Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Und die Erde ist eine Scheibe!

Erde|Umwelt

Und die Erde ist eine Scheibe!
Kreationisten wollen die Schöpfungsgeschichte als Wissenschaft verkaufen. Allein, ihnen fehlt der Beweis.

Kansas/USA, November 1999: Die Evolutionsbiologie wird aus den Unterrichtsplänen entfernt. Für aufgeklärte Europäer wirkte die Entscheidung des Schulrats wie ein Stück zurückgekehrtes Mittelalter. Was anfangs nur eine Provinzposse zu sein schien, hat in den USA inzwischen immer weitere Kreise gezogen. Andere Schulräte haben ähnliche Beschlüsse gefasst. Und auf Druck radikaler religiöser Gruppen stellt sogar das angesehene Smithsonian Naturkundemuseum in Washington die biblische Genesis als den Ursprung der Welt und des Lebens vor.

Fundamentalistische Christen, die die Evolutionstheorie ablehnen, haben in den USA seit jeher viele Anhänger („(K)ein Platz für Gott“, bild der wissenschaft 12/1999). Doch für eine Massenbewegung ist das Weltbild dieser Kreationisten zu schlicht: Sie nehmen die Bibel wörtlich – und dass die Welt in sechs Tagen entstanden sein soll, ist für die meisten Christen nicht glaubwürdiger als die Behauptung, dass die Erde eine Scheibe sei.

Dass die Schöpfungsgläubigen trotzdem so erfolgreich sind, liegt an ihrem gekonnten Auftritt: Sie haben von den Biologen Inhalte und Begriffe übernommen, sie verbreiten ihre Ideen übers Internet, in Ausstellungen und Filmen – und sie behaupten, dass sie eine Wissenschaft betreiben. Das ist in den USA besonders wichtig. In diesem Land mit seinen vielen Religionen sind Staat und Glaube streng getrennt. In staatlichen Schulen dürfen keine religiösen Inhalte vermittelt werden. Wenn es aber einer Glaubensgruppe gelingt, ihre Überzeugung als Wissenschaft zu verkaufen, kann sie darauf pochen, dass ihre Botschaft in Schulen gelehrt wird.

Intelligent Design (ID) nennen die modernen Kreationisten ihr Konzept. Im Gegensatz zu traditionellen Kreationisten leugnen sie nicht die Ergebnisse der letzten 150 Jahre aus Geologie, Paläontologie, Molekularbiologie und Evolutionsforschung, sondern picken sich heraus, was in ihr Weltbild passt. Sogar die Evolution kommt darin vor. Dass sich die Tier- und Pflanzenwelt ständig verändert, ist auch für sie nicht zu übersehen. Aber ID-Anhänger behaupten, dass die Welt von einem intelligenten Designer geschaffen wurde, der immer wieder in die Schöpfung eingreife und ihr die entscheidenden Impulse gebe. Ihr Credo: Es gibt zwar eine Mikroevolution – also die Anpassung der Lebewesen an sich ändernde Umweltbedingungen –, aber keine Makroevolution, bei der neue Arten entstehen. Zudem behaupten sie, dass die Darwin’sche Evolutionstheorie nur eine unbewiesene Hypothese sei. Für Naturwissenschaftler ist das eine lächerliche Unterstellung, da es sich bei der Evolutionstheorie um eine zentrale Säule der modernen Biologie handelt – und kaum eine andere Theorie in der Lebenswissenschaft so gut belegt ist, wie Axel Meyer, Professor für Evolutionsbiologie an der Universität Konstanz, betont.

Anzeige

Die Argumentationsschiene der Anti-Evolutionisten ist immer dieselbe: Sie nehmen sich Phänomene aus der Natur vor – zum Beispiel das Auge oder die Flugfedern der Vögel – und sagen: Das ist so genial und kompliziert, das kann nicht durch Zufall entstanden sein, ein intelligentes Wesen muss nachgeholfen haben. Dabei behauptet natürlich kein seriöser Evolutionsforscher, dass diese natürlichen Errungenschaften plötzlich auf die Welt kamen. Sie entwickelten sich vielmehr Stück für Stück. So zeigen jüngste Fossilienfunde, dass es schon lange vor den Vögeln Saurier mit Federn gab – noch nicht zum Fliegen, aber als Schutz vor Kälte. Und die moderne Gen-Forschung entdeckte in den letzten Jahren viele verschiedene Mutationen, durch die sich die Erbinformation positiv veränderte, zum Beispiel Gen-Verdoppelungen oder Veränderungen bei der Steuerung von Genen. So haben Mensch und Schimpanse viele identische Gene, aber diese unterscheiden sich in der Menge, in der sie in Aktion treten, und im Zeitpunkt, zu dem dies geschieht (siehe auch anschließendes Interview „ Kreationisten pervertieren die Wissenschaft“).

