Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

„Ich muß viel einstecken“

Allgemein

„Ich muß viel einstecken“
Joan Roughgardens Blick auf Natur und Forschung hat sich seit ihrer Geschlechtsumwandlung geändert. Ihre These: Bei der Einschätzung des Phänomens „Männlich–Weiblich“ haben sich die Biologen, einschließlich Charles Darwin, oft geirrt und vieles nicht sehen wollen.

bild der wissenschaft: Wie definieren Sie als Biologin „ männlich“ und „weiblich“?

RougHgarden: Ein Organismus ist männlich, wenn er kleine Keimzellen, also Spermien produziert, und weiblich, wenn er große Keimzellen, also Eizellen, hervorvorbringt.

bdw: Demnach gäbe es nur zwei Geschlechter. Sie behaupten doch, es gebe mehrere?

RougHgarden: Nein, es gibt zwar nur zwei Geschlechter in Bezug auf die Größe der Keimzellen, also Eier und Spermien. Es sind jedoch in bestimmten Spezies für jedes Geschlecht mehrere „ Geschlechtsarten“ oder „Spielarten“ möglich. Bei einigen Eidechsen zum Beispiel gibt es mehrere Arten von Weibchen, die sich in Körpergröße und Farbe unterscheiden.

Anzeige

bdw: Wenn wir bei Ihrer Definition bleiben: Haben Sie dann 1998 Ihr Geschlecht oder Ihre „Geschlechtsart“ gewechselt?

RougHgarden: Meine Geschlechtsart. Ich hatte schon immer zweideutige Gefühle, was meine Geschlechtszugehörigkeit anging. Als junger Mann zum Beispiel war ich zwar sehr von meiner Männlichkeit überzeugt. Aber ich wusste auch, dass ich nicht zum Mann reifen konnte. Und nun reife ich so langsam zu einer Frau.

bdw: Was hat Sie zu Ihrem relativ späten „Coming-out“ bewegt? Sie waren schon 52 Jahre alt.

RougHgarden: Unsere Gesellschaft schafft Erfolg versprechende Pfade für Männer, denen „man“ sehr einfach folgen kann. Erst spät wurde mir klar, dass ich mich nicht nur auf diese äußerlichen Strukturen stützen konnte. Ich würde niemals Wege finden, um ein Mann zu bleiben. Hingegen wusste ich auf natürliche Weise, wie es ist, als Frau zu leben.

bdw: Was hat sich seitdem für Sie als Wissenschaftlerin verändert?

RougHgarden: Mein Leben ist schwieriger als zuvor, was daran liegt, das ich nun als Frau an der Fakultät wirke. Außerdem: Wer eine solche Transformation angeht, der verändert sein Leben komplett. Es dauert eine ganze Weile, ehe man sich ein neues Leben geschaffen hat, und das ist nicht einfach. Ich bin immer noch dabei, das zu tun.

bdw: Hat es Ihnen bei Ihrer Transformation geholfen, bereits fachlich etabliert zu sein?

RougHgarden: Ja und nein. Wenn ich mich mit einem Assistenz-Professor vergleiche, der hier in Stanford gerade sein Coming-out hat, dann habe ich natürlich sehr viel mehr Vertrauen in meine fachlichen Fähigkeiten. Ich weiß, was ich tue. Ein Minuspunkt ist, dass die meisten Menschen sehr verunsichert sind, wenn sie auf Transsexuelle treffen. Es ist eine stigmatisierte Rolle, mit denen die wenigsten umgehen können. Ich bringe zwar viel zur Sprache, muss aber auch viel einstecken, um mich hier zu behaupten.

bdw: Fühlen Sie sich diskriminiert?

RougHgarden: Oh ja, jede Frau fühlt sich hin und wieder in ihrer Berufswelt diskriminiert. Als ich am Anfang meiner Umwandlungsphase war, habe ich sehr intim mit Frauen über ihre Erfahrungen gesprochen. Ich war sehr überrascht, wie tief deren Ärger sitzt. Als ich noch als Mann lebte, habe ich diese Gefühle nicht so richtig verstanden, jetzt jedoch umso mehr.

bdw: Haben Sie sich auch charakterlich verändert? Viele Ihrer männlichen und weiblichen Kollegen behaupten, dass Sie als Mann deutlich aggressiver waren.

RougHgarden: Ich war mir immer der starken Konkurrenz innerhalb der Männergruppe bewusst, und ich habe mich dort auch immer behaupten können. Ein Mann zu sein, gibt einem sozusagen den Freipass, sich aggressiv zu verhalten. Ich konnte entweder sehr stark zurückschlagen und dann auch gewinnen, oder gar nicht erst den Kampf wagen. Dazwischen gab es für mich nichts. Das ist jetzt anders. Ich brauche nicht mehr alles auszufechten oder zu klären, wer in welcher Position in der (Männer-)Welt steht.

bdw: Wie bewerten Sie Ihre Geschlechtsumwandlung aus der Sicht als Wissenschaftlerin?

