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FORMVOLLENDET

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FORMVOLLENDET
Proteine steuern das gesamte Leben – wenn sie richtig gefaltet sind. Falsch gefaltete Eiweiße stehen hinter schweren Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson. Mit Supercomputern versuchen Forscher, die Raumstruktur der Schlüsselmoleküle immer genauer vorherzusagen.

Es ist der 5. Mai 2008, 14.30 Uhr in Nash-ville, Tennessee, als das Rennen beginnt. Draußen vor dem Fenster brennt die Südstaatensonne auf den Campus der Vanderbilt University. Hier drinnen in einem vollklimatisierten Raum voller Computer gehen die Wettkämpfer in Jeans und T-Shirt an den Start. Nils Wötzel, Julia Köhler, Nathan Alexander und Mert Karakas, allesamt Doktoranden Mitte 20, blicken auf einen der Bildschirme und warten. Endlich erscheint eine Abfolge von Buchstaben: MFSLRDAKC… Ein unaussprechliches Wort, 103 Buchstaben lang. Es bezeichnet ein Protein, also ein Eiweiß, das aus einer Kette von 103 Aminosäuren besteht. Mit diesem Signal beginnt der Wettbewerb, an dessen Ende die jungen Wissenschaftler aus der Gruppe des deutschen Strukturbiologen Jens Meiler vorhersagen wollen, wie dieses und mehr als 100 weitere Proteine aussehen. Mit ihnen wetteifern 236 Teams weltweit.

Die Struktur von Proteinen aufzuklären, ist eine der zentralen Fragen der modernen Biologie. Proteine steuern alle Lebensprozesse – bei Pflanzen, Tieren und Menschen. Ob es um die Kontraktion unserer Muskeln, die Verdauung von Nahrung oder unser Sehen, Hören und Schmecken geht, Proteine vermitteln fast alle Vorgänge in Lebewesen – auch bei Krankheitserregern. Die Reihenfolge der Aminosäuren von Proteinen zu bestimmen, ist heute kein Problem mehr. Aber nur bei 0,7 Prozent der Makromoleküle ist die dreidimensionale Struktur bekannt – und allein die entscheidet darüber, ob sie in den Lebewesen ihre Funktion erfüllen können.

Falsch gefaltete Proteine verursachen Krankheiten, das weiß man spätestens, seit die Ursachen für BSE und die Creutzfeld-Jakob-Krankheit bekannt sind. Aus harmlosen Eiweißen werden durch eine Veränderung der dreidimensionalen Struktur tödliche Prionen, die ihrerseits wieder harmlose Proteine in die gefährliche Form umwandeln. Prionen-Erkrankungen sind selten, aber sie zeigen, was Strukturveränderungen von Proteinen auslösen können. Weitaus häufiger sind Krankheiten, bei denen Proteine verklumpen, statt ihre richtige Form anzunehmen: die Alzheimer’s che und die Parkinson’sche Krankheit, an denen Millionen Menschen im Alter leiden, gehen auf solche Fehler in der Proteinfaltung zurück. Neueste Studien legen nahe, dass „kranke” Proteine innerhalb des Körpers – ähnlich wie Prionen – herkömmliche Formen bestimmter Proteine umfalten.

Und dann gibt es noch die Erkrankungen, die von einzelnen Mutationen ausgelöst werden – Gen-Veränderungen, die ein funktionsuntüchtiges Protein zur Folge haben. Bekannt ist das Protein p53: „Wächter des Genoms” wird es genannt, denn es hilft dabei, Tumore zu verhindern. Treten Fehler bei der Verdoppelung der Erbsubstanz auf, hält es den Prozess an und sorgt dafür, dass das Reparatursystem in Gang kommt. Sind die Schäden in der DNA schwerwiegend, aktiviert es die Selbsttötung der Zelle. Wenn p53 aber durch eine Mutation falsch gefaltet ist, kann es das Genom nicht mehr überwachen. Zellen können sich dann unbeschränkt teilen – Krebs entsteht. Bei 50 Prozent aller menschlichen Tumore ist p53 mutiert.

