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Mystische Mythen

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Mystische Mythen
Was steckt hinter der Aufregung um alte Menschheitsrätsel? Warum ist alle Welt so versessen darauf herauszufinden, ob und wo ein Mythos Wirklichkeit war? bdw-Redakteur Michael Zick sichtet die Bücher zum Thema – und zieht Bilanz.

Atlantis lag bei Helgoland. Oder war Ceylon die sagenumwobene Insel? Vielleicht ging das mythische Reich ja auch im Sahara-Sand unter. Holland kommt – laut etlicher Atlantisbücher – ebenfalls in Frage, aber auch der Kaukasus, Spitzbergen, Palästina, die Krim, Schweden, Südafrika, Preußen, die Arktis oder Nigeria, und natürlich die Bahamas. Manche Autoren halten die Atlanter für Goten. Oder waren sie Gallier, Druiden, Skythen, Ägypter oder Götterabkömmlinge? Von Atlantis aus wurde die Welt besiedelt, heißt es, Mexiko wie Afrika, die Pazifikküste Südamerikas wie das Mississippidelta. Die Azteken hatten angeblich mit Atlantis zu tun – und das alte Ägypten war dessen pure Reproduktion. Auch Kreta war mal im Gespräch. Und der Geoarchäologe Eberhard Zangger hat in seinen Büchern Atlantis und Die Zukunft der Vergangenheit die mystische Insel nach Troja verlegt. Während die Suche weitergeht, streiten sich andere Experten, ob es Atlantis überhaupt jemals gegeben hat. Wo begann der ganze Ärger? Der gealterte Platon (427 bis 347 v. Chr.) wollte die Geschichte der Menschheit von den Urgründen bis zu seiner hochzivilisierten Zeit darlegen. Vor allem wollte er – angesichts übler Verhältnisse im Athen seiner Zeit – den vorbildlichen Staat mit idealen Menschen und idealem Verhalten beschreiben. Dafür stellte Platon, dem es mehr auf die philosophische als auf die historische Wahrheit ankam, in zwei Dialogen Atlantis vor: Eine „gewaltige Macht, die vom Atlantischen Ozean aufgebrochen war und in ihrem Übermut gegen ganz Europa und Asien zugleich herzog“. Die Ur-Athener waren so ziemlich die einzigen, die sich dem Ansturm entgegenstellten: Sie waren siegreich, aber dann ereigneten sich „schreckliche Erdbeben und Überflutungen, es kam ein einziger fürchterlicher Tag und eine Nacht, da wurde eure (die athenische) gesamte Kriegsmacht von der Erde verschlungen, und ebenso ging die Insel Atlantis im Meer unter und verschwand.“

Platons Dialoge Timaios und Kritias sind die einzigen Quellen für den Atlantismythos – ein idealer Nährboden also für Spekulationen: Pure Dichtung oder ein Körnchen historische Wahrheit? Das ferne Echo der Sintflutmythen oder Vehikel zum Transport einer neuen Platon-Idee – wie die Schattenhöhle des Denkers, die niemand sucht? Warum muß man eigentlich wissen, ob und wo ein Mythos Wirklichkeit war? Warum muß ein Rätsel immer gelöst werden? Die Gier des Menschen, Grenzen zu überschreiten, läßt ihm anscheinend keine andere Möglichkeit. Seine Neugier ist seinem kontrollierenden Bewußtsein offenbar ebenso entzogen wie Hunger und Durst dem steuerbaren Nervensystem. Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden, denn ohne Neugier und Grenzüberschreitung gäbe es keinen Fortschritt. Aber: Was machen wir dann mit der neuen Erkenntnis? Wer Bescheid weiß, hat die Unschuld verloren und kann sich nicht mehr auf den bequemen Standpunkt zurückziehen: Ich habe nur geforscht. Manche Mythen gebären jedes Jahr „endgültige“ Bücher. Atlantis zählt seit Generationen dazu, zum Beipiel Das verlorene Atlantis von Martin Freksa und Atlantis – Geschichte einer Utopie von Burchard Brentjes. Beliebt ist auch die Sintflut, mit der jede untergegangene Hochkultur in Verbindung gebracht wird. Der bislang älteste Hinweis auf eine menschenverschlingende Wasserkatastrophe findet sich im sumerischen Gilgamesch-Epos, das im dritten vorchristlichen Jahrtausend spielt.

