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Folgenloser Flügelschlag

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Folgenloser Flügelschlag
Britische Mathematiker halten sichere Wettervorhersagen über mehrere Tage für möglich.

Wettervorhersagen helfen nicht nur, Wochenendausflüge zu planen. Für Versicherungen, Landwirtschaft und Seefahrt zum Beispiel sind sie bare Münze wert. Vorausgesetzt, sie stimmen. Und das tun sie leider bei weitem nicht immer. Schließlich ist das Wettergeschehen auf der Erde das Paradebeispiel der Chaosforschung. Angeblich kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in der Karibik einen Wirbelsturm über China auslösen. Wer könnte da verlässliche Vorhersagen erwarten? Britischen Wissenschaftlern zufolge dürfen wir trotzdem auf korrekte Prognosen hoffen. Die Forscher analysierten die Fehler des Wetterberichts statistisch und kamen zum Schluss, dass der Schmetterlingseffekt an den meisten Fehlprognosen unschuldig ist. Falsche Vorhersagen gehen demnach in der Regel auf Fehler im Rechenmodell zurück. Und die ließen sich – anders als die Resultate der Chaostheorie – ausbügeln. Die Prognosen könnten für mindestens drei Tage, vielleicht sogar für mehr als eine Woche nahezu perfekt sein, glaubt David Orrell, Mathematiker am University College in London: „Heute vertraue ich dem lokalen Wetterbericht höchstens für den nächsten oder übernächsten Tag.“ Als Edward Lorenz 1963 seinen Computer mit Wetterdaten fütterte, um eine Vorhersage zu berechnen, machte der US-amerikanische Meteorologe eine seltsame Entdeckung. Weil die Rechner damals noch sehr langsam waren, rundete er die Zahlen auf höchstens drei Stellen hinterm Komma. Und da er dem Resultat misstraute, machte er einen zweiten Durchlauf, bei dem er mit den gerundeten Zwischenergebnissen startete. Die beiden Ergebnisse hatten wenig gemein. Der Grund: Der Rechner arbeitete intern mit mehr als drei Stellen hinter dem Komma. Dieser geringe Unterschied – entsprechend einem zusätzlichen Windhauch – hatte sich hochgeschaukelt und in kurzer Zeit die Prognose durcheinander gewirbelt. Damit war der Schmetterlingseffekt geboren. Seitdem haben die Wetterfrösche eine perfekte Ausrede, wenn sie wieder mal daneben lagen. Doch damit könnte es nun vorbei sein. Weder Orrell noch seine Mitstreiter bezweifeln die Chaostheorie. Doch sie sind überzeugt, dass der Schmetterlingseffekt für Prognosen bis zu einer Woche kaum eine Rolle spielt. Das Problem liege in den Modellen der Meteorologen, also jenen komplizierten Gleichungen, welche die Vorgänge in den fünf Billiarden Tonnen Luft um die Erde erfassen sollen. Um verlässlichere Aussagen zu bekommen, rechnen die Meteorologen vom Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage im englischen Reading die Entwicklung mit jeweils leicht veränderten Anfangswerten mehrmals durch. Anschließend bilden sie Mittelwerte, um vom Chaos verursachte Ausreißer zu eliminieren. So lässt sich der Schmetterlingseffekt austricksen. Orrells Team analysierte die verschiedenen Rechenläufe. Wäre die empfindliche Abhängigkeit der Prognosen von den Randbedingungen, wie sie die Chaostheorie beschreibt, der einzige Fehler, dann müssten die Ergebnisse um das wirkliche Wetter streuen. Dies war aber nicht der Fall. Manchmal kamen bei allen Durchläufen unabhängig von den Anfangsgrößen Werte heraus, die weit neben den später gemessenen lagen. Daraus schloss Orrell, dass fehlerhafte Modelle die Abweichungen verursachen. Überdies ließen sich die Fehlerquellen in der zeitlichen Entwicklung unterscheiden: Vom Schmetterlingseffekt verursachte Abweichungen sind zunächst klein, nehmen dann aber rapide zu. Unstimmigkeiten im Modell machen sich hingegen schon bei der Prognose für den folgenden Tag bemerkbar, dafür wachsen sie später nicht so schnell an. Orrell trug den Vorhersage-Fehler über der Zeit auf. Es ergab sich eine Kurve, die jener stark ähnelte, die nach seinen mathematischen Überlegungen der Modell-Fehler nach sich ziehen sollte. „Sie sah überhaupt nicht so aus wie die exponentielle Kurve, die man beim Schmetterlingseffekt erwarten sollte.