Wortführer des modernen Kreationismus ist in Deutschland die „ Studiengemeinschaft Wort und Wissen“ im baden-württembergischen Baiersbronn. Ihr Geschäftsstellenleiter Reinhard Junker und ihr Vorsitzender Siegfried Scherer, Professor für Mikrobiologie an der Universität München, haben schon vor 20 Jahren die erste Auflage von „Evolution – ein kritisches Lehrbuch“ herausgebraucht. Es ist eine Mischung aus anerkanntem biologischen Wissen und Glaubensinhalten, enthält dabei viele gut gemachte Grafiken und wirkt wie ein normales Schulbuch. Inzwischen ist es in der sechsten Auflage erschienen. Im Herbst letzten Jahres wurde es vom religiösen „Kuratorium Deutscher Schulbuchpreis“ ausgezeichnet. Die Laudatio hielt pikanterweise der Ministerpräsident von Thüringen Dieter Althaus. Er empfahl das Buch sogar für den Biologieunterricht. Diese Ereignisse brachten die Kreationisten in die Nachrichtensendung „heute“ und in die Tagespresse. Dem Magazin „Der Spiegel“ waren sie sogar eine Titelgeschichte wert.

Ein weiteren Erfolg verzeichneten Scherer und seinen Anhänger schon 1998. Sie brachten die Wissenschafts(!)redaktion des Senders Freies Berlin (SFB) dazu, einen journalistisch gemachten Werbefilm für Intelligent Design mit dem Titel „Hat die Bibel doch Recht? Der Evolutionsbiologie fehlen die Beweise“ zu senden. Der Film lief allerdings nur einmal und verschwand nach Protesten von Wissenschaftlern im Archiv des SFB.

Allen modernen Kreationisten gemeinsam ist das intelligente und zeitgemäß präsentierte Informationsmaterial. Es wirkt seriös – und auf den ersten Blick fallen einem Laien die Ungereimtheiten kaum auf. Doch trotz dieser guten Öffentlichkeitsarbeit haben alle Kreationisten ein großes Problem: Es gibt keinerlei Beweise für ihre Theorie eines intelligenten Designers. Einige ID-Protagonisten arbeiten zwar – wie Scherer – an Forschungseinrichtungen, doch ihr Geld verdienen sie nicht mit Evolutionsforschung und sie haben es nicht geschafft, ID-Inhalte in angesehenen Forschungsfachblättern zu veröffentlichen, was in Wissenschaftskreisen der „Ritterschlag“ für eine Hypothese ist.

Aufgrund dieses Faktenmangels haben an den Universitäten in Deutschland genau wie in den USA weder Theologen noch Biologen Interesse, sich mit ID-Thesen auseinander zu setzen. „Ich lehre zwar an der größten baptistischen Universität der Welt und bin religiös. Aber trotzdem ist es meine Grundüberzeugung, dass Intelligent Design nichts in einem wissenschaftlichen Seminar zu suchen hat“, meinte Derek Dawson, Leiter des Instituts für Kirche-Staat-Forschungen an der texanischen Baylor University, in der New York Times.

Auch Organisationen, die den IDlern anfangs offen gegenüber standen, sind vorsichtig geworden. Zum Beispiel die Templeton Foundation, eine US-Stiftung, die Religion und Wissenschaft zusammenbringen will und entsprechende Projekte finanziell unterstützt. Sie hatte Intelligent-Design-Kreationisten um Vorschläge für Forschungsvorhaben gebeten. „Es kamen keine“, sagte Charles L. Harper, Vizepräsident der Foundation, in der New York Times. „Was strikte Wissenschaft und intellektuelle Ernsthaftigkeit angeht, passen die Intelligent-Design-Leute nicht in die Welt wissenschaftlicher Überprüfbarkeit.“

