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Der Fortschritt ist eine Schnecke

Allgemein

Der Fortschritt ist eine Schnecke
Seit langem ist der Verkehrsinfarkt in aller Munde. Bis vor wenigen Jahren hoffte man die Probleme mit moderner Technik in den Griff zu bekommen. Doch die Verkehrstelematik hat die Hoffnungen bislang nicht erfüllt. Neue Konzepte sollen das ändern.

Das Auto ist nach wie vor des Deutschen liebstes Kind. So belegt eine Studie des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin, dass die Mehrheit der Bundesbürger möglichst freie Fahrt mit dem eigenen Wagen wünscht. Die Folgen: Auch in Gebieten, in denen der öffentliche Nahverkehr großzügig ausgebaut wurde, hat der Individualverkehr weiter zugenommen. Beim Güterverkehr ist eine Verlagerung der Warentransporte von der Straße auf die Schiene ebenfalls nicht feststellbar. In den nächsten 10 bis 15 Jahren wird der Güterverkehr um 60 Prozent und der Pkw-Verkehr um 20 bis 25 Prozent zunehmen, sagen aktuelle Prognosen voraus. Die Verkehrsteilnehmer müssten sich dann daran gewöhnen, dass die Staus in den Städten und auf den Fernstraßen immer länger werden. Visionäre hofften Anfang der neunziger Jahre, die Probleme auf den verstopften Straßen mit moderner Technik in den Griff zu bekommen. „Man dachte, die Verkehrstelematik sei der Königsweg zur Lösung der Probleme. Jetzt hat sich Ernüchterung breit gemacht“, sagt Dr. Günther Nirschl vom Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme in Dresden. Verkehrstelematik – das ist ein weites Feld und ein wässriger Begriff. Ihr Ziel ist es, Verkehrsdaten mit einem einheitlichen System zu erfassen, zu verarbeiten und an die Verkehrsteilnehmer weiterzugeben. Diese Aufgabe wird in drei Schritten bewältigt: Die Daten über den momentanen Verkehrsfluss werden erfasst. Ein mathematisches Modell erstellt daraus Prognosen über die weitere Verkehrsentwicklung. Anhand dieser Vorhersagen wird der Verkehr so gesteuert, dass Staus möglichst vermieden werden. Für genaue Verkehrsprognosen muss der momentane Verkehr möglichst exakt und lückenlos erfasst werden. Um dies zu erreichen, gibt es verschiedene Konzepte. Eine Möglichkeit ist es, den Verkehr über Sensoren an den Straßen zu registrieren. „Monet“ heißt ein Modell, das von Siemens entwickelt wurde. Es berechnet aus den Messdaten der Sensoren lückenlos den Verkehrsfluss für alle Straßen. Je mehr Sensoren zur Verfügung stehen, desto genauer fällt die Berechnung aus. Das Konzept „Floating Car Data“ verwendet deshalb Daten, die direkt aus den Fahrzeugen ermittelt werden. Die momentane Position, die das Navigationssystem eines Wagens ermittelt, wird zusammen mit der aktuellen Geschwindigkeit per Funk an eine Zentrale übermittelt. Je mehr Fahrzeuge an dem Programm teilnehmen, desto präziser lässt sich der Verkehrsfluss modellieren – und umso genauere Prognosen über seine weitere Entwicklung sind möglich. Laut Schätzungen reicht es für die Ermittlung aussagekräftiger Werte aus, wenn zwischen ein und fünf Prozent aller Fahrzeuge Daten