Im letzten Jahr haben die beiden amerikanischen Geophysiker Walter Pitman und William Ryan in Sintflut das „Rätsel entschlüsselt“ (Untertitel). Für sie fand die große Flut nicht im Zweistromland statt, sondern war ein abruptes Überschwappen des Mittelmeers ins Schwarze Meer: Vor 7600 Jahren stiegen die Ozeane als Folge des Eiszeitendes so gewaltig an, daß das salzige Mittelmeerwasser mit Urgewalt in das tiefergelegene Süßwasser-Becken des Schwarzen Meeres donnerte, alles am Rand und im Umkreis dieser blühenden Oase – dem Garten Eden? – vernichtete und die Menschen vertrieb. Wurden so Landwirtschaft und Kultur im Vorderen Orient verbreitet? War die Sintflut des Gilgamesch-Epos nur Ausfluß einer kollektiven Erinnerung an diese Katastrophe? Die Autoren haben so ziemlich alles zusammengetragen, was an archäologischen, genetischen und linguistischen Indizien für ihre These sprechen könnte. Mit der gleichen Überzeugungsmacht aber wollten vor Jahren zwei andere Amerikaner die Sintflut „vom Mythos zur historischen Wahrheit“ befördern. Für die Geologen Alexander und Edith Tollmann stand fest: Und die Sintflut gab es doch. Für sie war die große Flut ein weltumspannendes Ereignis und rührte von einem Meteoriteneinschlag vor 9545 Jahren her. Rätsel reizen – wer will richten? Jeder Einspruch erzeugt Widerspruch – und alle Mythendeuter erheben den Anspruch auf die letzte Wahrheit: So werden neue Mythen erschaffen. Die Mythen sind Teil des Menschseins, egal ob erlebt oder erdichtet. Seit rund 20 Jahren beobachten Gesellschaftsforscher eine „Remythisierung“ vor allem westlicher Kulturen. Denn: Die europäische Aufklärung ist vergessen – die Wissenschaft ist ihrem Anspruch, alles zu erklären und alles besser zu machen, nicht gerecht geworden. Der vereinzelte und verunsicherte Mensch sucht in den Lebensdeutungen alter Kulturen nach Halt. Das ist schwierig und endet oft in platter Esoterik. Nun mag die wissenschaftlich nachgewiesene Echtheit des Turiner Grabtuches eine Stütze für den Glauben sein. Andere Mythen werden mißbraucht oder banalisiert: Auf Kreta beanspruchen zwei Orte, die Geburtshöhle des griechischen Göttervaters Zeus zu sein. Israel und Jordanien streiten um den wahren, archäologisch faßbaren Taufort Christi. Das Grab von Alexander dem Großen wird nahezu jedes Jahr an anderer, touristisch wichtiger Stelle geortet. Troja dagegen ist Wirklichkeit geworden. Die Hängenden Gärten der Semiramis hatte man angeblich in Babylon gefunden – bis die genauere Untersuchung des Bauwerks den Titel wieder aberkannte. In der omanischen Oase Shisr meinte man mit hochtechnischer Satelliten-Archäologie die goldglänzende, hoffärtige und deshalb vom Erdboden verschlungene Weihrauchmetropole Ubar des Korans aufgespürt zu haben – auch davon will heute niemand mehr etwas wissen (bild der wissenschaft, 9/1990: „Die Heiligen Steine der Omani“). Um den Ort der Varusschlacht wird noch gestritten (Die Varusschlacht – Anatomie eines Mythos). Nach dem Standort des Grals wird weiterhin gesucht (Kelten, Druiden und König Arthur). Die Besiedlung Australiens lockt immer wieder Abenteurer in Schilfbooten aufs Wasser (Nale Tasih – Eine Floßfahrt in die Steinzeit). Wie die Zeichen von Nazca entstanden, ist bekannt – aber warum Menschen Bilder in den chilenischen Wüstenboden scharrten, die nur aus der Luft zu erkennen sind, darüber streiten die Gelehrten (Nasca – Geheimnisvolle Zeichen im Alten Peru).