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Rosettas Grenzen

Weltweit versucht man heute Proteinstrukturen aufzuklären, um die Ursachen von Krankheiten zu verstehen und neue Medikamente zu entwickeln. Allerdings binden 50 Prozent aller Arzneimittel an Proteine, die in der Zellmembran verankert sind – und bei diesen lässt sich die dreidimensionale Form noch schwerer bestimmen als bei löslichen Proteinen: Nur von 0,04 Prozent ist die Struktur bekannt.

Jens Meilers Arbeitsgruppe in Nashville ist entschlossen, das zu ändern. Der internationale Wettbewerb, bei dem die vier Doktoranden an den Start gehen, heißt „CASP”. Die englische Abkürzung steht für „Kritische Überprüfung von Techniken zur Vorhersage von Proteinstrukturen”. Er läuft so ab: Forscher, die eine Proteinstruktur experimentell bestimmt haben, halten die Veröffentlichung ihrer Daten zurück. Die Vorhersage-Teams bekommen die Buchstabenfolge, die sogenannte Aminosäuresequenz, erstellen mit Computer-Programmen eine hypothetische Struktur – und Wochen später werden Modelle und Realität miteinander verglichen. Auf einer Konferenz sieben Monate nach Beginn des Wettbewerbs wird verkündet, welche Teams am besten abgeschnitten haben.

Jens Meiler hat schon als Postdoktorand an CASP teilgenommen. Er arbeitete vier Jahre beim Erfinder der computergestützten Proteinstruktur-Vorhersage, David Baker, in Seattle. Dort war er beteiligt an der Entwicklung des bekanntesten und bislang erfolgreichsten Vorhersage-Programms: „Rosetta”. Mit Rosetta errang Meiler zwei erste Plätze bei CASP. Seine Arbeits-gruppe nimmt nun zum ersten Mal mit einem selbstentwickelten Programm teil. „Bei Membranproteinen und bei Proteinen, die keinem bisher bekannten Molekül äh- neln, hat Rosetta seine Grenzen”, sagt Meiler. „Die wollen wir mit unserem Programm überwinden.”

KANAL IM HERZEN

Ein Beispiel für ein Membranprotein ist HERG, das in Herzmuskelzellen vorkommt. Es bildet einen Kanal zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Zelle. Durch ihn strömen nach der Kontraktion Kalium-Ionen aus der Zelle, eine Voraussetzung dafür, dass das Herz bald wieder Blut pumpen kann. Funktioniert der Kanal nicht richtig, kann es zu Herzrhythmusstörungen kommen. Viele Medikamente, darunter manche Antibiotika und Psychopharmaka, binden an HERG und führen deshalb zu Herzrhythmusstörungen. Deshalb muss heute jedes potenzielle Arzneimittel, bevor es am Menschen getestet wird, darauf untersucht werden, ob es an HERG bindet. Und das ist ein Problem: Obwohl HERG eines der meistuntersuchten Proteine ist, ließ sich seine genaue Struktur bislang nicht aufklären. Algorithmen, neuronale Netze und Supercomputer sollen nun die Suche beschleunigen.

In der 8. Runde des CASP-Wettbewerbs ist auch ein Protein dabei, das am Aufbau von Bakterien-Zellwänden beteiligt ist und eine zentrale Rolle bei der Resistenz gegen Antibiotika spielt. Viele Antibiotika, darunter Penicillin, binden an dieses Protein, hemmen dadurch seine Funktion und verhindern so, dass sich Krankheitserreger vermehren. Aber für die Forscher in Nashville ist es schlicht das „Target” („Ziel”) mit der Nummer 409. Bei CASP geht es nicht um die Funktion bestimmter Proteine, sondern um die grundsätzlichen Prinzipien der Proteinfaltung und wie sie sich im Computer simulieren lassen.

Nils Wötzel startet das Programm, mit dem die Struktur vorhergesagt werden soll. Der Supercomputer, der einen Raum in einem Nachbargebäude füllt und etwa die gleiche Leistung hat wie 2000 herkömmliche PCs, beginnt zu rechnen. In wenigen Tagen werden die ersten Modelle vorliegen.

