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Schlüssel zum Wachstum

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Schlüssel zum Wachstum
Das Geheimnis der gesteuerten Organbildung liegt hinter einer Tür mit vielen Schlössern. Aber einige Schlüssel haben die Entwicklungsbiologen schon in der Hand.

Das Phänomen, das wir mit dem Begriff „Leben“ bezeichnen, ist in der Form individueller Lebewesen organisiert. Individuen mit gemeinsamen biologischen Eigenschaften faßt man zu Arten zusammen. Eine Art existiert im allgemeinen länger als ihre Individuen, dennoch ist ihre Daseinsspanne wiederum nur ein mehr oder weniger kurzer Abschnitt des Lebens – der Biosphäre – auf der Erde.

Ein Wesensmerkmal alles Lebendigen ist der Drang, wenn schon nicht sich selbst, so doch die in ihm gespeicherte biologische Information zu erhalten. Deshalb erzwingt die Strukturierung des Lebens eine ständige Reproduktion von Individuen.

Prof. Karlheinz Schmidt, Doktor der Chemie und der Medizin, war einer der ersten, der das Potential von Differenzierungsfaktoren für die medizinische Anwendung erkannte und die Entwicklung forcierte (bild der wissenschaft 5/1989, „Neuer Knochen wächst nach Wunsch). 1990 wurde eine Frima, die Ossacur GmbH in Tübingen gegründet. 1996 ließ sich Schmidt von der Universität Tübingen für fünf Jahre beurlauben, um sich ganz der Weiterentwicklung von knochenbildenden Biomaterialien für die medizinische Anwendung zu widmen.

Das ist mit einem hohen Aufwand verbunden, da die Reproduktion als klonaler Prozeß abläuft: Jedes Individuum – ob Maus, Mensch oder Blauwal – muß immer wieder neu aus einer einzigen Zelle aufgebaut werden.

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Klonierungsexperimente haben inzwischen den Nachweis erbracht, daß das genetische Material jeder Körperzelle prinzipiell das gleiche Potential besitzt wie das einer befruchteten Eizelle. Diese Tatsache ist für die Entwicklungsbiologie von größter Bedeutung. Sie beweist, daß im Erbgut jeder Zelle im Grunde alle Programme vorhanden sind, die man braucht, um ein vollständiges Lebewesen wachsen zu lassen – und damit natürlich auch alle Teile, sprich Organe und Gliedmaßen, aus denen ein Lebewesen besteht.

Doch die Evolution hat diesem prinzipiellen Vermögen bei höher organisierten Lebewesen Grenzen gesetzt. Ihre zellulären Strukturen werden in einem bestimmten Entwicklungsstadium taub für Wachstumssignale in ihrem Inneren. Die Organisation der entwick-lungsbiologischen Prozesse gibt enge Zeitkorridore vor, in denen Zellen für bestimmte Signale empfänglich sind. Nur innerhalb dieser Zeitkorridore kann eine Zelle den Weg einschlagen, der zum Wachstum von Hirn oder Haut führt – früher nicht, und später auch nicht mehr. Werden die Signale außerhalb der entsprechenden Zeitkorridore gesendet, bleibt der zugehörige Entwicklungsschritt aus. Hinzu kommt, daß von einem bestimmten Entwicklungszustand an die Signale zum Wachstum nur noch in einem bestimmten biologischen Umfeld gehört werden. Das verhindert – um ein plastisches Beispiel zu wählen -, daß eine Niere im Bein wächst oder ein Ohr am Ellenbogen, zumindest normalerweise.

Es ist also einfacher, einen ganzen Organismus wachsen zu lassen, als seine Teile. Um das Wachstum eines Embryos anzustoßen, braucht man nur Ei- und Samenzelle zusammenzubringen. Wesentlich schwieriger ist es, einzelne Entwicklungslinien aus diesem Gesamtprozeß herauszulösen, um gezielt Organe zu generieren. Zur Zeit reicht das Wissen dazu überhaupt noch nicht, aber die Fortschritte der Entwicklungsbiologie in den letzten Jahren erlauben immerhin schon, über den Weg dorthin zu spekulieren, einen Weg, der über drei schwere (Forschungs-)Etappen führt:

die Regeneration verletzter oder verlorener Gewebe und Organe, die Klonierung mit gesteuerter Entwicklung, die zeit- und umfeldunabhängige Neubildung von Organen aus jeder beliebigen Zelle.

