11. August 1999, 12 Uhr 34 mittags: Millionen Menschen in Deutschland starren durch Pappbrillen mit Silberfolien in den Himmel. Sonnenfinsternis, ein Naturschauspiel, ein astronomisches Ereignis. Wochenlang war es den Medien der Republik Schlagzeilen wert, hatte Emotionen angefacht, Faszination ausgestrahlt, hatte Bedarf nach Aktivität, nach Informationen und Hintergründen geweckt. Zwei Minuten Dunkelheit am Mittag – eine Chance für die Wissenschaft, Menschen anzusprechen, sie für ihre Arbeit, ihre Motive, ihre Möglichkeiten zu motivieren. Etwa um die gleiche Zeit saßen in Großbritannien ehrwürdige Physiker aus ganz Europa zusammen und klagten sich ihr Leid über den fehlenden Nachwuchs. In Deutschland ist die Zahl der Studienanfänger in der Physik in den letzten acht Jahren auf die Hälfte gesunken; in anderen europäischen Ländern ist es ähnlich. Die Schulen schafften es nicht mehr, junge Menschen für die Physik zu begeistern, beklagten die versammelten Koryphäen. Der Staat und die Lehrer sollten mehr tun, um Wissen und Motivation für die Naturwissenschaften zu wecken. Die wirtschaftliche Zukunft der Nationen stünde auf dem Spiel. Doch bei der Sonnenfinsternis meldeten sich die Wissenschaftler kaum zu Wort. Der mittelalterliche Katastrophen-Prophet Nostradamus schien aktueller als die Konstellation der Gestirne, die Physik der Sonne oder das Spiel der Atome, die ihr die Strahlkraft verleihen.
Vor zehn Jahren hatte es noch anders ausgesehen. Damals schienen auch in Deutschland die führenden Köpfe der Forschung zu begreifen, daß Wissenschaft sich der wandelnden Gesellschaft öffnen muß. Mag sein, daß der Kampf um Finanzen, der harte Disput um die Gentechnik oder die allgemeine Aufbruchstimmung rund um die Wiedervereinigung dazu beitrugen. Jedenfalls schlugen die Wellen hoch, wurden die Medien als Partner betrachtet, galt Offenheit als erstrebenswertes Ziel. Doch die gleichen Diskussionen gibt es noch heute, keinen Millimeter haben sich die Argumente bewegt. Die führenden Forschungsorganisationen sind stolz, sich auf ein Memorandum geeinigt zu haben, das fordert: Kein Wissenschaftler soll Nachteile davon haben, daß er sich aktiv um mehr Verständnis für die Forschung bemüht. „Keine Nachteile“ – als ob es nicht längst angesagt wäre, gerade diesen Kommunikatoren Vorteile zu verschaffen, ja die Popularisierung von Wissenschaft zur Pflicht jedes Forschers zu erklären.
Ist das Lerntempo in der Wissenschaft so langsam? Oder haben die Verantwortlichen zurückgezuckt, als sie merkten, daß Offenheit zur Gesellschaft das festgefügte Gebäude Wissenschaft mehr durcheinanderschüttelt als ihnen lieb sein kann? Der Fälschungsfall Herrmann, der als führender Genforscher galt, hat die Forschergemeinde verunsichert. Sucht sie jetzt die Hilfe statt in Transparenz in Public Relations? Eine leuchtende Fassade, hinter der sich in Wirklichkeit nur wenig verändern muß – das scheint heute unter dem Stichwort „Public Understanding of Science“ angesagt. Das kennen wir schon: Früher nannte man das „Elfenbeinturm“.
Reiner Korbmann