Dauerbrenner unter den Rätseln sind die ägyptischen Pyramiden: Warum, um Osiris‘ Willen, hat man sie gebaut? Wie, in Isis Namen, hat man sie errichtet? Jedes Jahr kommt mindestens ein Buch heraus, meist im Eigenverlag, das darauf eine glasklare Antwort geben will. Nur die Archäologen sagen bescheiden: Wir wissen nicht, wie den Pyramiden die Spitze aufgesetzt wurde. Warum haben die ansonsten so geschwätzigen alten Ägypter auch keine Nachricht darüber hinterlassen! Auch diese, auf den ersten Blick eher technischen Rätsel der Vergangenheit führen zum Kern aller menschlichen Fragen: Warum sind wir da? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Helma Marx hat in der Anthologie Das Buch der Mythen aller Zeiten, aller Völker die Zweiteilung der menschlichen Lebenswelt analysiert: „Die Menschen nehmen die Dinge der Außenwelt mit den Sinnen wahr. Sie spüren und tasten sie, oder sie sehen und hören sie … Doch vermuten sie hinter den sichtbaren Dingen noch unsichtbare Bereiche und Wesen, die auf sie wirken können. Sie fühlen sich einer unsichtbaren Welt ausgesetzt, die genauso wirklich ist wie die sichtbare Welt.“

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Damit aber entsteht etwas, was der Mensch in seinem Wahn schlecht oder gar nicht ertragen kann: Es gibt offenbar eine Welt, über die er nicht nach Belieben verfügen kann. Das ist ärgerlich und macht Angst. Die Mythen sind die Kommunikation der Menschheit über diese Welt. Und vielleicht sind sie der Weg in diese andere Ebene. Will man also die Angst bannen, muß man die Mythen entzaubern. Will man sich selbst behaupten, muß man die Rätsel lösen. Aber Vorsicht: Die Maya-Götter trübten die Augen der Menschen, als sie erkannten, daß ihre Geschöpfe so klug waren wie sie selbst. Und die ersten christlichen Menschen wurden aus dem Paradies vertrieben, als sie vom Baum der Erkenntnis naschten.

Der Garten Eden – noch so ein nicht entschleierter Mythos. Welche fallen Ihnen noch ein?

Mythen

Eberhard Zangger Die Zukunft der Vergangenheit Schneekluth, 1998, DM 44,-

Eberhard Zangger Atlantis Droemer (vergriffen)

Platon Philebos, Timaios, Kritias Insel Taschenbuch Nr. 1408 1991, DM 24,80

Martin Freksa Das verlorene Atlantis Klöpfer und Meyer 1997, DM 49,80

Burchard Brentjes Atlantis – Geschichte einer Utopie Dumont, Köln 1994 (vergriffen)

Walter Pitman, William Ryan Sintflut Gustav Lübbe Verlag 1999, DM 42,-

Alexander und Edith Tollmann Und die Sintflut gab es doch Knaur 1995, DM 16,90

Manfred Millhoff Die Varusschlacht – Anatomie eines Mythos Frieling & Partner, Berlin 1995 (vergriffen)

Geoffrey Ashe Kelten, Druiden und König Arthur Mythologie der Britischen Inseln Walter-Verlag 1997 DM 49,80

Robert G. Bednarik, Martin Kuckenburg Nale Tasih – Eine Floßfahrt in die Steinzeit Thorbecke 1999 DM 59,-

Nasca – Geheimnisvolle Zeichen im Alten Peru Museum Rietberg 1999, SFr 58,-

Helma Marx Das Buch der Mythen aller Zeiten, aller Völker Diederichs Verlag 1999, DM 49,80

Michael Zick

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