Auf der ersten Etappe sind ein paar Schritte getan, einige Gewebe und Organe können schon im medizinischen Alltag erneuert werden. Um diesen Forschungsansatz zu verstehen, war es nötig, nicht nur nach den Mechanismen der Organentwicklung – der Morphogenese – zu fragen. Ebenso wichtig war die Frage: Wie wird die nach Wachstum und Entwicklung resultierende Form und Funktion eines Organs über Jahrzehnte erhalten? Man könnte hierfür analog zum Begriff der Morphogenese nach der Regulation der „Morphostase“ fragen. Die Morphostase ist dafür verantwortlich, daß das Herz eines 60jährigen im wesentlichen genauso aussieht wie das des 20jährigen, obwohl es inzwischen aus ganz anderen Zellen besteht.

Die verschiedenen Organe haben sehr unterschiedliche Erneuerungsraten. So regeneriert sich beispielsweise die Darm-schleimhaut innerhalb weniger Tage komplett, die Milliarden von roten Blutzellen erneuern sich in 120 Tagen, und selbst das scheinbar so konstante Knochenskelett ersetzt pro Jahr fünf Prozent seiner Zellen.

Alle 20 Jahre hat der Körper alle Teile seiner Knochen einmal erneuert. Manche Nervenzellen und die Gedächtniszellen des Immunsystems tun dagegen 70 Jahre Dienst im Körper. In jedem Organ oder Gewebe sind Absterberate und Neuentstehungsrate der Zellen so aufeinander abgestimmt, daß Struktur und Funktion erhalten bleiben – in der Regel. Krebswachstum und Gewebsrückbildung im Alter sind Beispiele für Störungen dieser fundamentalen Koordination.

Drastisch forciert wird die Erneuerungsrate etwa nach einer Verletzung, um den Schaden rasch zu heilen. Die Erneuerung kann so vor sich gehen, daß sich die Zellen des geschädigten Organs verstärkt teilen und so den Verlust ausgleichen. Oft werden aber auch andere verfügbare Zellen des Körpers veranlaßt, an die Stelle der geschädigten oder verlorenen Gewebe zu treten. Der Körper hat also eine Zellreserve, aus der sich bei Bedarf reife Organzellen entwickeln können. Für Bindegewebe, Knorpel, Knochen, Blutgefäße und Blut ist diese Form der Regeneration ganz natürlich.

Um die Reservezellen bei Bedarf anzuregen, sich in die notwendige Richtung zu entwickeln, sind in diesen Geweben verschiedene Signalstoffe gespeichert, die bei einer Verletzung aktiv werden und so den Heilungsprozeß anstoßen. Insbesondere bei der Heilung von Knochenbrüchen sind diese Vorgänge bekannt.

Der entscheidende Unterschied zwischen der entwicklungsbiologischen Organentstehung im Embryo und der regenerationsbiologischen Organerneuerung besteht darin, daß für die Regeneration keine Zeitbegrenzung besteht, da die Erneuerung von Organen und Geweben lebenslang auch im erwachsenen Organismus abläuft. Wenn es also gelingt, alle für die Organregeneration wesentlichen Signale aufzuspüren und wenn man weiß, in welcher zeitlichen Abfolge sie gesendet werden müssen, so sollte es möglich sein, auch im erwachsenen Organismus die Organbildung gesteuert auszulösen.

Auf diese Weise ist es schon gelungen, Knochen gezielt wachsen zu lassen und damit Defekte zu heilen. Da das neu entwickelte Gewebe mit dem Organismus, in dem es entsteht, genetisch identisch ist, gibt es keine Abstoßungsreaktionen, wie sie sonst bei Transplantationen vorkommen.

Unter bestimmten Bedingungen kann man inzwischen sogar in einer freien Körperhöhle Knochen nach Wunsch wachsen lassen. Dazu verwendet man ein Biomaterial auf Kollagenbasis, das alle entsprechenden Signalstoffe enthält. Das unter dem Namen „Colloss“ zugelassene Material wird innerhalb des Körpers zum Beispiel auf einen porösen keramischen Träger aufgebracht. Man kann es aber auch in die Nähe eines defekten Knochens plazieren und damit dessen Knochenmasse vergrößern.

Inzwischen tasten sich die Forscher schon an die zweite Etappe heran: das Klonieren mit gesteuerter Organentwicklung. Den Weg dahin haben eine Erkenntnis und ein Ereignis gebahnt, die beide für sich revolutionär waren.

Durch die nobelpreisgekrönte Arbeit der Tübinger Entwicklungsbiologin Prof. Christiane Nüsslein-Volhard ist klar geworden, daß in den verschiedensten Tierarten – ob Fliege, Fisch, Maus oder Mensch – dieselben molekularen Signale verwendet werden, um die Organentwicklung zu steuern. Das kann man nutzen, um über Artgrenzen hinweg Entwicklungen bestimmter Organe zu provozieren.

Das dazugehörige Ereignis war das Schaf „Dolly“. Wenn wir auch derzeit die Konsequenzen dieses Klonierungsexperimentes noch nicht abschätzen können, so ergeben sich doch eine Vielzahl höchst interessanter Fragen, die als Wegweiser für künftige Forschung dienen können. So könnte man beispielsweise in einem klonierten Tier während der Embryonalentwicklung menschliche Organe erzeugen, die auf das Immunsystem eines zukünftigen Empfängers abgestimmt wären.

Dabei sind natürlich noch viele Probleme zu lösen. Wie würde sich zum Beispiel der Altersunterschied zwischen Erbgut und Körper eines klonierten Tieres auswirken? Das klonierte Schaf Dolly ist noch keine zwei Jahre alt, seine DNA aber fast zehn Jahre. Man weiß ja, daß Schäden im Erbgut sich im Laufe des Lebens summieren. Wie alt ist also der Klon, wenn er geboren wird, genetisch gesehen? Andererseits eröffnet diese Überlegung möglicherweise neue Wege für die Alternsforschung.

Sehr spekulativ sind die Möglichkeiten der dritten Forschungsetappe, des Vorhabens, durch sogenanntes „Tissue Engineering“ neue Organe aus einzelnen Zellen zu erzeugen. Fortschritte gibt es bei der Herstellung von Ersatzhaut. Sie wird der natürlichen Haut immer ähnlicher, so daß man beispielsweise Narben kaum erkennt. Allerdings fehlen der Ersatzhaut noch die natürlichen Anhangsgebilde – Haare, Schweiß- und Talgdrüsen. Man kann auch schon Ersatzblutgefäße wachsen lassen, die allerdings ihrem natürlichen Vorbild in Struktur und Funktion noch weit nachstehen. Überhaupt nicht abzusehen ist, wann es gelingen wird, durch Tissue-Engineering Organe wachsen zu lassen, die sich aus unterschiedlichen Zellelementen zusammensetzen – aus Bindegewebe, Knorpel, Knochen, Gefäßen und Nerven, um nur die wichtigsten zu nennen.

Diesen Vorgang künstlich in Gang zu setzen und zu steuern, erscheint beim Menschen derzeit nicht realisierbar. Er läuft zwar in jedem Embryo ab, wenn er sich von einer befruchteten Zelle zu einem ganzen Organismus entwickelt. Die biologischen Kenntnisse reichen aber noch nicht aus, um derartige Prozesse gezielt nachzuahmen. Vor allem die Zeitsteuerung der Differenzierungsprozesse im Embryo steht derartigen Versuchen entgegen. Man kann sich das so ähnlich vorstellen wie bei einem Banksafe mit Zeitschloß: Auch mit den korrekten Schlüsseln läßt sich der Safe nur innerhalb einer bestimmten Zeitspanne öffnen. Obwohl wir inzwischen einige Schlüssel für dieses Schloß haben („Die ,Hedgehogs` bauen ein Baby“, Seite 73), reicht dies nicht, um die Tür zur gezielten Organentwicklung bei einem Erwachsenen zu öffnen. Wir wissen noch nicht von allen Schlüsseln, in welcher Reihenfolge wir sie zu verwenden haben. Und entscheidend ist, die Steuerung des Zeitschlosses zu enträtseln.

Am aussichtsreichsten scheint deshalb momentan die gesteuerte Regeneration verletzter oder verlorener Organe. Aber auch auf den anderen Forschungsfeldern – beim Klonen und beim Tissue-Engineering – sollte die Forschung weitergehen. Wir haben in den letzten Jahrzehnten ungeheuer viel über die Entwicklungsbiologie gelernt. Wir haben dabei so viele scheinbar von der Natur gesteckte Grenzen schon überschritten. Warum sollten wir jetzt stehenbleiben?

Karlheinz Schmidt

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Ätha|nol  〈n.; –s; unz.; Chem.〉 = Ethanol

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