über Position und Geschwindigkeit an die Zentrale liefern. Seit November 2001 melden alle Pkw der Bayerischen Motorenwerke, die mit einem Telematikdienst ausgerüstet sind, entsprechende Daten an das Floating Car Data-System. Die Daten werden gesammelt, weiterverarbeitet, und Meldungen zum Verkehr werden umgehend als Kurznachricht (SMS) via Autotelefon an das Navigationssystem der BMW-Fahrzeuge weitergeleitet. Wegen der zunehmenden Verbreitung von Telematik-Endgeräten ist man bei BMW optimistisch, dass die Zahl der Fahrzeuge, die an dem System teilnehmen, schnell zunehmen wird. Neue Wege testet das derzeit größte Forschungsvorhaben zum Verkehrsmanagement: das nordrhein-westfälische Projekt „Ruhrpilot“ . Zurzeit befindet es sich noch in der Vorbereitungsphase. Die Verkehrsströme sollen dabei über vorhandene und noch zu installierende Zählschleifen in den Straßen erfasst und über ein schnelles und effizientes mathematisches Modell vorausberechnet werden. Anhand dieser Prognose soll der Verkehr zum Beispiel über elektronische Anzeigetafeln am Straßenrand gesteuert werden. „ Wichtig ist vor allem die Zuverlässigkeit, damit die Verkehrsteilnehmer Vertrauen in ein solches System gewinnen und seine Ratschläge auch befolgen“, sagt der Stauforscher Prof. Michael Schreckenberg vom Fachbereich Physik und Verkehr der Universität Duisburg. Das zentrale Problem von Telematik-systemen ist nicht das Erfassen des Verkehrsflusses, sondern die Berechnung seiner weiteren Entwicklung, um den Autofahrern Tipps für ihre Routenplanung zu geben. Wo der Verkehr eben noch flüssig war, kann sich Minuten später aus kleinstem Anlass ein Stau bilden, etwa durch einen Unfall oder ein Pannenfahrzeug. Diese Schwierigkeit wollen Wissenschaftler der Bonner Fraunhofer-Institute für Autonome Intelligente Systeme und Verkehrs- und Infrastruktursysteme in einem Projekt in der Region Bonn berücksichtigen. Gemeinsam mit der Stadt errichten sie dort seit einigen Monaten das Mobilitätsmanagement-System City-Traffic. Es liefert in Echtzeit ein flächendeckendes, maßstabs- und funktionsgetreues elektronisches Abbild des Verkehrs im gesamten Bonner Raum. Dabei bezieht City-Traffic alle für den Verkehrsfluss wichtigen Daten mit ein: Verkehrszeichen, Einbahnstraßen, Kreuzungen, Baustellen, Sonderspuren für Busse oder Taxis, Haltestellen und Geschwindigkeitsbegrenzungen. Aktuelle Informationen liefern Ampelsensoren und Induktionsschleifen in den Straßen. Sie erfassen, wie viele Autos, Busse und Fahrradfahrer unterwegs sind. Das Entscheidende an dem System: Es beschreibt nicht nur das aktuelle Verkehrsgeschehen, sondern rechnet außerdem hoch, wie sich die Lage weiterentwickeln wird. Möglich wird dies durch die Verbindung des aus zahlreichen Sensoren bestehenden Überwachungssystems mit einer Simulation des Verkehrsablaufs. Alle Verkehrsteilnehmer – Fußgänger, Autofahrer und Fahrgäste des öffentlichen Nahverkehrs – werden durch hunderttausende von Software-Agenten im Computer simuliert, die sich nach festen Regeln in der virtuellen Stadt bewegen. Die