“ Orrells Fazit: 90 Prozent aller Vorhersage-Fehler für die ersten 72 Stunden rührten von den Ungenauigkeiten der Modelle her. Für ihre Simulationen legen die Meteorologen ein Netz über die Erde und bestimmen Daten wie Temperatur, Druck oder Feuchtigkeit nur an den Knotenpunkten. Der engste Abstand zwischen benachbarten Knoten, für die der Deutsche Wetterdienst (DWD) in Offenbach die Werte bestimmt, beträgt sieben Kilometer. Globale Modelle arbeiten mit Maschenweiten von 50 bis einigen 100 Kilometern. Alles, was zwischen den Gitterpunkten passiert, entgeht dieser Rechenmethode. Kleinräumige Ereignisse wie Gewitter, Wolkenbildung und Regen werden daher geschätzt. Auch der Austausch zwischen Boden und Luft geht zu wenig in die Simulationen ein. Im Wald etwa ist die Verdunstung weit größer als über bebauten Flächen. Die Topografie der Landschaft kommt in den Modellen ebenfalls zu kurz: Berge und Hügel werden bestenfalls grob dargestellt. „Die Oberflächentemperaturen der Ozeane aktualisieren wir im Computer nur alle sieben Tage“, ergänzt Detlev Majewski, Referatsleiter Numerische Modelle beim DWD. Dabei friert die Ostsee zuweilen im Winter binnen zweier Tage zu – mit entsprechenden Auswirkungen auf das lokale Klima. Dass die Modelle alles andere als perfekt sind, gibt Majewski zu. Orrells Arbeit überzeugt ihn dennoch nicht: „Das geht hin und her wie ein Pendel. Mal gilt der Modell-Fehler als wichtiger, mal der Schmetterlingseffekt.“ Dabei hänge viel davon ab, was man eigentlich vorhersagen wolle. „Für Temperatur und Feuchte in Bodennähe spielt die Qualität der Modelle ein große Rolle“, urteilt der Meteorologe. Denn jede Mulde habe ihre eigenen Bedingungen, die Maschenweite müsse entsprechend sehr klein sein. Um großräumige Hoch- und Tiefdruckgebiete von mehreren tausend Kilometern Ausdehnung zu erfassen, sei hingegen oft der Anfangszustand entscheidend. Zudem ließen sich die beiden Fehlerquellen kaum trennen. Über den Meeren etwa reichte für viele Simulationen die Dichte der Messstationen nicht, um eine Prognose zu erstellen. Deshalb berechneten die Meteorologen mit ihren Modellen Schätzwerte für die Anfangsbedingungen. Orrells These, bei Vorhersagen bis zu drei Tagen käme nahezu ausschließlich der Modell-Fehler zum Tragen, widerlegt für Majewski Orkan „Lothar“, der zu Weihnachten 1999 über Deutschland tobte. Obwohl die Simulationen an Heiligabend um 13 Uhr noch orkanartige Stürme für 48 Stunden später ergeben hätten, sei „Lothar“ in der offiziellen DWD-Prognose nicht aufgetaucht: „Die nur 90 Minuten später gestartete Vorhersage ergab eine ganz andere Wetterlage, nämlich einen Sturm über Westengland.“ Die Ursache für die Differenz lag in leicht geänderten Daten eines Starkwindbands zehn Kilometer über dem Atlantik. Zwar habe man damals Probleme mit einem neu eingeführten Simulationsmodell gehabt, räumt der Offenbacher ein (bild der wissenschaft 9/2000, „Wie sturmfest ist Deutschland?“), doch hätten auch andere europäische Wetterdienste „Lothar“ nicht vorhergesehen. Majewski: „Der Flügelschlag des Schmetterlings kann also doch über 4000 Kilometer entfernt Sachschäden in Milliardenhöhe verursachen.“ Andere Forscher sehen Orrells Arbeit hingegen positiver, etwa Joseph Hrgovcic, der Experte für die Absicherung gegen Wetterrisiken bei der US-Firma Enron war: „Ich stimme zu, dass Modellfehler die Abweichungen dominieren.“ In den vergangenen Jahren seien viele Forschungsmittel geflossen, um das Problem mit den Anfangswerten in den Griff zu bekommen, sagt Orrell. Vielen Meteorologen falle es deshalb schwer einzugestehen, dass der Hauptfehler in den Modellen zu suchen sei. Dabei müsse sich dafür niemand schämen: „Die Atmosphäre der Erde zu modellieren ist eine der schwierigsten Rechenaufgaben überhaupt.“

Wolfgang Blum

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