Proteine gehören zu den komplexesten Molekülen überhaupt. Sie enthalten bis zu 100 000 Atome und bilden die verschiedensten Strukturen – vom reißfesten Baumaterial Kollagen bis zum variablen Antikörper. Auf einer Tafel, die neben dem Computer an der Wand hängt, sind mit Filzstift die Strukturformeln der 20 Aminosäuren geschrieben, aus denen Organismen Eiweiße aufbauen. Alle haben einen identischen Teil – und einen sogenannten Rest, in dem sie sich unterscheiden.

Ein durchschnittliches Protein hat eine Länge von 300 Aminosäuren, es gibt also 20 hoch 300 Kombinations-Möglichkeiten. Diese Zahl ist so groß, dass es im gesamten Weltraum nicht genügend Atome geben würde, um auch nur ein einziges Exemplar von jedem Molekül herzustellen. Trotzdem hat die Natur nur wenige dieser Kombinationen verwirklicht – und zwar solche, die in stabilen dreidimensionalen Formen in Lebewesen vorkommen: zum Beispiel in einer Grundform und davon abwei- chenden Varianten, die sich durch die Wechselwirkung mit anderen Molekülen ausbilden.

WUNSCHTRAUM seit Jahrzehnten

Proteine falten sich schon während der Synthese. Sie gehorchen dabei inneren Kräften, die sie in den energetisch günstigsten Zustand zwingen. Allen diesen Kräften ist gemeinsam: Sie sind bereits in der Aminosäuresequenz angelegt. Seit Jahrzehnten haben Wissenschaftler deshalb den Wunschtraum, allein anhand der Abfolge der Aminosäuren die Struktur eines Proteins vorherzusagen. Doch trotz vieler Jahre intensiver Forschung sind die Computermodelle bislang nur Annäherungen. Einzelne Atome innerhalb eines Proteins haben einen Durchmesser von etwa einem Ångström (einem 10 Milliardstel Meter). Die besten Schätzungen liegen im Durchschnitt bis 5 Ångström daneben, mittelmäßige bis 10 und schlechte 20 und mehr.

Es gibt heute vor allem zwei Verfahren, Proteinstrukturen experimentell aufzuklären. Die Kernresonanzspektroskopie und die weitaus am häufigsten genutzte Röntgenstrukturanalyse. Bei Letzterer wird zunächst ein Proteinkristall hergestellt. Durch dieses wird dann Röntgenlicht geschickt – und anhand der Beugungsmuster lässt sich die Struktur berechnen. Aber viele Proteine, besonders solche, die in Membranen sitzen, haben bis heute keine Kristalle gebildet. Bei ihnen kann die Kernresonanzspektroskopie angewendet werden. Doch das ist ein sehr langwieriges Verfahren, wie ein aktuelles Beispiel belegt: 13 Jahre brauchte eine weltweite Kooperation von Forschern, bis diese im Juni 2009 in der Zeitschrift Science die Struktur der Diacylglycerol-Kinase verkünden konnten, eines wichtigen Stoffwechsel-Enzyms, das in der Zellmembran sitzt. Die Schwierigkeiten bei der Aufklärung von Proteinstrukturen zeigen, welchen Aufwand man sich ersparen könnte, wenn eine verlässliche Vorhersage am Computer möglich wäre.

rote Spiralen und grüne pfeile

Nashville, drei Wochen nach dem Beginn des Wettbewerbs: Besprechung der Wissenschaftler vor einem Bildschirm. Aus der Buchstaben-Folge sind dreidimensionale Strukturen geworden. Zehn verschiedene Vorhersagen von Target 409 hat die Gruppe mit verschiedenen Methoden erstellt. Jetzt diskutieren die Forscher, welche eingereicht werden sollen. Auf dem Bildschirm erscheint zunächst ein Bündel aus roten Spiralen und grünen Pfeilen. Sie stellen die sogenannten Sekundärstrukturen des Proteins dar. Bevor die Aminosäurekette sich in ihre räumliche Struktur faltet, windet sie sich entweder wie eine Wendeltreppe zu einer Alpha- Helix (in der Computersimulation: Spirale) oder bildet eine Fläche, das beta-Faltblatt (Pfeil). Auf dem Bildschirm sieht es sehr unübersichtlich aus. „Das wird hart, aber wir versuchen es”, sagt Nils Wötzel. Das Molekül ist mit 103 Aminosäuren zwar nicht sehr groß, besteht aber aus vielen Faltblättern, die viel schwerer zu simulieren sind als Helices.