RougHgarden: Viele Lesben, Schwule und Transsexuelle fühlen sich allein, wenn sie ihr Coming-out haben. Das ging mir als Wissenschaftlerin anders. Ich kannte Berichte über Menschen, die ebenfalls eine solche Umwandlung durchgemacht hatten und deren Lebenslauf dem meinigen ähnelte. Ich habe dabei erkannt, dass es eine Art Kategorie gibt, oder vielleicht sogar einen Phenotypen, einen immer wiederkehrenden Charakterzug. Biologisch ausgedrückt: Wir haben hier eine Gruppe von Spezies – ähnlich wie bei Eidechsen oder Vögeln – die alle den gleichen Körper haben, jedoch eine Vielgestaltigkeit bezüglich der Farbe oder des Verhaltens aufweisen. Biologen ordnen diese Tiere je nach den Unterschieden in bestimmte Kategorien. Es wurde mir klar, dass man das auch mit meiner Sexualausprägung tun kann. Diese Kategorien sind sicherlich noch nicht wasserdicht, aber trotzdem gibt es sie.

bdw: Wie hat sich Ihr Blick auf die Natur und Wissenschaft geändert, seit Sie Joan sind?

RougHgarden: Ich studiere seither die sexuelle Vielfalt, die es in der Natur gibt, die aber bisher kaum beachtet wurde. Meine Transformation hat mich motiviert, diese Dinge in der Öffentlichkeit anzusprechen. Ich fühle eine große Verantwortung und eine einzigartige Position, um so etwas auf die Beine zu stellen.

bdw: Was war bisher unbekannt hinsichtlich sexueller Vielfalt?

RougHgarden: Eine der neuesten und wichtigsten Erkenntnisse ist, dass es innerhalb eines Geschlechts mehrere „Arten“ gibt. Dieser Polymorphismus ist bei Fischen, Echsen, Vögeln und Dutzenden von anderen Spezies bereits nachgewiesen. Männliche Sonnenbarsche zum Beispiel gibt es in drei verschiedenen Formen und Größen, und damit einher gehen unterschiedliche Verhaltensweisen. Im Übrigen können diese Barsche im Laufe ihres Lebens ihre Geschlechts- arten wechseln. Weibliche Eidechsen von polymorphen Arten bleiben dagegen ein Leben lang in ihrer Art. Sie unterscheiden sich in Körperform und -farbe, legen eine unterschiedliche Anzahl von Eiern und haben verschiedene Lebenserwartungen.

bdw: Wie sieht es mit dem Wechsel des Geschlechts aus?

RougHgarden: Einige Fischarten – wie die Lippfische – wechseln im Laufe ihres Lebens nicht nur ihre Geschlechtsart, sondern auch ihr Geschlecht. Vermutlich korrigiert die Natur so Ungleichgewichte in der Geschlechterverteilung.

bdw: Was für evolutionäre Vorteile hat das Vorhandensein mehrerer Geschlechtsarten?

RougHgarden: Beim Sonnenbarsch zum Beispiel helfen die drei verschiedenen Männchenarten einander beim Paarungsakt. Zum einen gibt es die so genannten „Herrscher“: Sie kontrollieren die Reviere, die Weibchen und die Eier. Dann gibt es die „ Kontrolleure“, die die Macht der Herrscher einschränken. Eine dritte Art von Männchen erleichtert den Paarungsakt. Diese „ Helfer“ besitzen die gleiche Farbe wie die Weibchen, haben jedoch eine leicht andere Körpergröße und legen natürlich keine Eier. Vor der eigentlichen Paarung hofiert nun ein Herrscher einen Helfer. Dann machen sich die beiden an ein Weibchen heran und befruchten auch beide deren Eier. Diese Strategie funktioniert bestens, denn die Weibchen bevorzugen dieses Paar gegenüber einem einzelnen Herrscher-Männchen. Die Kontrolleure kooperieren dagegen gar nicht. Sie versuchen hin und wieder ihr Glück, werden aber meistens von einem der beiden anderen Männchen verjagt.

bdw: Wie hat sich der Kenntnisstand über gleichgeschlechtliche Partnerschaften im Tierreich verändert?

RougHgarden: Inzwischen kennen wir über 300 Spezies, die in schwul-lesbischen Partnerschaften leben. Das zeigt, dass der Zweck einer Vereinigung nicht nur der Transfer von Spermien ist, sondern etwas Sekundäres. Dahinter stecken der Aufbau und die Pflege von Beziehungen, auch innerhalb des gleichen Geschlechtes. Das wiederum führt zu Freundschaftsnetzen, die sich mit den normalen, linearen Beziehungen überkreuzen. Im Übrigen finden in jeder Spezies für eine einzige Befruchtung rund 200 Kopulationen statt. Mit dem Vergnügen des Paarungsaktes wird also etwas erreicht, was über die bloße Zeugung von Nachkommen hinausgeht.

bdw: Was für Vorteile haben diese gleichgeschlechtlichen Beziehungen?

RougHgarden: Sie dienen in den meisten Fällen dem Überleben. Bei Bonobo-Schimpansen gibt es sexuelle Beziehungen zwischen den Weibchen. Sie dienen dazu, ein weibliches soziales Netz zu unterstützen, das die Sicherheit der Weibchen und deren Nachwuchs gewährleistet.

bdw: In Ihrem Buch „Evolution’s Rainbow“ stellen Sie Darwins Theorie der sexuellen Selektion in Frage. Was stimmt daran nicht?

RougHgarden: Eine Kernthese der Darwin’schen Sex- Selektionstheorie ist: Spermien sind billig und Eier teuer. Deswegen sind Männer promiskuitiv und Weibchen wählerisch. Daraus ergeben sich Stereotype für die Geschlechter, und zwar, dass Männchen stattliche, geile Krieger und Weibchen schüchtern und manipulierbar sind. Wenn man sich aber die verschiedenen „ Geschlechtsarten“ ansieht, dann entdeckt man eine Vielzahl von Männchen mit unterschiedlichen Eigenschaften. Auch die Existenz gleichgeschlechtlicher Beziehungen in der Natur zeigt, dass die Theorie in jedem Fall nicht vollständig ist.

bdw: Welche Auswirkungen haben diese neuen Erkenntnisse über die sexuelle Vielfalt für uns Menschen?

RougHgarden: Die Medizin sollte diese Vielfalt nicht pathologisieren. Sie stellt traditionsgemäß Normen auf, in die Männer und Frauen hineinzupassen haben. Wer von der Norm abweicht, gilt als krank und muss – falls die Abweichung gravierend ist – therapiert werden. Das galt nicht nur für Schwule und Lesben. Vor gar nicht so langer Zeit war es eine genetische Krankheit, jüdisch oder eine Frau zu sein. Eine wichtige Erkenntnis ist daher, dass die Vielfalt der Geschlechterarten total normal ist. Sie widerlegt die Existenz von Geschlechternormen. Außerdem liefert das Buch einen Ansatz dafür, gleichgeschlechtliche Sexualität in einem anderen Licht zu sehen.

bdw: Woran liegt es, dass die sexuelle Vielfalt in der Natur erst so spät entdeckt wurde?

RougHgarden: In der Geschlechterforschung werden oft männliche Vorstellungen auf weibliche Tiere projiziert, nach dem Motto, „ wenn ich ein Weibchen wäre, dann würde ich…“ Männliche Forscher sind aber oft nicht in der Lage, die Situation aus der Perspektive der Weibchen richtig zu deuten. Ein anderes wichtiges Phänomen: Viele Wissenschaftler haben eine Homophobie. Sie befürchten, dass ihre Diskussion gleichgeschlechtlicher Beziehungen Anlass zu Spekulationen darüber gibt, dass sie selber schwul oder lesbisch sind. Außerdem wollen viele Forscher nicht akzeptieren, dass die Evolution gleichgeschlechtliche Paare hervorbringen kann. Sie sehen die Tatsachen zwar, ziehen aber den Schluss, dass etwas an ihren Daten falsch ist.

Noch vor wenigen Jahren lernten die Studenten der Universität Stanford bei dem renommierten Biologie-Professor Jonathan Roughgarden. Doch seit 1998 steht der Direktor des „Earth System Programms“ mit Kleid und Make-up hinter dem Pult und trägt offiziell den Namen Joan Roughgarden. Die in San Francisco lebende transsexuelle Wissenschaftlerin ist Expertin in Küstenozeanografie und weltweit eine der führenden Ökologinnen. Zurzeit arbeitet die 55-Jährige an ihrem sechsten Buch: „ Evolution’s Rainbow“ – ein „Kinsey-Report“ über das Sexualleben von Wirbeltieren.

Désirée Karge

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Ka|pell|meis|ter  〈m. 3; Mus.〉 1 Leiter einer Musikkapelle 2 Dirigent eines Orchesters … mehr

Leh|rer|stel|le  〈f. 19〉 planmäßige Stelle, Anstellung für einen Lehrer ● neue ~n schaffen

Gig  I 〈f. 10〉 zweirädriger, offener Wagen (Einspänner) II 〈n. 15〉 1 〈Mar.〉 leichtes Ruderboot (Kommandantenboot), das als Beiboot eines Schiffes dient … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige