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DIE BACHELOR-MISERE

Gesellschaft|Psychologie

DIE BACHELOR-MISERE
Die neuen Bachelor-Studiengänge lassen viele junge Menschen scheitern. Immer mehr suchen psychologischen Rat.

Sie fühlen sich total überfordert, und haben bei jeder Prüfung panische Angst durchzufallen. Sie essen und schlafen kaum mehr. Ihr Leben besteht nur noch aus Lernen, Lernen, Lernen – es ist der totale Stress. Zeit zum Geldverdienen oder für Freunde bleibt ihnen nicht mehr. Ihre Gedanken kreisen ständig um die Uni. „ Solche Klagen höre ich in letzter Zeit immer häufiger. Und oft sind es Bachelor-Studenten, die mit diesen Problemen zu uns kommen“, berichtet Sabine Köster, Leiterin der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studentenwerks Karlsruhe (PBS).

Viele junge Menschen leiden unter dem zunehmenden Druck während des Studiums. Dabei sollte mit dem neuen Bachelor-Abschluss vieles besser werden: Straffere Studiengänge, mehr Mobilität, schnellere Berufsqualifikation und weniger Studienabbrecher, das versprachen die europäischen Bildungsminister. Als sie sich 1999 in Bologna auf die Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge verständigten, war ihre Absicht, einheitliche Richtlinien innerhalb der Europäischen Union zu schaffen.

ein Schildbürgerstreich

„Die Bologna-Reform ist ein Schildbürgerstreich“, empört sich der Freiburger Soziologe Wolfgang Eßbach, der schärfste Kritiker aus den Reihen der Professoren. Auch die Studenten haben genug von dem Reform-Chaos. Mit Demonstrationen, Kundgebungen und Hörsaalbesetzungen protestierten sie Ende 2009 lautstark gegen die verfehlte Bildungspolitik an deutschen Hochschulen. Immer mehr klagen über Stress, Lern- und Leistungsschwierigkeiten, haben Versagens- und Existenzängste und neigen zu Depressionen. Nach Angaben des Deutschen Studentenwerks ließen sich 2008 bundesweit gut 23 000 Studenten psychologisch beraten. Das waren 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Eine Zunahme von psychischen Problemen bei den Hochschülern beobachtet auch die Leiterin der Karlsruher PBS. Seit 2000 ist dort die Zahl der Ratsuchenden kontinuierlich von 377 auf annähernd 1000 im Jahr 2009 gestiegen.

„Doch der Bachelor per se macht nicht krank oder depressiv“, räumt der Pressesprecher des Deutschen Studentenwerks Stefan Grob ein. Die Ursachen der Misere sind vielfältig: die geänderte Studienstruktur, die Sorge um einen künftigen Arbeitsplatz, soziale Probleme und Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Studiums. „Auch die allgemein gestiegenen Leistungsanforderungen spielen eine große Rolle“, gibt Ulrich Ebner-Priemer vom Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zu bedenken.

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Keine Ausrutscher erlaubt

Die Studenten kommen häufig bereits im ersten Semester zur Beratung, sagt Köster. Und die Mehrzahl seien nicht etwa untalentierte oder labile Studenten, sondern begabte junge Menschen. Köster sieht vor allem ein Problem: „Bei der Umstellung auf den Bachelor wurde der Lehrplan in einigen Studienfächern nicht entrümpelt. Acht Semester Stoff wurden kurzerhand in sechs gequetscht. Hinzu kommt, dass von Anfang an jede Note zählt.“ Im klassischen Unisystem konnten die Studenten trotz eines Ausrutschers noch mit einem sehr guten Examen abschließen. Heute fließt jede Prüfung prozentual in die Abschlussnote ein. Neben ungenügenden Studienleistungen führen beim Bachelor nach wie vor Geldsorgen und mangelnde Motivation häufig zum Studienabbruch. Das ergab eine Studie des Hochschul-Informations-Systems (HIS) von 2008 (siehe Grafik rechts). Sie belegt aber auch, dass ausgerechnet in den am Arbeitsmarkt stark gefragten Ingenieur- und Naturwissenschaften die Abbrecherquoten hoch sind: Ein Viertel aller Studierenden dieser Fachrichtungen verließen 2008 die Uni ohne Abschluss.

Die Hochschulen warben für den Bachelor unter anderem mit einem rascheren Berufseinstieg. „Doch die Studenten sind unsicher, was die Akzeptanz des neuen Abschlusses auf dem Arbeitsmarkt betrifft“, meint Köster. Viele rechnen sich als „ Akademiker zweiter Klasse“ nur geringe Berufschancen aus – und wollen den Master draufsatteln. Doch die Plätze dafür sind begrenzt. Nur wer einen sehr guten Bachelor-Abschluss hat, kann auf einen Master-Studienplatz hoffen.

„Stress, Ängste und Depressionen im Studium müssen aber nicht in die Sackgasse führen“, will die Leiterin der Karlsruher PBS verzweifelten Studierenden Mut machen. „Wir bieten professionelle Hilfe an: in Beratungsgesprächen, in Workshops zum Abbau von Lernschwierigkeiten, zur Stressbewältigung, auch per E-Mail.“ Die Mitarbeiter der Beratungsstelle gehen in die Erstsemester-Veranstaltungen und stellen sich vor. Sie schulen Tutoren und Fachschaften. Auch die Dozenten werden sensibilisiert, das Thema in ihren Veranstaltungen anzusprechen und auf die Beratungsstelle zu verweisen.

SPORT UND YOGA reichen nicht

Auf Initiative der Karlsruher PBS wurde zudem ein Runder Tisch gegründet. Im Oktober 2009 trafen sich dort Vertreter der Hochschulen, der Studierenden und des baden-württembergischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst zum zweiten Mal, um gemeinsame Konzepte gegen die psychische Belastung der Hochschüler zu entwickeln. Tipps, wie Studenten besser mit Stress umgehen können, gab es auch bei den Karlsruher Stresstagen, die im November 2009 vom House of Competence des KIT organisiert wurden. In vielen Seminaren und Workshops erfuhren die Studenten dort, wie sie Stress bewältigen können. „Das kann Sport sein, Yoga oder eine aktive Freizeitgestaltung“, rät Ebner-Priemer vom Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie. Doch damit allein wird man die „Bacheloritis“ nicht heilen können. Kritiker fordern: Die Therapie muss beim Bologna-Prozess selbst ansetzen. Eine Reform der Reform kommt für den Soziologen Eßbach allerdings nicht in Frage: Er wünscht sich eine Rückkehr zu Diplom- und Magister-Studiengängen. Zudem plädiert er für einen Ausbau von berufsbildenden Fachhochschulen.

Im Dezember 2009 einigten sich Hochschulen und Landesministerien erst einmal auf Nachbesserungen: Begrenzung der Stofffülle und der Zahl der Prüfungen, flexiblere Gestaltung der Studienzeiten und leichterer Hochschulwechsel durch einfachere Anerkennung von Prüfungen. Doch ob sich die Situation der Studenten durch die Beschlüsse verbessern wird, bleibt abzuwarten. Eßbach ist skeptisch: „Es ist zu befürchten, dass die Hochschullehrer, die zehn Jahre lang Versuchskaninchen waren, keine Lust mehr auf Änderungen haben. Bei ihnen herrscht keine Aufbruchstimmung mehr.“ ■

von Sabine Löcher-Bolz

Warum Studenten DAS HANDTUCH WERFEN

Vor zehn Jahren gaben Hochschüler ihr Studium hauptsächlich auf, weil sie sich beruflich neu orientierten. Bei der Befragung 2008 standen dagegen Leistungsprobleme im Vordergrund. Bachelor-Studenten hörten dabei im Schnitt fünf Semester früher auf als Studenten klassischer Studiengänge.

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