisen und Staren Männchen und Weibchen für Menschen gleich aus – nicht jedoch für Vögel. Wie schwedische und britische Forscher feststellten, haben die Geschlechter unterschiedliche Federzeichnungen – in UV. Ein weiteres Phänomen, mit dem Menschen nichts anfangen können, ist polarisiertes Licht. Das ist Licht, dessen Wellen nur in eine Richtung schwingen. Normales Sonnenlicht besteht aus Mischungen von Licht aller Schwingungsrichtungen. Die Moleküle in der Atmosphäre streuen das Sonnenlicht so, dass am Himmel ein Muster aus polarisiertem Licht entsteht. Für Menschen ist dieses Naturphänomen bedeutungslos, da sie es nicht sehen können. Tiere nutzen dieses Phänomen zur Jagd und zur Navigation: Die räuberischen Wasserinsekten der Gattung Notonecta sehen polarisiertes Licht wie eine Farbe und entdecken so durchsichtige Beutetiere, deren Körper Pol-Licht streuen. Tauben und einige andere Vögel sowie Käfer und Spinnen nutzen es als Kompass, indem sie sich am Pol-Lichtmuster des Himmel orientieren. Wo die polarisationsblinden Menschen nur einheitliches Blau sehen, erkennen viele Tiere den Ablenkungswinkel des polarisierten Lichts, der ihnen präzise die Himmelsrichtung angibt. Auch wenn Menschen solche Sinneseindrücke nicht erleben können, bedeutet es nicht, dass dies für immer so bleiben muss. Die Evolution geht weiter, und mehrere Forscher sind sich sicher, dass einige Menschen schon den Schritt in eine zumindest vielfarbigere Zukunft getan haben, denn das menschliche Genom eignet sich sehr gut dafür. „Als sich in der Evolution der Affen die Gene für langwelliges Farbsehen verdoppelten und die Rot- und Grün-Zapfen entstanden, bildeten sie eine instabile Genkonstruktion, die zu Mutationen neigt“, sagt Jay Neitz. Die Folge: Die Lichtsinneszellen aus den mutierten Genen können nun auf Licht einer anderen Wellenlänge reagieren. Ihre Empfindlichkeit für bestimmte Farben verschiebt sich. Frauen sind den Männern bei diesem evolutionären Fortschritt wahrscheinlich um einiges voraus, denn die Gene für das Rot-Grün-Sehen liegen auf dem X-Chromosom – und nur Frauen haben zwei dieser Chromosomen und könnten damit zwei unterschiedliche „Rot-Gene“ besitzen. In Wahrnehmungsexperimenten haben Forscher vor einigen Jahren tatsächlich Frauen entdeckt, die Farbunterschiede wahrnehmen, die sonst keiner sieht. Den genetischen und biochemischen Beweis für diesen ersten Schritt in eine neue vierfarbige Zukunft hat damals aber keiner geführt. Jay Neitz will das jetzt nachholen. Bleibt die Frage, ob sich solch eine Mutation durchsetzen würde. Um sich in unserer bunten Welt zurechtzufinden, würde Vierfarbsehen schon helfen. Aber vielleicht würde es die Fortpflanzung behindern, weil sich die Vierfarb-Frauen entsetzt von den schlecht gekleideten Männern mit ihren grauenvollen Farbkombinationen abwenden würden.

Kompakt

Vögel sind die Weltmeister des Sehens. Keine andere Tiergruppe sieht zugleich so scharf und erkennt so viele ungewöhnliche Phänomene. Im Laufe der Evolution haben die Säugetiere viele Sehfähigkeiten verloren. So können Hunde und Katzen nicht zwischen rot und grün unterscheiden. Der Sehsinn entwickelt sich ständig weiter – auch beim Menschen.

Thomas Willke

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