In den USA gelang besorgten Eltern kurz vor Weihnachten ein Gegenschlag. Im Städtchen Dover in Pennsylvania hatten sie gegen den Beschluss des örtlichen Schulrats geklagt, der vorsah, Intelligent Design als wissenschaftliche Alternative im Unterricht vorzustellen. Bundesrichter John Jones, Mitglied der republikanischen Partei und vor vier Jahren vom ID-Anhänger George W. Bush ernannt, fegte den Beschluss vom Tisch. Für ihn war dabei entscheidend, dass „Intelligent Design von der wissenschaftlichen Welt nicht akzeptiert wird, keine wissenschaftlich überprüften Ergebnisse veröffentlicht und nicht Gegenstand von Versuch und Forschung ist“. Fazit: ID ist Glaubenssache und hat somit nichts im Biologieunterricht zu suchen. In seiner Begründung fand Jones sehr klare Worte. Er nannte den Beschluss des Schulrats eine „atemberaubende Dummheit“ . ■

Thomas Willke

COMMUNITY Lesen

Kompaktes Standardwerk zur Evolutionsbiologie mit vielen Fakten und einer ausführlichen Kritik des Kreationismus:

Ulrich Kutschera

Evolutionsbiologie

Ulmer/UTB, Stuttgart 2006, 2. Aufl., € 39,90

Detaillierte Auseinandersetzung mit der „Intelligent Design“ -Szene in den USA und Deutschland, Hintergründe zum Kreationismus und historische Einordnung:

Ulrich Kutschera

Streitpunkt Evolution

Lit-Verlag, Münster 2004, € 19,90

Das moderne Welt- und Menschenbild im Einklang mit der Evolutionstheorie:

Michael Schmidt-Salomon

Manifest des evolutionären Humanismus

Alibri, Aschaffenburg 2005, € 10,–

Die Evolution des Auges ist nach Ansicht von Kreationisten völlig unbelegt und darum ein Beweis für die Schöpfung. In bild der wissenschaft berichteten Biologen das Gegenteil in Heft 06/2002:

www.wissenschaft.de/bdw

Internet

Website der Arbeitsgemeinschaft Evolutionsbiologie des Verbands Deutscher Biologen:

www.evolutionsbiologen.de

Viele Argumente zur Diskussion mit Kreationisten liefert die amerikanische Homepage Origins.talk:

www.talkorigins.org

Vertreter des modernen Kreationismus in Deutschland ist die „ Studiengemeinschaft Wort und Wissen“:

www.wort-und-wissen.de

und in den USA das „Discovery Institute“:

www.discovery.org

Die „Church of the Flying Spaghetti Monster“ verlangt, dass ihre Ideen von der Erschaffung der Welt als Wissenschaft in den Schulen von Kansas gelehrt werden. Eine Satire auf kreationistische Argumentationsmethoden:

www.venganza.org

AUSSTELLUNG

Die wissenschaftlich fundierte Ausstellung

„Evolution. Wege des Lebens“

ist noch bis zum 23. Juli 2006 zu sehen:

Deutsches Hygiene-Museum

Lingnerplatz 1

01069 Dresden

0351 | 4846–0

www.dhmd.de

„Kreationisten pervertieren die Wissenschaft“

bild der wissenschaft: In den USA sind die Kreationisten auf dem Vormarsch. Wie ist das möglich in einem Land, das weltweit an der Spitze der naturwissenschaftlichen Forschung steht?

Ulrich Kutschera: Im „Land der Biowissenschaften“ gibt es bekanntlich keinen staatlichen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Aus diesem Grund versuchen evangelikale Christen, die ein wörtliches Bibelverständnis propagieren, die Schöpfungsgeschichte als Konkurrenz-Konzept zur Evolutionstheorie im Biologieunterricht zu verankern. Diese Kreationisten, die sich seit 1990 meist als „Intelligent Design (ID)-Theoretiker“ bezeichnen, lassen sich durch Sachargumente nicht überzeugen. Meine Kollegen vom National Center for Science Education (Berkeley, USA) bekämpfen diese wissenschaftsfeindlichen Tendenzen und haben bis zum heutigen Tag sämtliche Gerichtsurteile für die Kreationisten revidieren können: Im Dezember 2005 hat ein von US-Präsident George W. Bush eingesetzter Bundesrichter entschieden, dass die „ID-Theorie“ keine Wissenschaft darstellt und daher nicht im Biologieunterricht gelehrt werden darf. Am Ende hat somit immer die Vernunft gesiegt.

bdw: Wie ist die Lage in Deutschland?

