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Sprachkurs für Gene

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Sprachkurs für Gene
Die Gentechnik scheitert oft an Sprachproblemen, denn verschiedene Lebewesen benutzen unterschiedliche Dialekte für ihre Gene. Deutsche Forscher bieten einen Übersetzungsservice an.

Wenn Marcus Graf über seine Arbeit spricht, dann schwingt stets Faszination und ein bisschen Ehrfurcht mit. Graf ist Leiter der Gen-Synthese beim Regensburger Unternehmen Geneart. Täglich ersinnt er neue Formen des Lebens. Er ist Schöpfer im Dienst der Wissenschaft. Sein Team erfindet Gene, die in der Natur so nicht vorkommen. Aus den Bausteinen des Erbgutes, den Basen A, C, T und G, basteln die Regensburger Forscher künstliche Gene. Für Gen- und Biotechniker ist das synthetische Erbgut eine Art Turbolader für die Produktion von Naturstoffen. Vom Arznei- bis zum Reinigungsmittel gibt es bereits Produkte auf Basis der künstlichen Gene zu kaufen. Geneart selbst arbeitet gerade an einem Impfstoff gegen Aids und entwickelt Inhaltsstoffe für Waschpulver und Anti-Falten-Cremes.

Künstliche Gene sind wie ihre natürlichen Vorbilder Bauanleitungen für Eiweiße – für Enzyme, für Strukturproteine wie Kollagen oder für Botenstoffe wie Insulin – alles begehrte Rohstoffe für die Pharma- und Chemieindustrie. Die Gen-Techniker stellen sie her, indem sie das neu geschaffene Gen in ein Bakterium, meist das Darmbakterium Escherichia coli, einpflanzen. Die Mikrobe liefert daraufhin den gewünschten Stoff in Hülle und Fülle. Das künstliche Erbgut ist eine Produktionsanleitung für Mikroorganismen, die sie zwingt, menschliches Insulin oder Kollagen herzustellen. „Und das klappt nur mit einem synthetischen Gen wirklich effizient“, erklärt Graf. „Würde man das menschliche Gen für Insulin geradewegs in das Coli-Bakterium setzen, würde es nur mehr schlecht als recht Insulin produzieren, weil das Bakterium mit dem menschlichen Bauplan nicht viel anfangen kann.“

Der Grund: Alle Organismen benutzen zwar die gleichen biochemischen Buchstaben – A, C, T und G –, um ihr Erbgut niederzuschreiben, aber sie haben alle einen eigenen genetischen „ Dialekt“. Verwendet der Mensch zum Beispiel die Abfolge UGA für einen Befehl, würde ein Einzeller stattdessen UAG benutzen. Die unterschiedlichen Ausdrücke rühren daher, dass sich die Lebewesen im Laufe der Evolution auseinander entwickelt haben – so wie Volksstämme, die lange Zeit keinen Kontakt mehr zueinander haben, einen eigenen Dialekt oder sogar eine eigene Sprache entwickeln.

Doch seit die Genome von Ackerschmalwand, Maus, Coli-Bakterium und mehr als einem Dutzend weiterer Arten entschlüsselt sind und immer besser verstanden werden, können Forscher zwischen den Dialekten der Lebewesen dolmetschen.

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Biologen wissen schon seit einigen Jahrzehnten, dass es unterschiedliche Gen-Mundarten bei verschiedenen Lebewesen gibt, und die Pharmaindustrie erkannte früh deren Bedeutung. Eines der ersten gentechnisch hergestellten Medikamente, das Wachstumshormon Somatotropin gegen Zwergwuchs, wird bis heute mithilfe eines künstlichen Gens hergestellt. Doch trotz des Erfolgs, den dieser Erstling hatte, blieben Nachahmer zunächst aus. „Es war damals viel zu aufwendig, ein künstliches Gen anzufertigen. Für ein Einziges brauchte man ein ganzes Jahr“, berichtet Graf. „Das lohnte sich einfach nicht. Zudem kostete ein einziges Basenpaar bis Mitte der Neunzigerjahre 20 bis 25 Euro – und für ein Gen braucht man Tausende davon“, sagt Ralf Wagner, Professor für medizinische Mikrobiologie an der Universität Regensburg. Wagner ist auch Gründer und wissenschaftlicher Geschäftsführer der Firma Geneart.