Agenten werden ständig mit der Realität synchronisiert. „Das digitale Modell ist so lebensecht, dass sogar bei starkem Verkehr Prognosen für die nächsten 15 Minuten möglich sind“, schwärmt Uwe Beyer vom Fraunhofer-Institut für Autonome Intelligente Systeme. Wenn City-Traffic komplett installiert ist, können sich Autofahrer vor Fahrtantritt informieren, welche Strecke die schnellste ist, versprechen die Fraunhofer-Forscher. Per SMS oder per E-Mail wird das System die günstigste Route vorstellen. Dynamische Navigationssysteme, die die aktuelle Verkehrslage berücksichtigen, werden bereits seit einigen Jahren angeboten. Nach Eingabe der geplanten Fahrtroute empfängt das jeweilige System über digitalen Verkehrsfunk aktuelle Informationen zum Verkehrsfluss und arbeitet bei Stau eine Alternativroute aus. Blaupunkt etwa bietet ein solches System unter dem Namen TravelPilot DX-N zum Preis von rund 2000 Euro an. Mit dem erweiterten Modell TravelPilot DX-N Online kann man zusätzliche Telematikdienste, zum Beispiel des ADAC, abrufen. Das Problem bei allen solchen Diensten: Sie befinden sich in privater Hand und sind aus Kostengründen ein Privileg für die automobile Oberklasse. Versuche der Politiker, solche Systeme auch dem Normalverbraucher zugänglich zu machen, oder Ansätze für die Entwicklung einheitlicher technischer Standards gibt es bisher nicht. Überwiegend gute Erfahrungen hat man in den vergangenen Jahren mit technisch relativ einfachen Verkehrstelematik-Systemen gemacht. Ein Beispiel: Rund tausend Autobahnkilometer sind bundesweit mit Wechselverkehrszeichen ausgerüstet. Der Verkehr wird hier mit Sensoren überwacht und je nach Situation gesteuert, etwa durch unterschiedliche Geschwindigkeitsbegrenzungen für die einzelnen Fahrspuren oder Überholverbote für Lkw. Dadurch lassen sich Staus und Unfälle nachweislich um bis zu 30 Prozent reduzieren. Die von Verkehrstelematik-Systemen erhoffte Umweltentlastung fällt nach Berechnungen des Baseler Prognos Instituts dagegen kaum ins Gewicht. Die Prognos-Forscher untersuchten die ökologischen Effekte von bereits installierten Verkehrsleitsystemen in Köln und im Rhein-Main-Gebiet. Umweltpolitisch ist ihr Ergebnis ernüchternd: Systeme, die dazu beitragen, den Verkehr flüssiger zu machen, gestalten das Autofahren attraktiver, locken zusätzlichen Verkehr an – und können dadurch den Ausstoß von Schadstoffen und den Verkehrslärm sogar noch erhöhen. Ökologisch gesehen ist der Einsatz von Telematik-Systemen deshalb nur sinnvoll, wenn sie helfen, Verkehr zu vermeiden – etwa indem sie Leerfahrten von Lkw überflüssig machen und Transportwege optimieren. Obwohl Deutschland bei Entwicklung und Einsatz der Technologie der Verkehrstelematik ganz vorne mitmischt, ist an eine schnelle und effektive Umsetzung eines einheitlichen Konzepts derzeit nicht zu denken. „ Es gibt viele Projekte und Systeme. Sie sind aber wenig effektiv, da sie nicht verbraucherorientiert entwickelt wurden und nicht zuverlässig genug sind“, urteilt der Duisburger Stauforscher Schreckenberg.