Kutschera: Während in den USA über 50 Prozent der Bevölkerung an die biblische Schöpfungsgeschichte glauben, haben wir in Deutschland nur etwa 20 Prozent überzeugte Kreationisten. Evolutionsgegner, die in der Regel christlich-religiösen Sekten oder evangelikalen Freikirchen angegliedert sind, versuchen seit Jahren über ein so genanntes evolutionskritisches Biologiebuch, Filme, DVDs, Internet-Seiten und verschiedene Zeitschriften den biblischen Schöpfungsglauben als Alternative zur modernen Evolutionstheorie der Jugend näher zu bringen. In meinen beiden aktuellen Büchern habe ich die „Szene“ und deren Strategien im Detail beschrieben und dafür wenig Lob erhalten. Im Internet werde ich von bibeltreuen Christen, die als Senior-Postdoktoranden auf Lebenszeit an einem Max-Planck-Institut beschäftigt sind, als „Terrorist“, „Stalinist“ und „DDR-Kommunist“ bezeichnet. Erstaunlicherweise werden diese öffentlichen Beleidigungen meiner Person vom Arbeitgeber dieser wissenschaftlichen Mitarbeiter hingenommen.

bdw: Für Kreationisten und Evolutionskritiker ist die Evolutionstheorie genau das: nur eine Theorie, keine Tatsache. Wie berechtigt ist diese Kritik?

Kutschera: Als Charles Darwin 1859 seine Deszendenztheorie (Abstammungs-lehre) publizierte, war das Prinzip „Abstammung mit Abänderung“ – heute als Evolution bezeichnet – in der Tat noch hypothetischer Natur. Heute wissen wir, dass alle Lebewesen der Erde die derzeitigen Endglieder Jahrmillionen langer Abstammungsreihen sind, das heißt Evolution hat stattgefunden und dauert an. Dies ist durch viele Tausend Fachpublikationen belegt. Die moderne synthetische Theorie der biologischen Evolution beschreibt und erklärt diesen realhistorischen Prozess. Evolution als bloße Theorie zu bezeichnen ist etwa so naiv, als würde man den Atomen die reale Existenz absprechen, weil John Dalton 1808 die Atomtheorie formuliert hat.

bdw: Welche Belege überzeugen besonders?

Kutschera: Zunächst die Mitochondrien und Chloroplasten als „ domestizierte“ Bakterien in den Zellen von Tieren und Pflanzen, außerdem mehrere Hundert publizierte DNA-Sequenz-Stammbäume, die in der Regel mit morphologischen Daten übereinstimmen – und Fossilreihen, die graduelle Großübergänge dokumentieren, zum Beispiel die Abstammung der Wale von Huftieren oder die Evolution der Vögel, ausgehend von gefiederten Dinosauriern. Als Mitglied der European Society for Evolutionary Biology und Mitherausgeber mehrerer englischsprachiger Fachzeitschriften kann ich Ihnen versichern, dass ein Manuskript mit dem Titel „Ein neuer Evolutionsbeweis“ heutzutage nicht mehr veröffentlicht werden könnte, da es sich hierbei um eine Selbstverständlichkeit handelt.

bdw: Aber es gibt doch viele Probleme und offene Fragen, auch heftige Kontroversen unter den Evolutionsbiologen selbst?

Kutschera: Zu den offenen Fragen der Evolutionsforschung zählt der exakte Mechanismus der Artbildung – gibt es beispielsweise Speziations-Gene? – oder die Herkunft des Zellkerns. Dennoch zweifelt kein seriöser Forscher am Faktum Evolution. Offene Fragen, die zu kontroversen Diskussionen führen, gibt es nicht nur in der Evolutionsbiologie, sondern auch in anderen Wissenschaftszweigen, etwa der Pflanzenphysiologie. Aber kein Physiologe würde eine übernatürliche „Lebenskraft“ als Erklärung akzeptieren. In gleicher Weise würde kein Evolutionsforscher wundersame Kräfte eines übernatürlichen „Designers“ als Erklärung eines realen Sachverhalts akzeptieren. Der Kreationismus ist in der Biologie seit 1859 überwunden – mit dem Erscheinen von Darwins Artenbuch.

bdw: Im Gegensatz zu anderen Bereichen der Biologie, von Chemie und Physik ganz zu schweigen, sind kontrollierte Evolutionsexperimente schwierig, wenn nicht unmöglich – behaupten die Kritiker. Und der Verlauf der Evolution sei nicht direkt beobachtbar, wegen der großen Zeiträume und der spärlichen Daten.