Mittlerweile fließen die Gene kostengünstig aus modernen Automaten. In diesen Synthesemaschinen werden die Basen wie Glieder einer Kette Minute um Minute miteinander verknüpft. „ Einst waren wir eine Manufaktur, jetzt sind wir ein hochautomatisierter Industriebetrieb zur Herstellung synthetischer DNA“, scherzt Graf. In vier bis fünf Wochen lassen sich mehr als eine Million verschiedene synthetische Gene fertigen. Dementsprechend sind die Preise um mehr als den Faktor zehn gefallen. Ein Basenpaar kostet inzwischen nur noch etwa 1,50 Euro. „Und das, obwohl jedes künstliche Gen eine Sonderanfertigung ist“, fügt Graf hinzu. Die meisten Gene gehen an Kunden in der Pharmaindustrie.

Einer davon ist das Verbundnetzwerk Eurovac der EU. In diesem Netzwerk sind 21 Firmen und öffentliche Forschungslabors zusammengeschlossen, die nach einem Impfstoff gegen Aids suchen. Derzeit prüfen die Forscher mehrere Dutzend verschiedene Gene der Geneart. Eines hat gerade erfolgreich die ersten klinischen Tests hinter sich gebracht.

Der Clou des neuen Impfstoffs: Der Körper soll ihn selbst herstellen und in drei Schritten immun gegen HIV werden.

• Zuerst injiziert man dem Patienten einige ausgewählte Gene des HI-Virus.

• Aus diesen Genen produziert der Körper Virus-Eiweiße.

• Das Immunsystem erkennt diese Eiweiße als körperfremd und stellt Antikörper gegen das Aids-Virus her.

Die Original-Gene des Virus, die diese Eiweiße bilden, wollte Wagner jedoch nicht für einen Impfstoff verwenden. Sie hätten zum einen in einer menschlichen Zelle nicht effektiv funktioniert, da HI-Viren einen anderen genetischen Dialekt als menschliche Zellen sprechen. Zum anderen bergen Original-Gene aus dem Virus die Gefahr, möglicherweise die todbringende Krankheit zu übertragen. „ Darum brauchte ich künstliche Gene – und sie mussten absolut ungefährlich sein“, sagt Wagner.

Von seiner Idee beflügelt, beauftragte er 1995 seinen damaligen Doktoranden Marcus Graf mit der Aufgabe, diese beiden Gene anzufertigen. Graf tauschte fast jede dritte Base in der DNA eines ausgewählten HIV aus, um diese auf den Sprachgebrauch der menschlichen Zelle umzuschreiben – eine Sisyphusarbeit angesichts der 1500 Basenpaare.

Vor einigen Monaten konnten Graf und Wagner einen ersten Erfolg verbuchen. An 24 gesunden Freiwilligen war eine klinische Studie mit dem Medikament durchgeführt wurden. Die Forscher hatten untersucht, wie gut das Mittel vertragen wurde und ob sich die gewünschte Immunisierung aufbaute. Ergebnis: Bei der Hälfte der Testpersonen hatten sich Antikörper gegen das HI-Virus gebildet. „Das ist ein gutes Ergebnis, aber eben noch nicht gut genug“, meint Wagner selbstkritisch. Nun arbeiten die Geneart-Forscher an weiteren Verbesserungen.

Während in der Pharmaforschung viele Projekte noch im Teststadium stecken, werden künstliche Gene bereits bei der Produktion von Waschmitteln eingesetzt – zum Beispiel bei Substanzen, die Blut- oder Fettflecken entfernen. Das sind Enzyme, die den Schmutz zerlegen und deren Namen alle mit „-ase“ enden: Proteasen tilgen eiweißhaltige Flecken, Lipasen vernichten Ölspritzer, Amylasen entfernen stärkehaltigen Schmutz, Xylanasen beseitigen Grasflecken. Zurzeit sind rund zehn verschiedene Arten von Enzymen in Reinemachern zu finden.

„Mittlerweile werden sie fast nur noch über künstliche Gene in ausgewählten Mikroorganismen hergestellt“, erläutert Sylvia Wojczewski vom Unternehmen BioSpring in Frankfurt. In der Natur werden solche Enzyme in geringen Mengen zum Beispiel von Boden-Bakterien gebildet. Aber kaum eine dieser natürlich vorkommenden Verbindungen hält der Tortur in der Waschmaschine stand. „Natürliche Mikroorganismen und deren Enzyme sind nicht dafür gemacht, Bleichmittel auszuhalten und kochendes Wasser zu überstehen“, sagt Michael Liss, Leiter der Geschäftseinheit „ Gen-Evolution“ bei Geneart. Natürliche Enzyme arbeiten oft schon bei 40 Grad Celsius nicht mehr. Deshalb muss jenes Gen, das für das Enzym verantwortlich zeichnet, umgeschrieben und vollständig neu produziert werden. Die Abfolge der DNA-Basen wird so verändert, dass das Enzym auch bei großer Hitze noch arbeitet. Dazu fügen die Wissenschaftler in das Erbgut gezielt Baupläne ein, die hitzestabile Strukturen beschreiben. Solche Baupläne kennen die Wissenschaftler zum Beispiel aus dem Erbgut von Organismen, die in Geysiren leben. Diese Überlebenskünstler überstehen problemlos Temperaturen von 100 Grad Celsius.

Doch das reicht oft nicht. Die Industrie wünscht sich obendrein Designermikroben, die möglichst große Enzymmengen herstellen. „Es lässt sich auch bei der Ausbeute fast immer noch etwas herausholen, wenn man an der Sprache der Gene feilt“, bestätigt Graf. Erst kürzlich hat Geneart einem Großkunden ein künstliches Gen zur Herstellung von Kollagen geliefert. Es gibt zwar bereits Mikroben, die Kollagen bilden, doch mit einem künstlichen Gen wird der Prozess noch eine Spur effizienter. Deshalb wird das künstliche DNA-Stück wohl bald seinen grobschlächtigen Vorgänger in der Industrieproduktion ablösen. Kollagen ist der Baustoff des menschlichen Bindegewebes und wird Cremes und Lotionen häufig als Anti-Faltenzusatz untergemischt.

Mit ein bisschen Biegen und Drehen am Erbgut der Lebewesen lässt sich die Biochemie völlig umkrempeln. Einziger Haken an der Sache: „Wir Forscher müssen immer genau wissen, wie wir feilen, biegen und drehen sollen“, meint Graf. Wer frei nach Fantasie künstliche Gene zusammenbastelt, wird allenfalls adrette Gebilde ernten, schön anzusehen, aber eine Funktion hat ein solches Fantasie-Gen nicht. So ließ die in England lebende portugiesische Künstlerin Marta de Menezes bei Geneart kürzlich ihre beiden Vornamen „MARTA ISAVELL“ aus künstlichen Basenpaaren schreiben. Forscher vom Wellcome Trust Center an der University of Oxford untersuchen derzeit die zugleich künstliche wie künstlerische Gen-Sequenz. „Das Gen ist zwar ästhetisch einzigartig, aber es wird wohl kaum von irgendwelchem Nutzen sein“, ist Graf überzeugt.

Die Natur hat die Abfolge der Basen in einer Milliarde Jahre optimiert und all das aussortiert, was nicht funktioniert. Wenn jetzt der Mensch kommt und die Basen nach künstlerischen Aspekten arrangiert, dann „wäre es ein unglaublich großer, ein göttlicher Zufall, wenn etwas Sinnvolles entstehen würde“. Aber ausschließen will Graf ein solches Wunder nicht. ■

Susanne Donner ist Diplom-Chemikerin und freie Wissenschaftsjournalistin in Berlin.

Susanne Donner

Ohne Titel

• Gene von Bakterien sind in einer anderen „Sprache“ geschrieben als die von Viren oder Menschen.

• Künstliche Gene können diese Sprachbarriere überwinden. Die Waschmittelindustrie arbeitet bereits mit ihnen.

• Jetzt wollen Biotechnologen und Pharmaforscher sie für ihre Zwecke nutzen.

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