Kompakt

Voraussetzung für verlässliche Verkehrsprognosen ist eine möglichst exakte und lückenlose Kenntnis des aktuellen Verkehrs. Ein Konzept dazu ist das Floating Car Data-System, bei dem aus Messdaten einzelner Fahrzeuge auf den gesamten Verkehr hochgerechnet wird. Fraunhofer-Forscher simulieren den Verkehr im Großraum Bonn detailliert am Rechner. Das Ziel sind zuverlässige Stauvorhersagen. Die Probleme bei den derzeitigen Telematiksystemen: Sie sind teuer und verfügen über keine einheitlichen technischen Standards.

Fliegende Verkehrsspäher

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Um Verkehrsströme mit Telematik-Systemen sinnvoll lenken zu können, ist eine möglichst genaue Kenntnis des aktuellen Verkehrs entscheidend. Bisher wird dies meist durch automatische Zählstationen an Brücken oder markanten Kreuzungen erreicht. Zur Erfassung der Verkehrslage auf Autobahnen hat sich diese Methode gut bewährt, auf anderen Straßennetzen und in Ballungsräumen ist sie jedoch aufwändig und wird weltweit nur in wenigen Metropolen wie Paris und Tokio praktiziert. Für Abhilfe soll das Floating Car Data-Verfahren sorgen, bei dem aus dem Fahrtverlauf einzelner Fahrzeuge auf den Verkehrszustand in deren Umfeld geschlossen wird. Bevor er wirkungsvoll eingesetzt werden kann, müssen aber ausreichend viele Fahrzeuge mit Erfassungsgeräten ausgestattet werden. Außerdem fehlt es derzeit noch an geeigneten Algorithmen zur Datenauswertung von großflächigen Verkehrsnetzen. „Und man erhält mit solchen Systemen lediglich ein imaginäres Abbild des Verkehrsgeschehens, da von einzelnen Messdaten auf den gesamten Verkehr hochgerechnet wird“, nennt Prof. Frithjof Voss vom Institut für Geographie der Technischen Universität Berlin ein weiteres Manko. „Ein umfassender Überblick über den realen Verkehr ist prinzipiell nur aus der Luft möglich.“ Aus dieser Not haben Voss und seine Mitarbeiter eine Tugend gemacht – und gemeinsam mit der Berliner BMW Group Verkehrskonzepte ein Verfahren zur Erfassung der Verkehrslage vom Flugzeug aus entwickelt. Dabei werden aus einigen hundert Metern Höhe mit einer digitalen Thermal-Infrarotkamera mehrere hochaufgelöste Bilder pro Sekunde aufgenommen und zu einer Empfangsstation am Boden gesendet. Dort wertet ein Rechner die Daten elektronisch aus und listet für bestimmte Straßenabschnitte die genaue Zahl der Fahrzeuge auf. Dabei wird zwischen drei Gruppen – Pkw, Transportern und Lkw sowie Bussen – unterschieden. Aus den Infrarotaufnahmen ermittelt der Computer die aktuelle Verkehrsdichte und erkennt, ob der Verkehr fließt, stockt oder sich staut. Ein Vorteil der Erfassung aus der Luft: Auch parkende Fahrzeuge werden erkannt. Anders als mit einer Videokamera lässt sich die Thermal-Infrarottechnik auch nachts und bei schlechtem Wetter einsetzen. „Kern des Verfahrens ist ein mathematischer Algorithmus zur Bildauswertung“, erklärt Frithjof Voss. Die Software erkennt die Fahrzeuge anhand ihrer spezifischen Eigenschaften wie Größe, Gestalt oder Wärmeabstrahlung. „Um die Autos vom Straßenbelag zu unterscheiden, genügt ein Temperaturunterschied von wenigen Zehntel Grad“, sagt Voss. Außerdem erleichtert der unterschiedliche Abstrahlwinkel der Wärme die Unterscheidung von der Umgebung. In einem Pilotprojekt wollen die Forscher der BMW Group und des Anwendungszentrums Intermodale Verkehrstelematik in Berlin in den kommenden Jahren untersuchen, ob und wie sich das Verfahren wirtschaftlich einsetzen lässt. Wegen der hohen Kosten für die Flüge eignet es sich wohl vor allem zur Verkehrserfassung bei Großereignissen wie Messen, Demonstrationen oder Sportveranstaltungen.

Sebastian Moser Ralf Butscher

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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Nar|zis|se  〈f. 19; Bot.〉 Angehörige einer Gattung der Amaryllisgewächse, Zwiebelgewächs mit schmalen linealischen Blättern, hohlem Blütenschaft u. ansehnlichen weißen od. gelben Blüten: Narcissus [<lat. narcissus; … mehr

neu|mo|disch  〈Adj.; meist abwertend〉 modern, der neuesten Mode entsprechend ● ~er Quatsch

♦ Hy|dro|gen|car|bo|na|te  〈Pl.; Chem.〉 Salze der Kohlensäure, in denen nur eines der beiden Wasserstoffatome durch Metall ersetzt ist, z. B. Natriumhydrogencarbonat; Sy Bicarbonate … mehr

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