Kutschera: Astrophysiker blicken sehr wohl in die ferne Vergangenheit unseres Universums und arbeiten an einer historischen Rekonstruktion des kosmischen Ursprungs. In analoger Weise ist die Evolutionsbiologie eine Experimental- und Geschichtswissenschaft: Dokumente – geochronologisch datierte Fossilreihen – und Experimente, etwa die Evolution von Bakterien im Reagenzglas, ergänzen sich gegenseitig. Trotz weltweiter Bemühungen zur Aufklärung der Verwandtschaftsbeziehungen der Organismen durch DNA-Sequenz-Stammbäume ist jedoch das „ Tree-of-life-Projekt“ noch im Anfangsstadium. Eine „Zeitmaschine“ zur Erforschung der Evolution ist seit etwa zehn Jahren beschrieben: experimentelle Evolutionsforschung mit Bakterien. So zeigte sich, dass in Reagenzglaskulturen nach rund 2000 Bakterien-Generationen bei Glukose-Mangel durch positive Mutationen und Selektion größere Ökotypen entstehen, deren Fitness im Vergleich zur Urform angestiegen ist.

bdw: Hier scheinen die Kritiker allerdings hinzugelernt zu haben. Sie akzeptieren nun eine Mikro-, nicht aber eine Makroevolution: Zahlreiche Grundtypen seien durch Schöpfungsakte unabhängig voneinander entstanden, aber die Mikroevolution habe diese Grundtypen variiert und somit die Artenvielfalt hervorgebracht.

Kutschera: Nach diesem sterilen „Grundtypen-Hybrid-Modell“ wird Mikroevolution natürlich, Makroevolution aber über biblische Wunder erklärt. Das ist ein Paradebeispiel für Pseudowissenschaft. Ich habe die deutschen „Schöpfungsforscher“ daher in meinen Büchern als Theo-Biologen bezeichnet.

bdw: Und diese beharren darauf, dass das Problem der fehlenden Bindeglieder nicht gelöst sei.

Kutschera: Diese unzutreffende Behauptung wird immer wieder geäußert. Da über 99,99 Prozent aller Lebewesen keine versteinerten Spuren hinterlassen haben, werden die Fossilreihen immer lückenhaft bleiben: Das liegt in der Natur der Fossilisation. In meinem Lehrbuch „Evolutionsbiologie“ habe ich zahlreiche neue Bindeglieder – Zwischenformen oder „connecting links“ – beschrieben, die erst in den letzten Jahren entdeckt worden sind. Dazu zählen der Laufwal Ambulocetus, die Hinterbein-Urschlange Pachyrhachis und der schimpansenähnliche Ur-Hominid Sahelanthropus.

bdw: Und wie steht es mit der Unwahrscheinlichkeit, die die Evolutionskritiker immer wieder anführen? Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich nur eines der zahllosen Proteine gebildet hat – Ketten aus über 100 Aminosäuren, von denen es in der belebten Natur 20 verschiedene gibt –, geringer als die Zahl der Atome im beobachtbaren Weltraum. Deshalb spricht beispielsweise der amerikanische Biochemiker und bekennende Katholik Michael J. Behe von der „nicht reduzierbaren Komplexität biochemischer Prozesse“ und postuliert die Existenz eines „ bewussten Designs durch einen intelligenten Designer“.

Kutschera: Die chemische Evolution, also der Ursprung bakterienartiger Proto-Zellen in den Ur-Ozeanen vor etwa vier Milliarden Jahren, hat mit den Mechanismen der biologischen Evolution wenig zu tun. Doch die Pseudo-Mathematik der Kreationisten ist ein Lehrstück, wie die Wissenschaft pervertiert werden kann: Auch unwahrscheinliche Ereignisse treten im realen Leben ein – beispielsweise sechs Richtige im Zahlenlotto. Der Glaubenssatz von der „irreduziblen Komplexität“ ist unakzeptabel. So sind von verschiedenen Augen-Typen urtümliche Formen bekannt, die eine andere Funktion erfüllen als das voll entwickelte Seh-Organ. Auch einige biochemische Stoffwechselwege, etwa der Citrat-Zyklus, können bereits von bakteriellen Urformen abgeleitet werden. Und die Bakterien-Flagelle, die Geißel, ist eine abgewandelte Injektions-Kanüle vom Typ-III-Sekretionssystem. Selbstverständlich sind viele Probleme noch ungelöst, aber unser Wissen schreitet in Riesenschritten voran.

bdw: „Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, außer im Licht der Evolution“, hat der berühmte russisch-amerikanische Genetiker Theodosius Dobzhansky einmal geschrieben. Für Kreationisten ist dies freilich ebenfalls ein – wenn auch antikreationistisches – Credo.

Kutschera: Unüberprüfbare Glaubenssätze gibt es in den Realwissenschaften nicht – nur Fakten zählen. Der Evolutionsforscher Dobzhansky war gläubiger Christ. Er hat jedoch seine religiösen Ansichten niemals mit wissenschaftlichen Fakten vermengt, wie es die heutigen Kreationisten in ihren Schriften tun. Und sogar die Katholische Kirche hat hinzugelernt: Betonte 1950 Papst Pius XII. noch, dass der Darwinismus eine Gefahr für den katholischen Glauben darstelle und die Evolutionslehre nur als Hypothese akzeptabel sei, verkündete Papst Johannes Paul II. 1996, dass die Katholische Kirche aufgrund der zahlreichen Fakten die Evolution nun als bewiesene Tatsache akzeptiere – allerdings als vom biblischen Gott gelenkt.

bdw: Kreationisten und Evolutionskritiker behaupten zuweilen, nicht ein Dogma gegen eine Wissenschaft zu stellen, sondern mit der Schöpfungslehre einen Konkurrenten gegen die Evolutionstheorie ins Feld zu führen. Ist das nicht wissenschaftstheoretisch fruchtbar, insofern sich Theorien bewähren müssen und Konkurrenz das Geschäft belebt?

Kutschera: Nein. Schöpfungsmythen sind Glaubenssätze, für die es keinen empirischen Beleg gibt. Außerdem widersprechen sich die Ursprungsmythen verschiedener Kulturen: Gäbe es eine allgemeingültige Glaubensrichtung, so wären niemals Religionskriege geführt worden. In den Naturwissenschaften gilt das Konzept des methodischen Naturalismus: Nur reale, überprüfbare Sachverhalte sind Gegenstand unserer Untersuchungen und Bausteine der daraus abgeleiteten Theorien. Götter und Designer fehlen in den Naturwissenschaften.

bdw: Und wie steht es mit den Indizien, die die Evolutionskritiker anführen?

Kutschera: Das Unwort „Evolutionskritik“ ist sehr aufschlussreich: Würden wir dieses akzeptieren, so müsste in der Chemie auch die „Atomkritik“ und in der Physik die „ Photonenkritik“ zugelassen werden. Da in der Bibel jedoch weder Atome noch Photonen beschrieben sind, übernatürliche Schöpfungsakte des Menschen allerdings ausführlich dargelegt werden, bleiben Physiker und Chemiker von derart irrationalen Angriffen verschont. Als einzige Alternative verweisen die Evolutionskritiker und Kreationisten auf ihren subjektiven christlich-religiösen Glauben, der einem Außenstehenden durch keinerlei objektive Fakten bewiesen und plausibel gemacht werden kann.

Die Fragen stellte Rüdiger Vaas ■

Ohne Titel

• Nicht nur in den USA, auch in Deutschland, versuchen Kreationisten Glaubensinhalte in den Biologieunterricht der Schulen zu tragen.

• Fossilienfunde und die moderne Gen-Forschung belegen, wie die Evolution der Arten funktioniert.

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Uhr  〈f. 20〉 1 Gerät zum Messen von Zeit– u. Bewegungsabläufen (Armband~, Küchen~, Taschen~) 2 Wasser–, Gaszähler (Gas~, Wasser~) … mehr

Kin|der|fern|se|hen  〈n.; –s; unz.; TV〉 für Kinder geeignete Fernsehsendungen

Putz|mit|tel  〈n. 13〉 meist flüssiges (chemisches) Mittel zum Putzen, z. B. Boden–, Glas–, Haushaltsreiniger

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige