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Kernfusion – Europa macht den Stich

Technik|Digitales

Kernfusion – Europa macht den Stich
Das internationale Megaprojekt ITER wird am Standort Cadarache in Südfrankreich realisiert. Eine riesige Anlage soll die Energiegewinnung im Fusionsreaktor Sonne imitieren.

Jean-Marc Ané stapft durch den Wald, vorbei an Pinien, Lorbeerbäumen und Eichen. Es ist heiß, es duftet nach Rosmarin und Thymian – den Kräutern der Provence. Plötzlich raschelt es, Ané hat ein Wildschwein aufgeschreckt: „Vorsicht. Wenn’s eine Bache mit Frischlingen ist, könnten wir Probleme kriegen.“

Dann bleibt der Physiker stehen. Mitten im Wald ragt ein Fahnenmast in die Höhe. Im Wind, der von den Bergen des Lubéron herüberweht, flattert eine Europaflagge. „Hier wird ITER stehen“, erklärt Ané. „Der Mast markiert den Mittelpunkt des Reaktors. Wo ich jetzt stehe, wird das Plasma zünden.“

Ein paar Kilometer von der Europaflagge entfernt liegt Anés Büro, im Kernforschungszentrum Cadarache. Hier wurde einst der Schnelle Brüter „Superphénix“ entwickelt, hier entstanden auch die Nuklearantriebe für französische U-Boote und für den Flugzeugträger „Charles de Gaulle“. Heute arbeiten 4000 Menschen auf dem weitläufigen Gelände 40 Kilometer nordöstlich von Aix-en-Provence.

Seit Wochen herrscht hier Hochstimmung. Denn seit dem 28. Juni wissen die Franzosen: ITER, der „Internationale Thermonukleare Experimental-Reaktor“, wird im Wald neben dem Forschungszentrum gebaut. Der Reaktor soll die Kernfusion als künftige Energiequelle erschließen. Sie gilt den Forschern als sicher, unerschöpflich und, da sie keine Treibhausgase ausstößt, als klimaneutral. ITER soll ein 150 Millionen Grad heißes Wasserstoffgas zünden, Plasma genannt. Im Plasma soll dasselbe passieren wie im Inneren der Sonne: Wasserstoff verschmilzt zu Helium, Unmengen an Energie werden frei.

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Jahrzehntelang haben die Physiker versucht, das Sonnenfeuer zu zähmen – bislang vergebens. Mehr als ein paar kurze Fusionsfunken konnten sie den bisher gebauten Versuchsanlagen nie entlocken. Das eigentliche Ziel aber wurde noch nicht erreicht: ein Plasma, das sich zu einem Energie spendenden Fusionsfeuer entzündet und von selber weiterbrennt. Genau das soll ITER schaffen.

Angedacht wurde das Megaprojekt bereits 1985 von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan. „Das war eine Riesenmaschine, sie sollte 6,5 Milliarden Euro kosten“, erinnert sich Valery Chuyanov, Leiter der ITER-Filiale in Garching bei München. „1998 legten wir die Pläne vor, doch die Maschine war den Politikern zu teuer. Also mussten wir ein Gerät entwerfen, das nur die Hälfte kostet.“

Der Durchmesser der geplanten Reaktorkammer schrumpfte von 16 auf 12 Meter, die Leistung von 1500 auf 500 Megawatt. Diesen „ ITER light“ wollte eine Gruppierung der wichtigsten Industrieländer 2003 tatsächlich bauen. Dann aber wurde die Standortfrage zum Problem. Erbittert stritten das französische Cadarache und Rokkasho in Japan um das Prestigeprojekt. Südkorea und die USA unterstützten Japan, China und Russland den europäischen Standort. Das Patt währte fast zwei Jahre. Dann unterbreitete Europa das entscheidende Angebot. Japan soll auf seine Kandidatur verzichten und als Ausgleich diverse Vergünstigungen erhalten: Obwohl es nur zehn Prozent der Investitionen trägt, darf Japan 20 Prozent des ITER-Personals stellen und 20 Prozent der Industrieaufträge einheimsen. Ferner unterstützt Europa die Kandidatur eines japanischen Generaldirektors und kofinanziert ein zusätzliches Forschungsgerät in Fernost.

Das zog. Am 28. Juni wurde in Moskau die Einigung auf den Standort Cadarache verkündet. Europa zahlt die Hälfte der Baukosten von 4,6 Milliarden Euro, die anderen fünf Partner USA, Russland, China, Japan und Südkorea je zehn Prozent. Deutschland soll innerhalb des europäischen Verbundes 370 Millionen Euro tragen und Frankreich mit 914 Millionen Euro den Löwenanteil des europäischen Parts übernehmen.

Französischen Schätzungen zufolge schafft das Unterfangen 1000 neue Arbeitsplätze. Über die Projektdauer von 40 Jahren sollen bis zu zehn Milliarden Euro in die Region Provence fließen. In Frankreich sieht man ITER ohnedies eher durch die nationale denn durch die europäische Brille. „Die Energie der Zukunft wird französisch sein“, titelte am 29. Juni Ouest-France, die auflagenstärkste Tageszeitung des Landes.

Szenenwechsel: Auf der anderen Seite des Rheins, in Garching bei München, sitzt ITER-Physiker Eric Martin vor seinem Rechner, auf dem Monitor eine Computergrafik des Reaktors. „Das ist der Tokamak“, erklärt er. Dieses Baukonzept entwickelte der russische Physiker und spätere Bürgerrechtler Andrej Sacharow: In einem reifenförmigen Reaktor halten wuchtige Magnete ein Wasserstoffgas gefangen, starke Ströme erhitzen das Gas.

Der Tokamak auf Martins Monitor ist ein riesiger Zylinder, 28 Meter im Durchmesser und 30 Meter hoch. Die Reaktorkammer hat die Form eines überdimensionalen liegenden Lastwagenreifens und mit 840 Kubikmetern etwa das Volumen eines 25-Meter-Schwimmbeckens. „ Die Anlage besteht aus etwa zehn Millionen Komponenten“, erläutert Martin. „Zum Vergleich: Ein Auto hat rund 10 000, ein Flugzeug etwa 100 000 Teile.“

Gewaltige supraleitende Magnete halten das Gasgemisch aus den Wasserstoff-Isotopen Deuterium und Tritium in der Schwebe. Durch Anlegen von Strom, Einspeisen von Mikrowellen und Einschießen schneller Teilchen wird das Gas zu einem Plasma ionisiert und bis auf 150 Millionen Grad geheizt. Sind Temperatur und Dichte hoch genug, verschmelzen Deuterium und Tritium zu Heliumkernen. Die schwirren herum, heizen das Gas weiter auf und halten den Prozess am Laufen – das Plasma ist gezündet, das Fusionsfeuer brennt und liefert Energie.

Neben dem Helium entstehen schnelle Neutronen. Sie verlassen den Magnetkäfig und tragen ihre Energie nach draußen. Später, in einem Kraftwerk, sollen die Neutronen ein Kühlmittel aufheizen, das dann in einer Turbine elektrischen Strom erzeugt. Außerdem treffen die Neutronen auf das „Blanket“ – einen Mantel aus Lithium, in dem durch Kernreaktionen das als Brennstoff benötigte Tritium erbrütet wird.

Am Boden der Brennkammer sitzt ein „Divertor“. Sein Magnetfeld hat zwei Funktionen: Es saugt die überflüssige Helium-„Asche“ ab und sorgt dafür, dass das heiße Plasma nicht allzu heftig an die Reaktorwände klatscht. Dazu lenkt der Divertor die heißen Teilchen gezielt auf faserverstärkte, wassergekühlte Kohlenstoffkacheln. Sie trotzen einem ernormen Hitzefluss: 15 Megawatt pro Quadratmeter, so viel wie auf der 6000 Grad heißen Sonnenoberfläche.

„ITER soll zehnmal so viel Energie erzeugen wie man an Heizleistung hineinsteckt“, sagt ITER-Physiker Bill Spears. „Das Plasma soll anfangs mindestens sieben Minuten lang brennen, später sogar Stunden oder Tage.“ Ehrgeizige Ziele – entsprechend groß sind die Anforderungen an Technik und Material: Um das Höllenfeuer zuverlässig einschließen zu können, müssen die supraleitenden Magnete höchst präzise gefertigt werden. Und: Die Reaktorwand aus Stahl wird dem Bombardement der schnellen Neutronen nicht ewig standhalten. Zum einen wird sie brüchig, zum anderen im Laufe der Zeit aktiviert: Die Neutronen lagern sich an die Atomkerne des Wandmaterials an und machen sie radioaktiv. „ Wir müssen noch Materialien finden, die nur wenig aktiviert werden und deren Radioaktivität nach 100 Jahren abgeklungen ist“, sagt Spears.

Die Herausforderungen sind enorm, doch die Vorteile der kontrollierten Verschmelzung klingen verlockend. Die Brennstoffe gibt es überall: Deuterium kann man aus Wasser extrahieren, und Lithium, der Ausgangsstoff für Tritium, lässt sich aus Gestein gewinnen. Der Inhalt von drei Flaschen Mineralwasser und zwei Feldsteinen würde genügen, um eine vierköpfige Familie ein Jahr lang mit Energie zu versorgen.

Ein Kilogramm Wasserstoff, verschmolzen zu Helium, liefert genauso viel Energie, als würde man 11 000 Tonnen Steinkohle verheizen. Allerdings stößt ein Fusionsreaktor keine Treibhausgase aus. Und ein GAU wie in einem Kernkraftwerk scheint bei der Fusion ausgeschlossen: Der Ringreifen wäre immer nur mit einem Gramm Brennstoff gefüllt.

Ein Manko aber lässt sich bereits absehen: „Die Kernfusion wäre sehr kapitalintensiv“, gibt Spears zu. „Der Brennstoff wäre billig, die Anlage aber ziemlich teuer.“ Auf das heutige Preisgefüge bezogen, dürfte ein anwendungsreifer Fusionsreaktor später einmal nicht viel mehr als zwei Milliarden Euro kosten. Dann wäre die Kilowattstunde aus der Fusion freilich immer noch dreimal teurer als der Strom aus Kohle oder Öl.

Das bedeutet: Nur wenn der Preis der fossilen Brennstoffe weiter drastisch steigt, kann die Fusion konkurrieren. Aber so weit sind die Forscher noch nicht. Erst müssen sie die Nagelprobe bestehen – den erfolgreichen Betrieb von ITER. „Wir haben noch keine Erfahrung mit brennendem Plasma“, sagt Spears. „ITER wird zeigen, ob die Sache funktioniert oder nicht.“

In Cadarache jedenfalls hat sich Jean-Marc Ané noch eine Weile zu gedulden – die Bauarbeiten beginnen frühestens in zwei Jahren. Vorher müssen vertragliche und juristische Details geklärt und Aufträge öffentlich ausgeschrieben werden. „Vergessen Sie nicht: ITER ist ein globales Projekt“, betont er. „Es ist nicht ganz einfach, alle Nationen unter einen Hut zu bekommen.“

Läuft alles glatt, kann ITER in zehn Jahren loslegen. Hat die Anlage Erfolg, könnte um 2030 ein Demonstrationsreaktor gebaut werden, DEMO genannt. Mit einem kommerziellen Reaktor rechnen die Experten frühestens in 50 Jahren. „Zugegeben, das klingt seltsam“ , räumt Ané ein. „Schließlich haben wir ja schon vor Jahrzehnten behauptet, ein Kraftwerk könne in 50 Jahren fertig sein. Aber jetzt ist diese Prognose viel fundierter und glaubwürdiger.“

Im Flur vor Anés Büro steht ein Tisch mit dem 50 Fußballplätze großen ITER-Gelände als Modell. In der Mitte das Reaktorgebäude, daneben Versorgungshallen, Kühlanlagen, Bürogebäude, Straßen mit winzigen Spielzeugautos. Jean-Marc Ané zeigt auf den Bau, der einmal sein Büro beherbergen soll: „Ich hoffe, dass ich noch dabei bin, wenn der Reaktor das erste Mal zündet.“ Sein Blick wird sehnsüchtig. „Dann hätte ich mehr als 30 Jahre an ITER mitgearbeitet – ein langer Weg vom ersten Plan zum ersten Plasma.“ ■

FRANK GROTELÜSCHEN ist Physiker und freier Wissenschaftsjournalist in Hamburg. Das Thema Kernfusion beschäftigt ihn schon seit Anfang der Neunzigerjahre.

Frank Grotelüschen

COMMUNITY INTERNET

Webseiten des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik (IPP), eines der größten Fusions-Forschungszentren Europas:

www.ipp.mpg.de/

ITER-Webseiten der International Fusion Energy Organization:

www.iter.org/

Über die Eignung von Cadarache als ITER-Standort – aus französischer Sicht:

www.itercad.org/

Ohne Titel

• In zwei Jahren soll in der Provence

der Bau des teuersten Großexperiments aller Zeiten beginnen – des Fusionsreaktors ITER.

• Den Löwenanteil an den 4,3 Milliarden Euro Baukosten trägt mit 914 Millionen Euro Frankreich.

Ohne Titel

1.11.1952 Die USA zünden auf den Marshall-Inseln die erste Wasserstoffbombe. In ihr verschmelzen Wasserstoffkerne zu Helium. US-Physiker denken über eine Nutzung dieses Fusionsprozesses zur Stromgewinnung nach.

1952 Die russischen Physiker Andrej Sacharow und Igor Jewgenewitsch Tamm stellen ihr Tokamak-Konzept für den Bau eines Fusionsreaktors vor.

bis 1990 Einige Prototypen für Fusions- reaktoren werden gebaut. In keinem zündet das Wasserstoffplasma, dafür sind alle zu klein.

9.11.1991 Einem Team um den Physiker Alan Gibson am europäischen Versuchsreaktor JET im englischen Culham gelingt es erstmals, durch kontrollierte Kernfusion Energie zu gewinnen – für etwa zwei Sekunden.

1998 Abschluss der ersten Planungsphase des Fusionsprojekts ITER. Der Kostenvoranschlag in Höhe von umgerechnet 6,5 Milliarden Euro erscheint den Politikern zu hoch.

2001 Abschluss der zweiten ITER-Planungsphase: Halbierung der 1998 projektierten Kosten.

2003 Beginn eines politischen Tauziehens um den Standort: Cadarache in Frankreich oder Rokkasho in Japan?

28.6.2005 Standort-Entscheidung zugunsten von Cadarache, erkauft mit großen Zugeständnissen an Japan.

2015/2016 Geplante erste Zündung des fertig gestellten ITER-Fusionsreaktors.

etwa 2030 Im Erfolgsfall des ITER-Projekts: Bau des Demonstrationsreaktors DEMO.

ab etwa 2055 Wenn DEMO gut funktioniert: Bau des ersten wirtschaftlich arbeitenden Fusionsreaktors.

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