Ein typischer Alt-68 ist der neue Direktor des Stuttgarter Lindenmuseums nun wirklich nicht. Der Ethnologe Thomas Michel studierte zur Zeit der Studentenunruhen zunächst Volkswirtschaft mit Schwerpunkt Börsenwesen. Michel begann seine ungewöhnliche Karriere 1970 in Melbourne, wo er mit Aktien sein Glück versuchen wollte. Ausgerechnet der Chef seines Börsenmaklerbüros setzte ihm dort die Flausen in den Kopf, sich doch mal mit den Kannibalen im benachbarten Neuguinea zu beschäftigen. Gesagt, getan: Fasziniert von der Lebensart, den Ritualen und dem urwüchsigen Alltagsleben der letzten Steinzeitgruppe, begann er 1971 Völkerkunde in Frankfurt am Main zu studieren. 1979 hatte Michel als 32-jähriger dann seinen Doktor in der Tasche. Seitdem lassen ihm die Eipos, die als Kannibalen berüchtigten Asmat sowie die Nalumin aus den Starmountains im zentralen Hochland Neuguineas keine Ruhe. Alle zwei bis drei Jahre steht für Michel immer wieder ein Besuch auf dem Programm. Ihre Dörfer waren schließlich für rund zweieinhalb Jahre sein Zuhause. „Ich hatte dort stets meine eigene Hütte, die ich mir mit einem Schwein und einem Hund teilte und war voll integriert“, berichtet Michel. Wer 24 Stunden am Tag unter Kannibalen lebt, der kommt auch an ihren Ritualen nicht vorbei – dem Verzehr eines Menschen. „Das war nur einmal der Fall. Schließlich muss zunächst ein Feind erlegt werden, den man zudem noch vor dem feindlichen Stamm in die Finger kriegen muss“, berichtet Michel. „Inzwischen werden mehr und mehr der einstigen Urvölker von Missionaren heimgesucht und so von der Steinzeit plötzlich ins moderne Leben geschleudert“, bedauert der frisch gebackene Museumsdirektor. Vielleicht erwarten ihn bei seinem nächsten Besuch in Neuguinea bereits Krankenhäuser statt Medizinmänner, und Polizisten statt Häuptlinge. Auf jeden Fall werden seine Erfahrungen das Stuttgarter Lindenmuseum um einige Ausstellungsstücke bereichern.
Thomas Niemann