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Die Macht des traumlosen Schlafs

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Die Macht des traumlosen Schlafs
Jan Born hat erforscht, wie der Schlaf die Erinnerung unterstützt. Jetzt will er wissen, wie dieser Prozess sich beim Kind entwickelt.

Am Ende des Gesprächs im schummrigen Schlaflabor in Tübingen wird Jan Born philosophisch: „Gedächtnis ist immer ein Konstrukt“ , sagt er. „Etwas, das aus dem Unbewussten ins Bewusstsein gehoben wird.“ Das gelte sogar für etwas so scheinbar Banales wie unsere Vorstellung vom Raum. „Nach Immanuel Kant sind Raum und Zeit Erfahrungen, die uns von vornherein, a priori, gegeben sind. Aber in der psychologischen Wirklichkeit ist nur die Zeit a priori da: in der Abfolge der Nervensignale. Der Raum ist ein Konstrukt unseres Gehirns.“

Für den Schlaf- und Gedächtnisforscher Jan Born, 54, sind sogar unsere Träume Konstrukte: Erfindungen, die das erwachende Gehirn aus den Nervensignalen der letzten unruhigen Schlafminuten zusammenbaut. Er kann das zwar nicht beweisen. Aber seine Gegner, die an ein reales Traum-Erleben glauben, „aus reiner, laienhafter Intuition heraus“, wie der Psychologe schimpft, können ihren Standpunkt ebenso wenig belegen.

NICHTS LOS IM KOPF?

Anfangs hat Born – von Sigmund Freud geprägt, wie viele Psychologen seiner Generation – geglaubt, der Traumschlaf habe etwas mit unseren Erinnerungen zu tun. Die nächtlichen Phasen, in denen der Mensch träumt – angeblich oder wirklich –, verraten sich durch körperliche Unruhe, insbesondere durch schnelle Augenbewegungen, englisch: rapid eye movements oder kurz REM. Hätte man Born zu Beginn seiner Karriere gefragt, in welcher Schlafphase Erinnerungen gefestigt werden, hätte er auf den REM-Schlaf getippt. Doch in jahrzehntelanger experimenteller Forschung an der Universität Lübeck hat er festgestellt, dass das Gegenteil richtig ist: Für das Funktionieren unseres Gedächtnisses ist der Tiefschlaf entscheidend.

Es durchläuft nämlich mindestens zwei Stufen: Unsere Erinnerungen werden zunächst vorläufig in einem provisorischen Speicher deponiert und gelangen erst später ins Langzeitgedächtnis. Dieses „Überspielen“ der Erinnerungen geschieht im Tiefschlaf – genau in den Phasen der Nacht, in denen der Mensch still liegt und in seinem Kopf scheinbar gar nichts passiert.

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Aber nur scheinbar. In Wirklichkeit ist der Mensch – insbesondere der junge Mensch, der nachts noch besonders lange tief schläft – in dieser Zeit auf der Höhe seiner Kreativität. „ Im Schlaf sortieren wir Muster aus einem scheinbar chaotischen Strom von Informationen heraus“, beschreibt es Born.

Das hat er mit seinem Team in einem jüngst abgeschlossenen Versuch gezeigt: Die Lübecker Psychologen ließen Kinder mehrmals nacheinander acht Knöpfe drücken, die stets in einer bestimmten Reihenfolge aufleuchteten. Welche Regel sich in dieser Reihenfolge verbarg, blieb den Kindern verborgen. Auch eine Stunde nach Ende des Versuchs konnten sie kein Muster erkennen. Aber nachdem sie eine Nacht darüber geschlafen hatten, fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen: Die meisten hatten das verborgene Muster erkannt und konnten die Sequenz einwandfrei wiederholen. Es waren Experimente wie dieses, die dem Psychologen 2010 den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) einbrachten, Deutschlands höchstdotierten Forschungspreis im Wert von 2,5 Millionen Euro.

IMPFEn wirkt durch ERINNERUNG

Das Geld will er jetzt in Tübingen ausgeben – für weitere Forschung. Forschung, die die gewohnten Bahnen verlässt, die noch genauer als in den vergangenen acht Jahren, als Borns Team schon systematisch von der DFG gefördert wurde, „die Mechanismen durchleuchten“ soll, wie im Schlaf Erinnerungen gebildet werden. Nicht nur gedankliche Erinnerungen übrigens, sondern auch immunologische Erinnerungen, etwa die Resistenz gegenüber einer Infektion nach einer Impfung.

Und metabolische Erinnerungen: Wenn der Mensch ausreichend schläft, kann er sein Gewicht besser halten. Warum, ist noch nicht genau geklärt. „Aber wir sind auf dem besten Weg, dieses Rätsel zu lösen“, verspricht Jan Born. In Tübingen, wo er 2011 Professor für Medizinische Psychologie geworden ist und die Nachfolge seines akademischen Lehrers Niels Birbaumer antritt, hat er Zugang zu Versuchstieren und einen guten Draht zum Immunologen Hans-Georg Rammensee.

Außerdem wächst dort, hoch über der verwinkelten Altstadt thronend, gerade ein neurowissenschaftlicher Forschungscampus aus dem Boden des Schnarrenbergs. Im 2012 eröffneten Werner-Reichhardt-Zentrum für integrative Neurowissenschaften (CIN) hat Born mit einem Teil seines Teams die oberste Etage bezogen. Weitere Arbeitsgruppen forschen unter seiner Leitung im alten Klinikum im Tal und auch weiterhin in Lübeck und Kiel.

WIE DAS GEDÄCHTNIS HERANREIFT

Tübingen bedeutet in jeder Hinsicht einen Neuanfang für den 54-Jährigen: Im Sommer 2012 wurde er noch einmal Vater, stolzer Vater einer kleinen Tochter. Die beiden ersten Kinder sind bereits erwachsen. Und was er in den kommenden Monaten und Jahren leibhaftig zu Hause miterleben wird, nämlich die körperliche und geistige Entwicklung eines jungen Menschen, das will er nun auch zu seinem persönlichen Forschungsthema machen: Wie entwickelt sich eigentlich das komplexe, zweistufige Gedächtnis? Und welche Rolle spielt der Schlaf dabei?

Dass das menschliche Gedächtnis bei der Geburt noch nicht ausgereift ist, kann jeder leicht feststellen, indem er in Kindheitserinnerungen kramt: Von unserem Leben im Mutterleib haben wir nicht den geringsten Schimmer. Aber auch unsere Babytage haben keine Spur hinterlassen. Aus der Kleinkind-Zeit stechen vielleicht ein paar besondere Episoden hervor – die Geburt eines Geschwisters, ein Unfall, ein Erlebnis mit einem Haustier oder Lieblingsspielzeug. Erst ab dem Schulalter werden die Erinnerungen dichter und lassen sich in detailreichen Geschichten nacherzählen. In der Zeit davor sprechen Entwicklungspsychologen von „frühkindlicher Amnesie“. „Es ist, als hätte jemand die ersten paar Seiten aus unserer Autobiografie herausgerissen“, formulierte es die Wissenschaftsjournalistin Kirsten Weir 2011 in einem Artikel im New Scientist. Seit mehr als 100 Jahren wird an dieser Lücke geforscht.

Die Wissenschaft hat Teilantworten geliefert, was in der Zeit von 0 bis 6 Jahren im Kopf passiert und das Gedächtnis immer besser werden lässt: Dazu gehört die Reifung des Hippocampus, der Gedächtniszentrale des Gehirns. Eine Teilregion dieser Zentrale, der Gyrus dentatus, ist erst im Alter von 4 bis 5 Jahren voll entwickelt. Aber auch der Spracherwerb spielt eine Rolle: Was sich sprachlich ausdrücken lässt, kann man sich besser merken. Auf welche Weise Eltern mit ihren Kindern reden, ob detailreich oder karg, kann die Gedächtnisentwicklung fördern beziehungsweise bremsen. Und – besonders interessant – die Kultur: Mehrere kulturvergleichende Studien haben gezeigt, dass bei europäischen Kindern das Alter der ersten bleibenden Erinnerungen früher liegt (3,5 Jahre) als bei asiatischen (4,8 Jahre). Bei den neuseeländischen Maori mit ihrer reichen Erzähltradition beginnt das autobiografische Gedächtnis sogar extrem früh: im Durchschnitt mit 2,7 Jahren.

In diese lange Forschungstradition will sich Jan Born nun mit Schlaf-Experimenten einreihen, auch wenn er seufzt: „ Standardisiertes Arbeiten mit Kindern ist schwer.“ Einige Studien laufen bereits: So werden in Tübingen Säuglinge und sogar Ungeborene mittels Magnetoen- zephalografie (MEG) untersucht: Dabei werden die schwachen magnetischen Signale des Gehirns sichtbar gemacht, was sogar bei Föten im Mutterleib möglich ist. Die Forscher wollen dadurch unterscheiden, ob das Kind gerade wach ist oder schläft und ob sich durch den Schlaf grundlegende Gedächtnisprozesse beschleunigen – etwa die Gewöhnung an einen oft gehörten Ton oder eine Stimme.

In enger Kooperation mit einer Berliner Arbeitsgruppe um Manuela Friedrich geht Born der Frage nach, ob im Alter von 8 bis 18 Monaten das Schlafen eher dem Wörter- oder dem Kategorien-Lernen auf die Sprünge hilft. „Ab 18 Monaten ist das zweistufige Gedächtnissystem schon gut entwickelt“, erläutert Born. „Das ist auch das Alter, in dem Kinder beginnen, Grammatikregeln zu extrahieren und anzuwenden.“ Auch ein Projekt ist geplant, bei dem Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit gezielter akustischer Berieselung in einen tieferen Schlaf versetzt werden sollen.

DEN INFORMATIONSSTROM STOPPEN

Doch es sind nicht solche Anwendungen, die den experimentellen Psychologen Jan Born vorrangig interessieren. Es geht ihm immer um das Grundsätzliche: Warum wird der Schlaf benutzt, um neue Informationen in den Langzeitspeicher zu überführen? Ginge es nicht auch im Wachzustand? Und warum muss man „offline“ sein, um in einem scheinbaren Chaos ein Muster zu erkennen?

Fasziniert erzählt der Wissenschaftler von Computersimulationen, in denen ähnliche Prozesse wie diejenigen, denen sich der Mensch in seinem nächtlichen Offline-Zustand widmet, durchgespielt wurden. Und siehe da: Auch hier ging beides nur, wenn der Strom neuer Informationen vorübergehend unterbrochen wurde und der Computer sich sozusagen mit sich selbst beschäftigen konnte. „Ein Wiederabspielen von Erinnerungen würde im Wachzustand zu Halluzinationen führen“, folgert Born aus den Erkenntnissen der computergestützten Neurowissenschaft. Und die kann natürlich im Alltag keiner brauchen. ■

JUDITH RAUCH erinnert sich ebenso wie Jan Born gern ans Studium im Leibniz-Kolleg in Tübingen. Einen Leibniz-Preis gewann aber nur er.

von Judith Rauch

Kompakt

· Das Lernen geschieht in zwei Stufen: Erst werden Inhalte in einen Zwischenspeicher abgelegt, dann ins Langzeitgedächtnis überführt.

· Das Übertragen der Erinnerungen findet im Tiefschlaf statt. Dabei werden auch Muster erkannt, die das wache Gehirn nicht deuten konnte.

· Dieser zweistufige Prozess entwickelt sich erst nach der Geburt und ist mit 18 Monaten schon einigermaßen robust.

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