Der Doktorand dreht das Protein am Bildschirm und ruft dann eine zweite Vorhersage auf. Die sieht etwas anders aus als die erste. Die zweite Prognose weist an einer Stelle ein Faltblatt auf, wo die erste eine Helix zeigt. Drei nachdenkliche Gesichter spiegeln sich auf dem Bildschirm. „Wir müssen entscheiden, welche Modelle wir einreichen”, drängt Nathan Alexander. Fünf Modelle pro Target dürfen am Wettbewerb teilnehmen. „Das hier sieht einem Protein am ähnlichsten”, sagt Julia Köhler und deutet auf eines der bunten Knäuel. „Bei diesem Modell ragt die Helix nicht so heraus wie bei dem anderen Modell.” Die Gruppe beschließt, Köhlers Favoriten einzureichen – und das Modell, das sich von ihm am stärksten unterscheidet. „Wir wollen ja bei dem Wettbewerb etwas lernen, und am besten lernt man aus Fehlern”, meint die Doktorandin.

Sieben Monate später, im Dezember 2008, werden die Ergebnisse präsentiert. Die Computer-Simulationen von Target 409 aller beteiligter Gruppen unterscheiden sich stark von der echten Struktur. Es ist noch ein weiter Weg, bis man die Natur der Proteinfaltung per Computer voraussehen kann, das wird hier einmal mehr klar. Die besten Simulationen liegen 3,1 Ångström daneben, die der Meiler-Gruppe 13,5. Das bedeutet für dieses Protein Platz 75 unter 129 Gruppen, die dieses Target bearbeitet haben. Es gibt auch Moleküle, bei denen die Forscher aus Nashville besser abschneiden: Bei Target 396 liegen sie nur 4 Ångström daneben. Insgesamt rangieren die Wissenschaftler aus Nashville im Mittelfeld. Enttäuscht? „Nein. Wir haben mit unserem neuen Programm das erste Mal beim Wettbewerb teilgenommen. Ausgereift ist es noch nicht. Beim nächsten Mal landen wir weiter vorn”, sagt Wötzel. Die Vorbereitungen laufen längst. Am 3. Mai 2010 beginnt CASP 9, der neue Wettbewerb. ■

Frederik Jötten ist Biologe und freier Journalist. Während des Studiums mühte er sich vergebens, ein Protein des Malaria-Erregers zu isolieren.

von Frederik Jötten

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John W. Moore und Tina Blasche BIOCHEMIE FÜR DUMMIES Wiley-VCH, Weinheim 2009, € 19,95

Vivienne Baillie Gerritsen TALES FROM A SMALL WORLD Swiss Institute of Bioinformatics 2009 Zu beziehen über www.proteinspotlight.org Auf dieser Website wird jeden Monat ein Protein populärwissenschaftlich vorgestellt. In dem Buch sind Texte aus der Serie gesammelt.

INTERNET

Wie Laien sich am virtuellen Proteine- Falten beteiligen können, erfahren Sie auf www.wissenschaft.de unter dem Menüpunkt „ Aktuelles Heft”.

KOMPAKT

• Die Entschlüsselung der dreidimensionalen Struktur von Proteinen ist so schwierig, dass Wissenschaftler erst von 0,7 Prozent der bekannten Eiweiße die Form kennen.

• Biologen und Informatiker setzen darum Grips und Computer ein, um mehr Eiweiß- strukturen aufzuklären.

• In einem internationalen Vorhersage-Wettbewerb messen sie ihre Kräfte.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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